Rede von
Hubert
Kleinert
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Natürlich sind das real existierende Tatsachen. Ich kann Sie beruhigen: Auf das Problem eines denkbaren osteuropäischen Nationalismus komme ich später noch zurück.
Wenn Sie so lange vielleicht warten können.
Ich greife den innenpolitischen Gedanken an dieser Stelle weiter auf. Herr Schönhuber hat offen gesagt: Deutschland zuerst! In der Union sagt man dies so nicht. Aber daß manche so denken, das ist in diesem Haus hinlänglich bekannt.
Ich will in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel anführen: Was ist denn bei Ihnen passiert, als Herr Geißler 1988 davon gesprochen hat, daß die Vorstellung von der „Wiedervereinigung in den Grenzen von 19XY" überholt und gesamtdeutsche Vereinigung nur im Rahmen gesamteuropäischer Abstimmung möglich sei? — Es gab einen Streit, Sie haben Herrn Geißler zurückgepfiffen, und mittlerweile haben Sie ihn fast schon kaltgestellt. Meine Damen und Herren, da können Sie doch nicht davon reden, daß es Nationalismus in der Union als Problem nicht mehr gebe.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen auch sagen, was dahinterliegt: Über Jahrzehnte ist in der Union ein Problem nicht wirklich aufgebrochen, das immer schon bestanden hat, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen Europa und der sogenannten nationalen Frage. Es ist deshalb nicht aufgebrochen, weil die westeuropäische Integration realpolitisch machbar erschien, das Thema Wiedervereinigung dagegen nur in der politischen Rhetorik eine Rolle spielte. Jetzt erscheint die Zukunft der deutsch-deutschen Beziehungen offen, und jetzt offenbart sich Ihr
ganzes realpolitisches Dilemma: Fahren Sie einen pragmatischen Kurs der kleinen Schritte bei wirklicher Anerkennung der souveränen Entscheidungsmöglichkeiten der DDR und nehmen Sie die Sicherheitsinteressen und Besorgnisse der europäischen Nachbarn vor dem Wiedererstarken eines gesamtdeutschen Nationalstaates wirklich ernst, dann müssen Sie fürchten, jene deutschnationalen und rechten Kräfte zu verprellen, die von Ihnen gerade jetzt den Durchmarsch erwarten.
Umgekehrt aber wissen Sie selbst sehr gut, welche Risiken für den Prozeß einer gesamteuropäischen Friedensordnung quer zu den heutigen Blockgrenzen durch deutschnationale Töne und Wiedervereinigungsrhetorik entstehen. Das ist das politische Problem.
Der Kanzler hat den Ausweg aus diesem Problem in einem Parforceritt gesehen, der gewiß professionell gemacht war, der alles umspannen sollte: das Bekenntnis zum gemeinsamen europäischen Haus ebenso wie die Aufnahme jener deutschnationalen Strömungen, für die Europa immer mehr eine Ersatzlösung für den abgeschnittenen Weg zu nationaler Größe und Macht der Deutschen war. Ich finde es traurig, wie es Ihnen dabei sogar gelungen ist, auch die Sozialdemokraten zu einer völlig unnötigen Geste der Unterwerfung zu veranlassen.
Spätestens ein zweiter Blick auf Ihr Zehn-PunkteProgramm zur deutschen Wiedervereinigung macht klar, daß dieser Ausweg kein Ausweg ist, und er macht klar, wie sehr maßgebliche Teile der CDU nach wie vor in national-konservative Zielvorstellungen verstrickt sind, die nie davon abgelassen haben, die deutsche Wiedervereinigung als Voraussetzung für die Wiedererlangung nationaler Bedeutung zu verstehen.
Daß das so ist, kann man bei genauem Hinsehen selbst an Ihrem Text noch erkennen. Denn die Botschaft dieses Textes lautet gerade nicht: Wir wollen die gesamteuropäische Friedensordnung; wir wollen die Überwindung nationalstaatlichen Denkens; und wie sich dann, wenn das erreicht ist, die beiden deutschen Teile der gesamteuropäischen Friedensordnung zueinander verhalten, das muß niemanden ängstigen. — Genau so lautet die Botschaft nicht.
Die Botschaft lautet umgekehrt: Wiedervereinigung zuerst, wenn auch in Etappen, und danach wird das Ganze mit ein paar europapolitischen Floskeln angereichert. Meine Damen und Herren, diese Anreicherungen haben vor allem die Funktion, Ihren Wiedervereinigungsvorstoß außenpolitisch abzusichern, keineswegs umgekehrt. Das ist das Problem in dieser Auseinandersetzung.
Was immer auch bei den GRÜNEN an unterschiedlichen Schattierungen zum Thema Europa- und Deutschlandpolitik zu hören ist, in einem können Sie ganz sicher sein — jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Friedmann — : Wir werden für ein solches Spiel mit
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Dezember 1989 13885
Kleinert
dem Feuer unsere Zustimmung nicht geben. Herr Friedmann, Sie können uns als vaterlandlose Gesellen beschimpfen, solange Sie wollen — das ist mir gleich — , wir werden es gelassen hinnehmen. Wir werden es um so gelassener hinnehmen, weil wir alle miteinander eigentlich wissen müßten, daß es in der deutschen Parlamentsgeschichte meistens gerade keine Sternstunden waren, wenn sich alle Parteien einig waren.
Wir sagen auch ganz deutlich: Keine fünf Jahrzehnte nach Auschwitz hätten wir allesamt äußerst allergisch auf alle Töne zu reagieren, die fahrlässig oder absichtsvoll, leichtsinnig oder beabsichtigt nationalistische Wogen in Gang setzen oder in Gang setzen können. Sie können mir bei allen Interpretationskünsten hier nicht erzählen, daß dieses Risiko mit dieser Kampagne, die jetzt losgetreten ist, nicht verbunden ist.
Wir sagen: Gerade in Deutschland muß man mit solchen Dingen aus der Erfahrung der deutschen Geschichte eine Vorsicht an den Tag legen. Daß Sie dies eilfertig, in Eilgeschwindigkeit nicht getan haben, das muß ein zentraler Vorwurf in dieser Debatte sein.
Der Bundeskanzler weiß so gut wie wir, daß ohne Gorbatschow und seine Politik der Öffnung die ganze Entwicklung in Osteuropa nicht in Gang gekommen wäre. Sie wissen auch, mit welchen ungeheuren politischen und ökonomischen Problemen die Sowjetunion konfrontiert ist. Sie müßten deshalb auch sehr genau wissen, wie sehr nicht nur Gorbatschow, sondern die ganze demokratische Entwicklung in Osteuropa durch Ihre Vorstöße gefährdet ist.
Sie müßten auch zur Kenntnis genommen haben, wie sehr die Entwicklung in Osteuropa Gefahren des Anwachsens nationalistischer Strömungen mit sich bringt.
Wollen Sie solche Prozesse zusätzlich dadurch anstacheln, daß auf deutschem Boden eine Renationalisierung von Politik stattfindet, die anderswo zu entsprechenden Reaktionen führt? Es würde nämlich die Perspektive für ein offenes, friedliches und ökologisches Gesamteuropa verbauen, meine Damen und Herren, wenn sich ein neuer Nationalismus in Europa wechselseitig hochschaukeln würde.
Wem soll damit gedient sein, wenn durch deutschdeutsche Vorschläge und Entwicklungen in der Sowjetunion ein Prozeß in Gang kommt, an dessen Ende
statt Gorbatschow ein Kriegsmarschall im Kreml sitzt?
Meine Damen und Herren, wie sieht es im Westen aus? Der dänische Ministerpräsident erklärt, er halte eine deutsche Wiedervereinigung nicht für wünschenswert. In Frankreich stoßen Sie auf Skepsis bis Ablehnung. In Italien liegen die Dinge ebenso. Mittlerweile wissen wir, daß niemand im Westen wie im Osten vom Vorstoß des Bundeskanzlers informiert war.
Wie vereinbaren Sie das mit Ihren Floskeln, nach denen die deutsch-deutsche Entwicklung angeblich nur im Kontext gesamteuropäischer Entwicklungen gesehen werden darf?
Ich will es Ihnen ganz klar sagen: Sie vereinbaren es gar nicht. In Wahrheit ist es so, daß Sie mit Ihren Überlegungen noch hinter Geißler zurückgefallen sind. Weil Herr Kohl die Chance sieht, als Kanzler der Wiedervereinigung ins Wahljahr 1990 zu gehen, werden diese Risiken leichtfertig eingegangen. Weil das so ist, sind Sie auch bereit, eine Sogwirkung in die DDR hinein auszulösen, die das Gegenteil Ihrer immer wiederkehrenden Behauptung, Sie setzten auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der DDR, zur Folge hat. Denn, meine Damen und Herren, wie soll das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der DDR überhaupt hergestellt werden, wenn der reiche Onkel aus der Bundesrepublik jetzt schon den denkbaren Endpunkt eines Prozesses vorwegnimmt? Wie soll das denn geschehen?
Statt durch eine pragmatische Politik der Hilfeleistung ohne Vorbedingungen
und der intensivierten ökologischen und wirtschaftlichen Kooperation die Zeit und die Möglichkeit für eine souveräne eigene Entscheidung in der DDR zu schaffen, werden wochenlang die Bedingungen für bundesdeutsche Finanzhilfen höhengeschraubt und wird schließlich den Menschen klargemacht: Wir hier im Westen aus der Reiche-Onkel-Position kennen das Ergebnis der weiteren Entwicklung eigentlich schon längst. Ihr könnt vielleicht irgendwann noch etwas dazu sagen. Aber im Grunde wissen wir heute schon, wo das Ganze hingehen wird. — Das ist die Pose, aus der heraus Sie hier auftreten.
Ich meine, wer es mit dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der DDR wirklich ernst meint, der darf gerade nicht Bedingungen schaffen, die diesen Menschen in der DDR eine echte Entscheidungsalternative nicht mehr lassen.
Gerade Sie, die Sie in der Vergangenheit immer mit dem Selbstbestimmungsrecht operiert haben, sind es
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jetzt, wo es eine Chance gibt, daß dieses Selbstbestimmungsrecht tatsächlich wahrgenommen werden könnte, jetzt, wo es eine Chance gibt, daß es im nächsten Jahr in der DDR eine demokratisch legitimierte Regierung als Verhandlungspartner gibt, die nicht bereit sind, Verhältnisse zu schaffen, damit dieses Recht wirklich souverän ausgeübt werden kann. Sie setzen vielmehr eine Entwicklung in Gang, die die Gefahr in sich birgt, daß das über die Menschen eigentlich schon hinwegrollt, daß die Vorzeichen für das, was am Schluß herauskommen soll, im Grunde genommen jetzt schon gesetzt werden.
Meine Damen und Herren, aus all diesen Gründen steht derzeit etwas anderes an als ein Stufenplan zur deutschen Wiedervereinigung.
— Das war eine gefährlich dumme Bemerkung, die ich gerade gehört habe.
Unerträglich. Ihr intellektuelles Niveau ist wirklich bemerkenswert.
Es ist furchtbar, was man hier hören muß, grauenhaft.
Aus all diesen Gründen steht etwas anderes an als ein Stufenplan zur deutschen Wiedervereinigung. — Man glaubt gar nicht, wie das intellektuelle Niveau, das man sonst aus der ersten Reihe hört, noch weiter unterschritten werden kann. Man glaubt es gar nicht! — Die Menschen in der DDR brauchen ein uneingeschränktes Recht zur Selbstbestimmung ihres eigenen Weges. Um das festzustellen, muß man nicht den Traum jener für realistisch halten, die glauben, die DDR könnte es aus eigener Kraft allein schaffen, ein attraktives Alternativmodell zu bilden. Jede Vorwegnahme der Entscheidung über Zweistaatlichkeit oder Wiedervereinigung widerspricht dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der DDR diametral.
Wir hätten die Aufgabe, durch humanitäre Hilfe, durch Finanzhilfe, durch wirtschaftliche Unterstützung,
durch ökologische Zusammenarbeit dazu beizutragen, daß Voraussetzungen entstehen, die die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ermöglichen. Die Politik in der Bundesrepublik hätte die Aufgabe, die Chancen zu nutzen, die mit der gesamten Entwicklung in der DDR und Osteuropa dann verbunden sind, wenn diese Entwicklung eingebettet wird in den Prozeß der Ausbildung einer gesamteuropäischen Friedensordnung, einer bundesstaatlichen Ordnung in Gesamteuropa.
Heute gibt es ungeahnte Chancen zur Blocküberwindung und zu substantieller Abrüstung in allernächster Zeit. Es gibt Chancen, die die Mittel frei werden ließen, die dringend gebraucht werden, wenn dem Prozeß der ökologischen Selbstzerstörung bei uns wie im Osten Einhalt geboten werden soll.
Die Chancen für eine friedliche demokratische Entwicklung in Europa stehen günstiger als je zuvor. Es wäre wahrhaftig ein riesiger Gewinn für die demokratische Kultur in ganz Europa, wenn in der DDR und in Osteuropa eine demokratische Erneuerung zum Erfolg führen würde und auch Bestand hätte. Mögen sich Eigentumsformen und Höhe der Staatsquote am Ende signifikant oder nur graduell unterscheiden von dem, was hierzulande in der künftigen Auseinandersetzung herauskommen wird — diese Auseinandersetzung wird es immer geben — , das ist dann gar nicht mehr das Problem.
Wir wollen eine supranationale, gesamteuropäische Friedensordnung mit starken dezentralen und föderalen Entscheidungsstrukturen im Rahmen bundesstaatlicher Vorstellungen.
Wir wollen kein Europa, das im Grunde als Europa der Vaterländer auftritt, sondern wir wollen die Überwindung der Epoche der Nationalstaaten.
Wir wollen ein Europa, in dem ernst gemacht wird mit der multikulturellen Gesellschaft, in der eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Traditionen miteinander existieren, sich durchmischen oder auch friedlich miteinander koexistieren.
Wenn das einmal Realität sein sollte, wird die Frage, wie Bundesrepublik und DDR als Teile einer gesamteuropäischen, bundesstaatlichen Lösung ihr weiteres Verhältnis zueinander gestalten, gar nicht mehr so wichtig sein.
Es wird jedenfalls nicht mehr entscheidend sein für das, was die Menschen in Europa bewegt. Darum muß es in der Zukunft gehen. Wer allerdings die Chancen für eine solche Entwicklung durch Vorstöße gefährdet, die das Risiko nationaler Stimmungsmache, die dann nicht nur auf Bundesrepublik und DDR begrenzbar bliebe, in sich bergen, verspielt mehr Chancen für einen solchen Prozeß, als daß er ihn tatsächlich in Gang setzen kann.
Wer das vorrangig deshalb betreibt, weil er sich davon innenpolitischen Gewinn verspricht, instrumentalisiert eine Chance von historischen Ausmaßen für die Zwecke der eigenen Machterhaltung. Genau darum geht es in dieser Auseinandersetzung. Das ist unser Vorwurf an Ihre Adresse. Deshalb haben wir in
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dieser Woche so energisch widersprochen, sicher nicht immer argumentativ so ausdifferenziert, wie das vielleicht wünschenswert gewesen wäre. Aber wir haben deutlich machen können, daß wir uns aus guten Gründen gegen diesen nationalen Taumel, der jetzt erzeugt werden soll, stellen und weiter stellen werden.
Ich meine, daß es auch der anderen Oppositionspartei sehr gut angestanden hätte, wenn sie nicht gleich Unterschlupf unter dem breit angelegten Mantel des Herrn Dr. Kohl gesucht hätte.