Rede von
Hubert
Kleinert
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut, wenn auch am letzten Tag dieser Haushaltsdebatte das Thema eine zentrale Rolle spielt, das uns seit Wochen mehr als alles andere beschäftigt hat, nämlich der revolutionäre Umbruch in Osteuropa und besonders die Entwicklung in der DDR. Wir erleben in diesen Tagen Veränderungsprozesse von historischen Ausmaßen, und es ist wahr, daß nichts mehr so ist, wie es noch vor drei Monaten aussah. Es ist auch wahr, daß uns alle hier diese Entwicklung mehr oder weniger unvorbereitet getroffen hat und daß das sicher auch gar nicht anders sein konnte; denn niemand hier hat sich vorstellen können, daß die über Jahrzehnte festgefügte politische Nachkriegsordnung in Europa auf diese Weise in Bewegung geraten würde, und schon gar nicht, daß dies in einer solchen Geschwindigkeit der Fall sein würde.
Gemessen aber an der Tragweite dieser Vorgänge hat es in dieser Debatte diese Woche viel zuwenig nachdenkliche Töne gegeben, viel zuwenig sorgfältige Analysen der ungeheuren Chancen, aber auch der Risiken, die mit dieser Umwälzung verbunden sind,
und es sind umgekehrt viel zuviel vorschnelle Entschlossenheiten demonstriert worden, und es gab viel zuviel durchsichtige Versuche, traurige und mitunter schreckliche Bilanzen, die besonders in der DDR gezogen werden müssen, zum innenpolitischen Kampfinstrument in der Bundesrepublik umzufunktionieren.
Wer in dieser Woche mit anhören mußte, wie in vielen Reden von maßgeblichen Unionspolitikern das Scheitern realsozialistischer Gesellschaftsmodelle gegen jedes Wort von Sozialismus überhaupt eingesetzt worden ist,
der muß einfach die Frage stellen: Hat es die friedliche revolutionäre Bewegung in der DDR tatsächlich verdient, in dieser Weise zu innenpolitischen Kampfzwecken in der Bundesrepublik mißbraucht zu werden?
Ich komme jedenfalls an der Bewertung nicht vorbei,
daß von manchen diese demokratische Massenbewe-
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gung zu solchen innenpolitischen Kampfzwecken bei uns eingesetzt werden soll
und daß das von Leuten betrieben wird, die ansonsten in Massendemonstrationen bei uns fast immer nur staatsgefährdende Veranstaltungen zur Nötigung von Regierungen erblicken konnten. Wir wissen, wovon wir in diesem Zusammenhang reden.
Um so weniger kann ich an dieser Stelle verstehen, was die SPD am Dienstag dazu bewogen hat, gegenüber dem Bundeskanzler eilig ihre Bereitschaft zum nationalen Konsens zu erklären. Ich will Ihnen hier auch ganz deutlich sagen: Ich kann es gerade als Grüner nur schwer ertragen, wie sich am Dienstag jene mit ihrer Zustimmung triumphierend und selbstgerecht an die Brust schlagen konnten, die sich in den 70er Jahren nicht einmal zur Zustimmung zu den Ostverträgen entschließen konnten, die gegen den Grundlagenvertrag geklagt haben und die damals nicht einmal der KSZE zugestimmt haben.
Ich habe das hier nur sehr schwer ertragen können, sage ich Ihnen.
Meine Damen und Herren, diese kritische Gesamtbilanz trifft in besonderer Weise das vom Bundeskanzler am Dienstag vorgelegte Zehn-Punkte-Programm. Dabei geht es nicht so sehr um einzelne Details. Da gibt es Punkte, gegen die man gar nicht sein kann. Da gibt es andere Punkte, die unterschiedlichste Auslegungen und Interpretationen ermöglichen, und da gibt es viel Widersprüchliches. Wer wollte bestreiten, daß die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten etwas mit der gesamteuropäischen Entwicklung zu tun haben muß? Wer wollte widersprechen, wenn in der Erklärung zügige Schritte in der Abrüstung gefordert werden?
Das Problem dieser Erklärung aber sind weniger einzelne Sätze und Formulierungen; das Problem ist der politische Gesamtkontext, in dem dieses Programm steht, und das Problem sind die politischen Absichten, die dahinterstecken. Das Problem sind das Getöse und der Gestus, mit denen das Programm in dieser Woche eingebracht worden ist, meine Damen und Herren.
Diese Absichten sind zunächst einmal sehr stark von innenpolitischen Zielsetzungen bestimmt, wobei innenpolitisches Kalkül und die Bereitschaft zu außenpolitischem Vabanquespiel sich zu einem problematischen Zusammenhang verbinden.
Worum ging es innenpolitisch? Innenpolitisch ging es darum, daß Herr Kohl nach einer längeren Phase, in der diese Regierung in Sachen Wiedervereinigungsrhetorik eine eher pragmatische Zurückhaltung an den Tag gelegt hat, eines demonstrieren wollte: Er wollte demonstrieren, die CDU ist die Partei der nationalen Wiedervereinigung. Das war der entscheidende Punkt, um den es Ihnen bei dieser Sache ging.
Wozu das führt und welche Untertöne damit jetzt schon freigesetzt sind, hat schon in diesen Tagen Herr Rühe noch viel deutlicher gemacht als Herr Kohl. Während der Kanzler noch bemüht war, in seiner Rede den Widerspruch zwischen einer gesamteuropäischen und einer deutschnationalen Grundorientierung durch ein paar Europafloskeln zu übertünchen, macht die Plakatkampagne der CDU längst viel deutlicher, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Nationaler Taumel ist angesagt.
— Ich komme noch zu dem „vaterlandslosen Gesellen", Herr Friedmann; Sie können sich da ruhig abregen. — Nationaler Taumel ist angesagt. Dabei wird keine Rücksicht darauf genommen, was die Folgen für die demokratischen Bewegungen in Osteuropa sein werden oder jedenfalls sein können.
Ihnen geht es darum: Helmut Kohl will die kommenden Wahlen als Wiedervereinigungs-Kanzler gewinnen. Und weil das so ist, ist die Union auch bereit, das zu gefährden, was in Wirklichkeit Voraussetzung für den weiteren demokratischen Entwicklungsprozeß in der DDR und in Osteuropa ist.
Meine Damen und Herren, als Herr Kohl diesen Vorstoß machte, befand er sich natürlich unter dem Druck jener konservativen Leitartikler, die energisches Voranschreiten dieser Regierung in der nationalen Frage seit Wochen einfordern
und die selbst die über französische Umwege übermittelten Warnungen aus Moskau nur für antideutsche Propaganda in Frankreich halten.
— Ach, du meine Güte.
Aber der Druck kommt auch von einer anderen Seite. Am Montag dieser Woche hat Herr Schönhuber deutlich gemacht, wie ganz rechts über dieses Thema gedacht wird. Herr Schönhuber hat gesagt, daß das wiedervereinigte, blockfreie und bewaffnete Gesamtdeutschland die Zielsetzung von ganz rechtsaußen sein soll. Ich behaupte nicht, daß die Mehrheit der CDU so denkt wie Herr Schönhuber
— daß wir uns hier nicht mißverstehen — , aber ich behaupte wohl, daß manche bei Ihnen im Grunde das denken, was Herr Schönhuber offen auszusprechen wagt, nämlich: Deutschland zuerst!
Und genau das ist in diesem Zusammenhang das Problem.
Das Problem ist weiter, daß Sie auch diese Leute integrieren wollen und dafür das Risiko eingehen, bei uns
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eine nationale Welle in Gang zu setzen, von der ich fürchte, daß sie am Ende nicht einmal bei Ihnen haltmachen wird und mit dazu beitragen kann, jene ganz rechten Kräfte einmal mehr weiter hoffähig zu machen, die Sie ansonsten angeblich so energisch bekämpfen, meine Damen und Herren.