Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Anfang unserer Haushaltswoche standen die Lage in Deutschland und die Selbstbefreiung der Tschechoslowakei. Heute, am Ende dieser Woche, steht ein Mord, der unser Land erschüttert. Dr. Alfred Herrhausen ist gestern heimtückisch ermordet worden. Jakob Nix, sein Fahrer, liegt mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus. Wir alle sind entsetzt und aufgerüttelt.
Der Mord hat gezeigt, mit welchen Gewaltpotentialen wir es in unserer Gesellschaft zu tun haben. Wir alle wissen, Dr. Herrhausen war eine eindrucksvolle, offene Persönlichkeit. Wir schätzten seinen Sachverstand und seine Bereitschaft zu Gespräch und Rat auch in kontroversen Fragen. Sein Eintreten für den Schuldenerlaß für die ärmsten Länder dieser Welt ist unvergessen und hat ihm großen Respekt verschafft.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dieses Attentat hat großes Leid über zwei Familien gebracht. Wir fühlen mit Frau Herrhausen und mit Frau Nix und mit ihren Kindern. Wir hoffen, daß Herr Nix seine Verletzungen übersteht, und wünschen ihm gute Genesung.
Wir wissen aber auch, die Mörder finden in unserer Gesellschaft keine Unterstützung. Sympathie für das, was immer sie mit solchen Methoden durchsetzen wollen, gibt es nicht, nicht einmal Neugier. Entsetzen und Ablehnung ist das einzige, was sie zu erwarten haben. Wir erwarten, daß die zuständigen Behörden alles tun, um die Täter zu ergreifen. Aus leidvoller Erfahrung wissen wir, daß im Kampf gegen den Terrorismus und für den inneren Frieden Fahndungserfolge entscheidend sind. Wir bleiben besonnen. Der Haß, den diese Mordtat zum Ausdruck bringt, könnte den inneren Frieden unserer Demokratie beschädigen. Wir werden ihn nicht aufkommen lassen.
Zwei Bilder, meine Damen und Herren, welch ein Gegensatz: der Bombentod in Bad Homburg und die friedliche, gewaltlose, ja sanfte Revolution, die wir auf den Straßen Leipzigs oder Prags in diesen Tagen erleben. Gert Weisskirchen, unser Kollege, hat diese Revolution richtig beschrieben: Sie ist bunt und fröhlich, durch und durch europäisch, und — wir sehen es jeden Tag mit neuem Erstaunen — sie will kein Ende nehmen. Auch bei uns braucht es ganz offensichtlich Zeit, vollständig zu begreifen, was alles, gerade auch bei uns in Deutschland, seit dem 9. November in Gang gekommen ist. Bilder bleiben im Gedächtnis, Bilder aus Berlin, dieser „glücklichsten Stadt der Welt", wie Walter Momper sie in jener Nacht genannt hat: das Hin und Her durch die Mauer und über die Mauer, das Treiben auf der Mauer, aber auch die Trabikolonnen, die unbehelligt durch immer neue Grenzübergänge
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fahren. Diese Bilder bleiben haften, gerade weil sie gegen Erinnerungen an ganz andere düstere Bilder stehen.
Willy Brandt hat in seiner großen Rede hier im Bundestag davon gesprochen, und ich erinnere mich an die bitterkalte Vorweihnachtszeit 1963 beim ersten Passierscheinabkommen in Berlin: Wir Studierende der Berliner Hochschulen — einige von uns sind Abgeordnete dieses Hauses: Wolfgang Roth, Wolfgang Lüder, auch noch andere — versuchten, den vielen alten Menschen mit Sitzgelegenheiten und Decken zu helfen, und die mußten lange warten, bevor sie die Mauerdurchlässe passieren und nach mehr als zwei Jahren Trennung ihre Familien wiedersehen konnten.
Damals habe ich begriffen: Es war eine vernünftige, weil menschliche Ostpolitik, die das ermöglicht hat,
und seit dieser Zeit kenne ich den Wert der Politik der kleinen Schritte, die damals in Berlin von Willy Brandt und den Sozialdemokraten gegen den erbitterten Widerstand der Union eingeleitet wurde.
Was haben die sich damals, was haben wir uns damals alles an Kritik, an Beschimpfungen, an Verdrehungen und Verleumdungen gefallen lassen müssen! Und doch hat diese Politik über die Stationen der Ostverträge, des KSZE-Abkommens von Helsinki, über die Abrüstungsvereinbarungen und Abrüstungsverhandlungen genau zu den tiefgreifenden Veränderungen unserer Tage im östlichen Mitteleuropa geführt, die wir erleben dürfen.
Jetzt wird eine europäische Friedensordnung möglich, die diesen Namen auch verdient. Spaltung in Europa, in Deutschland wird überwunden; aus der bloßen Abwesenheit von Krieg zwischen Staaten, die mit tödlichen Massenvernichtungswaffen vollgestopft sind, wird Interessenausgleich mit friedlichen, mit politischen Mitteln. Diese Friedensordnung macht umfassende Beziehungen auf allen Gebieten zwischen guten Nachbarn in Freiheit, Selbstbestimmung und Partnerschaft möglich.
Wir sind dabei, wir bauen an diesem Europa mit. Die Europäische Gemeinschaft wird weiter entwikkelt und in Richtung unserer östlichen Nachbarn geöffnet. Wenn wir die Chance richtig nutzen, haben auch wir Deutsche in Europa unseren Platz mit engeren Formen der Kooperation beider deutschen Staaten, mit Konföderation oder letztlich auch staatlicher Einheit, wenn sich die Menschen in der DDR und bei uns dafür entscheiden.
So weit sind wir freilich noch lange nicht, aber jetzt kann, wie Willy Brandt sagt, wieder zusammenwachsen, was zusammengehört.
Diese europäische Friedensordnung war seit 40 Jahren eines der großen Ziele der deutschen Sozialdemokraten. Auch Gustav Heinemann kämpfte — zunächst als CDU-Mitglied, bis er merkte, daß es keinen Sinn hat — darum in seinen bitteren Auseinandersetzungen mit Adenauer. Der Deutschland-Plan der SPD von 1959, die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung, darauf haben sie alle hingearbeitet. Wir haben heute einen Entschließungsantrag vorgelegt, der sagt, worum es geht: um die Wahrung aller Möglichkeiten der Deutschen, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden und in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.
Am Dienstag hat nun der Bundeskanzler hier im Bundestag seine Zehn-Punkte-Erklärung zur Deutschland- und Europapolitik vorgetragen, die sogleich — wir meinen, etwas hochtrabend — „deutschlandpolitisches Sachkonzept" oder gar „DeutschlandPlan" getauft wurde. Wenn es etwas bescheidener ginge, wäre es ganz gut, denn es fehlt wirklich viel an Präzision und auch vieles an Punkten. Trotzdem haben wir diese Erklärung begrüßt, und, Herr Dregger, wir tun das auch heute,
schon deshalb, weil der Bundeskanzler weitgehend unsere Vorstellungen übernommen hat. Wir finden da viele alte Bekannte wieder, auch viele Vorschläge, die Sie vor kurzer Zeit noch abgelehnt, ja sogar schroff zurückgewiesen haben.
Sie akzeptieren jetzt — das begrüßen wir natürlich — , daß wir in der Bundesrepublik den Reformprozeß im östlichen Teil Europas nicht einfach als Zuschauer betrachten können, sozusagen im Ohrensessel in der ersten Reihe. Wir sind darin, und wir sind ganz dicht dran: Wenn der Reformprozeß gelingt, dann ist das auch für uns gut, und wenn er scheitert, werden auch wir die Folgen schrecklich spüren.
Deswegen sagen wir, wir müssen die Reformer und die Reformen aktiv unterstützen, auch in unserem ureigensten Interesse.
In der DDR drängt es besonders; jeder Tag ist hier wichtig, damit neue Hoffnung für die Menschen geschaffen werden kann, damit die Menschen Zukunft haben. Die Zeit drängt; sonst drängen die Menschen. Das sehen wir an den vielen Übersiedlern gerade auch in den letzten Tagen.
Sie sagen jetzt in der Erklärung mittlerweile ja zu Soforthilfe im humanitären Bereich, zu Hilfen, die Westreisen erleichtern. Das sagen auch wir, und deshalb begrüßen wir diesen Punkt. Wir sagen aber auch: Jetzt gibt es kein Hindernis mehr für einen Devisenfonds. Er muß noch in diesem Jahr errichtet werden, damit endlich die Probleme mit dem Besuchergeld aufhören.
Dazu fordern wir Sie auf.
Sie sagen, Kooperation und baldige Hilfe sollen nicht mehr von immer neuen Vorbedingungen und
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Auflagen abhängig gemacht werden. Gut, sagen wir; das begrüßen wir. Es wird ja auch endlich Zeit. Wir sagen das schon etwas länger.
Die Voraussetzungen, die vorhanden sein müssen, nämlich die Verständigung in der DDR mit der politischen Opposition über freie Wahlen und eine Verfassungsänderung, halten auch wir für vernünftig;
die gibt es schon, und der „runde Tisch" , er kommt. Also kann es jetzt losgehen mit der Hilfe, und zwar nicht erst übermorgen oder am Tage danach. Wir sagen, wer jetzt immer noch neue Bedingungen formuliert oder neue Hemmnisse aufbaut — und in Ihrer Haushaltsrede, Herr Bundesminister Waigel, waren schon wieder solche Anklänge zu hören — , der richtet Schaden an bei den Reformern und den Reformen in der DDR,
der schadet gleichzeitig uns in der Bundesrepublik und hat auch noch nicht verstanden, daß sich die Menschen in der DDR, die sich gerade ihr Selbstbestimmungsrecht erkämpfen, nicht schon wieder von irgendwem, auch von uns nicht, auch von Ihnen nicht, bevormunden lassen wollen.
Die mahnenden Worte der Ost-Berliner Theaterleute an Bundeskanzler Kohl sollten Ihnen allen, meine Damen und Herren, in den Ohren klingen.
In der Zehn-Punkte-Erklärung vom Dienstag gibt es noch vieles andere, was wir begrüßen, zum Beispiel, daß Sie jetzt anfangen, die Politik der kleinen Schritte zu loben.
Gut, sagen wir. Wir haben uns auch wirklich geärgert, weil Sie uns lange genug und hämisch genug deswegen angegriffen haben.
Sie bezeichnen jetzt auch den KSZE-Prozeß als Herzstück der Deutschland- und Europapolitik.
Herr Dregger, warum wundert es Sie eigentlich, daß wir das begrüßen?
— Nein, es stört uns nicht. Wir haben lange genug darauf gewartet.
Sie haben doch Ostverträge und Helsinki-Vereinbarung bekämpft.
Hans-Jochen Vogel hat schon am Dienstag darauf hingewiesen, wie das damals war, daß es nur drei politische Gruppierungen in Europa gegeben hat, die damals nein sagten, als die Sozialdemokraten und die Freien Demokraten um die parlamentarische Zustimmung zum KSZE-Vertrag geworben haben. Das waren Sie, nämlich die CDU/CSU, die italienischen Neofaschisten und die albanischen Kommunisten.
Sie haben nein gesagt, und ich kann nur sagen, da befinden Sie sich in einer phantastischen Gesellschaft. Und Sie, meine Damen und Herren, meinen, Sie könnten uns irgendwelche Versäumnisse in der Ostpolitik vorwerfen! Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir freuen uns über Ihre heutige Auffassung. Das hat Karsten Voigt erklärt, und das sage ich auch heute.
Mit Ihrer falschen Behauptung, Herr Dregger, wir würden heute von dem abrücken, was Karsten Voigt sagte, können Sie sich auf ihn nicht berufen. Sie müßten vielleicht einmal seine Rede nachlesen.
Er hat nämlich begrüßt, wie und wo Sie sich geändert haben, aber er hat auch mit ganz klaren Worten — —
— Ich weiß, es ist Ihnen schrecklich unsympathisch. Deswegen sage ich es ganz langsam noch einmal: Er hat ihnen auch klargemacht, wo die Ungereimtheiten in dieser Zehn-Punkte-Erklärung liegen, und er hat mit spitzem Finger auf diese schrecklichen WischiWaschi-Formulierungen in der Erklärung hingedeutet,
die nur so tun, als sagten Sie etwas Fortschrittliches, und mit denen Sie doch gleichzeitig nur Ihren rechten Flügel besänftigen wollen.
Daß wir das nicht durchgehen lassen, daß wir das nicht begrüßen, darüber wundert sich außer Ihnen wohl niemand.
Aber bleiben wir bei der Architektur Europas, bleiben wir beim KSZE-Prozeß. Warum sagen Sie eigentlich nichts Genaues in der Zehn-Punkte-Erklärung zu den Schritten, wie es denn in der EG weitergehen soll, oder über das Verhältnis von EG und EFTA-Ländern? Wie stellen Sie sich denn eigentlich die Öffnung der EG zu den Ländern Mitteleuropas vor? Darum geht es doch. Das müßte in dem Zehn-Punkte-Papier stehen!
Herr Dregger, nicht nur wie der Bundeskanzler die polnische Westgrenze behandelt hat, sondern auch
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das, was Sie dazu gesagt haben, war schlichtweg schändlich.
In der Zehn-Punkte-Erklärung steht überhaupt nichts darüber.
Sie wissen doch, daß jeder heute sofort aufhören kann, über den Bau einer europäischen Friedensordnung zu reden, wenn in dieser Frage der Garantie der polnischen Westgrenze keine eindeutige Klarheit besteht.
Wer will — das müßten Sie doch eigentlich langsam verstehen — , daß zusammenwächst, was zusammengehört in Deutschland, der muß hier ganz eindeutig sein.
Wer über Kooperation, wer über Konföderation, wer über konföderative Elemente oder staatliche Einheit der Deutschen nachdenkt — alles Gedanken, von denen Sie wissen, daß sie bei uns auf Interesse und Zustimmung stoßen, wenn sie auf jede Stufe an die Menschen in der DDR und die Zustimmung der Menschen bei uns und dort gebunden sind — , wer unseren Platz in Europa bestimmen will, der darf in der Frage der polnischen Westgrenze keinen Millimeter Raum für Zweifel lassen,
und der sollte auch mit dem Begriff der Wiedervereinigung etwas behutsamer umgehen, als dies die Erklärung des Bundeskanzlers tut, als er dies macht, als Sie das machen. Sie setzen nämlich einfach vor „Vereinigung" das Wort „Wieder", obwohl das gar nicht im Grundgesetz steht. So, wie Sie das machen, weist das in unsere Vergangenheit zurück, in die Vergangenheit des Deutschen Reiches, in die Grenzen von 1937, und das macht Angst,
das macht Mißtrauen, und das brauchen wir nicht, wenn wir um Modelle für die Zukunft ringen.
Übrigens: Ihr Bundesaußenminister, der weiß das. Er hat mit völkerrechtlicher Bindungswirkung die Garantie der polnischen Westgrenze vor der UNO erklärt,
und der Bundestag — Herr Weng, Sie haben völlig recht — hat das mit großer Mehrheit übernommen, Gott sei Dank; es war ja schwer genug; man weiß ja, wie das intern bei Ihnen ausgesehen hat.
Aber der Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, der hat auf der Polenreise das befreiende Wort
dazu leider nicht gesprochen, und dabei haben es die Menschen erwartet,
nicht nur in Polen, sondern auch hier. Das müßte Ihnen der jubelnde Beifall doch eigentlich gezeigt haben, den Bundesminister Genscher ausgerechnet an dieser Stelle bei jener Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus erhalten hat.
Meine Damen und Herren, Zweifel gibt es bei Ihnen leider immer, auch gerade in letzter Zeit, in Reden, aber auch in Beschlüssen. Jetzt hat die CSU ihren alten Standpunkt trotzig und stur wiederholt. Wir sagen: So geht das nicht. Das müßten Ihnen spätestens die Stellungnahmen nach dem Dienstag zeigen, die aus Polen, aber auch aus anderen Nachbarländern im Westen gekommen sind. Eigentlich hätten Sie die Äußerung des sowjetischen Außenministers dazu gar nicht brauchen dürfen.
Nein, es ist so: Von der Klarheit in dieser Frage hängt nicht nur Ihre Glaubwürdigkeit ab, sondern auch die Chance, daß aus Ihrer Zehn-Punkte-Erklärung überhaupt irgend etwas wird.
In dieser Frage müssen Sie Farbe bekennen. Wir tun das; unser Entschließungsantrag liegt vor. Er sagt ganz deutlich, daß dies eine unabdingbare Voraussetzung für den Prozeß des Zusammenrückens in Deutschland ist. Das bleibt der fehlende 11. Punkt der Erklärung. Wir sagen: Der muß dazu!
Aber, meine Damen und Herren, das ist es nicht allein. Wo Sie von Abrüstung sprechen und wo die Erklärung von Abrüstung spricht, reicht sie nicht. Dabei wissen wir doch alle: Abrüstung ist heute nicht nur nötiger denn je, sondern auch möglich geworden. Wir fragen Sie: Wann wollen Sie eigentlich Schluß machen mit der Rüstung, wenn nicht jetzt,
wo doch die Bilder der friedlichen und der fröhlichen Revolution in den Ländern des Warschauer Pakts tagtäglich über das Fernsehen in alle unsere Stuben kommen, nicht nur in unsere in der Bundesrepublik, sondern auch in die unserer Nachbarn? Unsere Freunde in Amerika sehen doch, was los ist.
Die Sicherheitslage hat sich verändert, und Ihre Erklärung enthält außer allgemeinen Sprüchen nichts. Sie sagen nichts zur NATO, Sie sagen nichts zur Zukunft der Bündnisse, und heute, am Ende der Haushaltsberatungen, ist das alles noch viel unglaubwürdiger geworden; denn gestern haben Sie gegen unseren ausdrücklichen Wunsch und gegen unsere Stimmen den Verteidigungsetat in einsame Höhen gehoben, trotz aller Streichungsvorschläge etwa zum Jä-
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ger 90 oder zu anderen Vorhaben. Das geht nicht, und es geht auch nicht, daß Sie diese Unsicherheit bei den Atomwaffen belassen. Wir brauchen Klarheit, daß bei uns keine Atomwaffen, keine Raketen mehr modernisiert oder stationiert werden. Oder läßt es Sie eigentlich wirklich kalt, daß mit solchen Waffen auf das Warschau Lech Walesas, auf das Prag von Alexander Dubček und auf die DDR einer Christa Wolf gezielt werden würde?
Wir sagen dazu nein. Wir haben auch das in unseren Entschließungsantrag aufgenommen. Die Menschen warten darauf.
Sie warten auch darauf, daß Sie dem zustimmen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, zumal der Herr Dregger heute wieder dieses Wort vom nationalen Konsens, von der Gemeinsamkeit der Deutschen in der Deutschland- und Ostpolitik, im Munde geführt hat. Herr Dregger, Sie haben heute das Wort vom nationalen Konsens mehrfach im Munde geführt.
Ich sage Ihnen: Wir sind dazu bereit, trotz Ihrer Rede, die so gar nichts von Gemeinsamkeit und Konsens verraten hat.
Uns geht es hier um die Menschen, uns geht es um die Sache, und uns geht es darum, daß Ihre Zehn-PunkteErklärung wenigstens eine kleine Chance auf Realisierung hat.
Unser Entschließungsantrag ist eine gute Grundlage für diese Gemeinsamkeit auch dann, wenn wir wissen — Ihre Zwischenrufe zeigen das doch ganz deutlich —, daß das Reden vom nationalen Konsens bei Ihnen nur die eine Seite ist.
Das fällt doch langsam auf. Was habe ich denn da in den letzten Tagen z. B. in der „International Herald Tribune" gelesen? Parteipolitik, so heißt es da, sei immer ein Teil des Kohlschen Denkens. Ich glaube, der Mann hat recht. Bei Herrn Dregger weiß ich das. Der redet nicht nur parteipolitisch, sondern macht hier ganz billige Wahlkampfpolemik. Ich finde das ziemlich traurig.
Beschwörungen der nationalen Gemeinsamkeit und gleichzeitig Tritte gegen das Schienbein, wenn es geht, auch besonders schmerzhaft, das kommt nicht in Frage. So hätten Sie es zwar gern, aber ich sage Ihnen: Wir sind da ganz selbstbewußt. Da treffen Sie bei uns nicht ins Schwarze. Die Bürgerinnen und Bürger merken längst, wo es bei Ihnen doppelzüngig wird, und sie merken auch, wo Sie mit falschem nationalen Pathos rücksichtslos über die Interessen der Menschen hinweggehen.
Die haben ein ganz feines Gespür dafür.
Meine Damen und Herren, wir sagen: Wer es wirklich ernst meint mit dieser Zehn-Punkte-Erklärung, wer es, wie wir, ernst meint mit der Deutschland- und Europapolitik,
der muß auch ein Wort zur Verwirklichung sagen, zur Umsetzung,
der muß das Zusammenwirken der demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik wollen
— wir haben das in unserem Entschließungsantrag zum Ausdruck gebracht —, aber der muß auch ein Wort zum Geld sagen. Wir können uns doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das alles Geld kostet. Herr Bundesfinanzminister, wieviel das kostet und woher Sie das nehmen wollen, hätten wir gern in den Haushaltsberatungen von Ihnen gehört.
Dazu ist allerdings kein Wort gefallen, auch von Ihnen nicht, Herr Bundesfinanzminister, und das macht uns mißtrauisch.
Uns ärgert auch, daß Sie nicht darauf eingegangen sind, was Berlin zusätzlich braucht, obwohl der Regierende Bürgermeister Berlins, Walter Momper, immer wieder darauf hingewiesen hat, obwohl der Berliner Finanzsenator Meisner konkrete Zahlen genannt hat.
Sie sind ausgewichen. Berlin ist heute nicht nur eine Stadt der Wiedersehensfreude — Sie als Berliner müßten das wissen — , nicht nur eine Stadt der Begegnung;
die Berliner Bürgerinnen und Bürger tragen vielmehr ein viel höheres Maß an Belastungen als das, was jetzt schon erhöht auf die Städte, auf die Gemeinden, auf die Verbände und auf die Kirchen zukommt, was mit einer bewunderungswürdigen Bereitschaft zum Engagement geleistet wird.
Wir sagen deshalb: Wir müssen helfen, und wir hoffen sehr ernsthaft, daß heute bei dem Treffen mit Bürgermeister Momper endlich klarer Tisch gemacht wird.
Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, wissen übrigens noch etwas anderes ge-
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nauso gut wie wir, nämlich daß viele Menschen auch bei uns in der Bundesrepublik die Übersiedlerzahlen mit Sorge sehen.
Sie wissen auch, warum das so ist; denn Sie bekommen ja auch täglich die Briefe, da bin ich ganz sicher. Die Menschen schreiben uns, gerade die Männer und Frauen, die seit Jahren im Schatten Ihrer Regierungspolitik stehen. Die plagt die Sorge, wer denn eigentlich die zusätzlichen Belastungen zu tragen haben wird.
Das sind die über 700 000 Langzeitarbeitslosen, also die Männer und Frauen, die seit mehr als einem Jahr vergeblich nach Arbeit suchen und die wir uns — ich meine, da sollten wir uns doch eigentlich einig sein — in unserer boomenden Wirtschaft nicht leisten können. Die schreiben uns, und die schreiben nicht aus Neid, wie es manche von Ihnen so locker unterstellen möchten. Auch die wollen, daß wir die Reformen in der DDR unterstützen. Die sind auch nicht gegen die Menschen, die zu uns kommen. Aber die haben Sorgen, und die nehmen wir ernst. Und auch Sie sollten das tun.
Mir schreiben da alleinerziehende Mütter und Familien mit Kindern, die nicht viel verdienen, die sich durch Ihre Anzeigenkampagne regelrecht verhöhnt fühlen, mit der Sie glauben, Frauen oder Familien verkünden zu müssen, wie schön es sei, Kinder zu haben. Daß dies schön ist, daß Kinder eine Bereicherung sind, verehrter Herr Kollege, das wissen die Menschen so gut, wie Sie es wissen oder wie ich es weiß. Aber ich sage Ihnen, was sie nicht wollen. Sie wollen nicht, daß das immer zum Vorwand genommen wird, daß sie sich hinten an der Schlange anstellen müssen, wenn es Ihrer interessengebundenen Regierungspolitik paßt.
Diese Männer und Frauen haben ganz andere Schwierigkeiten. Zum Beispiel wenn sie eine Wohnung suchen, die sie bezahlen können, da fühlen sie sich von Ihnen alleingelassen. Sie fürchten, daß diese hohen Übersiedlerzahlen die Wohnungssuche genau für sie noch schwieriger macht,
und sie befürchten das zu Recht.
Denn das, was im sozialen Wohnungsbau der vergangenen Jahre von Ihnen versäumt wurde, läßt sich so schnell nicht nachholen. Das wissen Sie, und das wissen wir.
Das müssen Sie und wir den Menschen auch sagen.
— Ich weiß, daß Sie das nicht gern hören. Aber schreien Sie nur weiter. Ich kann Ihnen nur sagen: Eines Tages werden auch Sie den Ruf dieser Menschen hören müssen.
Wir werden das den Menschen aus der DDR sagen müssen, die zu uns kommen wollen. Sie müssen damit rechnen, daß sie lange Zeit bei uns in Notunterkünften leben. Jene, die heute Wohnungen suchen — die Schlangen vor den Wohnungsämtern waren ja schon lang vor den zahlreichen Aus- und Übersiedlern und sind immer länger geworden — , Sie wissen das ebenfalls.
Was Sie jetzt an Wohnungsbauprogrammen vorhaben — wir sehen das ja —, reicht nicht aus. Das wissen auch Sie. Wir sagen deshalb: Sie müssen erheblich aufstocken. Vor allem ist es wichtig, daß Sie das genau und stetig auf mindestens zehn Jahre anlegen.
Deswegen wiederhole ich: Ich habe viel Verständnis dafür, wenn mir eine Apothekenhelferin von ihren Sorgen schreibt, die netto 1 600 DM verdient, davon 700 DM Miete für ihre Wohnung bezahlt, deren Tochter in die 12. Klasse geht, die aber nach Ihren Streichungen beim Schüler-BAföG einfach nichts mehr bekommt. Wenn die mir jetzt voll Sorge schreibt, wer denn die Belastungen tragen soll, die neu auf uns zukommen, dann sage ich: Die Frau hat recht. Das ist eine berechtigte Frage.
Die nehmen wir auf, und nicht nur heute. Denn jeder von uns weiß, was an notwendiger Hilfe für die DDR sein muß und was wir für die Übersiedler brauchen. Jeder von uns weiß: Es ist enorm. Wir sagen: Das muß auf den Tisch des Bundestags, und es muß klar sein, daß nicht schon wieder gerade diejenigen zusätzlich belastet werden, die sowieso schon wenig haben.
Auch deshalb hätten wir eine andere Steuerreform für richtig gehalten. Frau Matthäus-Maier hat am Mittwoch darauf hingewiesen: Ihre Steuerreform ist ungerecht. Sie gibt denen viel zurück, die das gar nicht brauchen, aber den Arbeitnehmern und den Familien wenig. Im übrigen haben sie das durch die Erhöhung der Verbrauchsteuern ja schon alles vorfinanziert. Sie beharren auf Ihren falschen Vorstellungen. Ja, Sie gehen sogar so weit, neue Steuersenkungen in Milliardenhöhe für Spitzenverdiener und Unternehmer zu versprechen. Woher Sie allerdings die Bausumme für das gemeinsame Haus Deutschland und Europa nehmen wollen, das müssen Sie uns sagen.
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Frau Dr. Däubler-Gmelin
Ich wiederhole: Das sind Milliardenbeträge, wenn Sie auch nur das ernst nehmen, was in der ZehnPunkte-Erklärung steht. Wir beharren hierauf, — ich kann das nur noch mal sagen — , und wir werden das auch in Zukunft tun. Wir sagen: Diese Belastungen dürfen nicht denen aufgebürdet werden, die sowieso nur wenig haben. Darauf werden wir achten.
Für viele junge Leute steht heute der Kampf um die Erhaltung und Verbesserung der natürlichen Lebensbedingungen im Vordergrund. Das ist bei uns so und auch in der DDR. Das ist ihnen wichtig. Das verbindet auch mehr, gerade diese jungen Menschen, als alles andere.
Die Menschen in der DDR und bei uns haben eine Überzeugung gemeinsam: Nicht nur im Fichtelgebirge sterben die Wälder — obwohl es dort besonders schlimm ist — , sondern auch bei uns im Schwarzwald und auch im Harz. Nicht nur in der DDR sind Umweltschutz und Zusammenarbeit dringend erforderlich, und wir fordern Sie auf, wirklich bald damit anzufangen; nein, unsere Lebens- und Wirtschaftsweise muß hier wie dort wie auch in ganz Europa verändert werden. Umweltgerechtes Produzieren muß billiger, umweltschädliches Verhalten muß auch finanziell teurer werden.
Auch das gehört zu einem deutschland- und europapolitischen Konzept. Das betonen wir an dieser Stelle.
Ich sprach vorhin von den Bildern von jener fröhlichen und friedlichen Revolution, die wir erleben. Uns alle fasziniert die Fröhlichkeit.
— Ich weiß nicht, ob Sie das so finden, aber wir auf jeden Fall, auch die Menschen, die hier zuhören, auf jeden Fall.
Uns alle faszinieren die Fröhlichkeit, der Mut zum aufrechten Gang und das demokratische Selbstbewußtsein, das wir dort sehen und mit dem die Bürgerinnen und Bürger auch Ihnen ins Stammbuch schreiben: Wir sind das Volk. Wir haben das Sagen. Das ist etwas ganz Neues in Deutschland, meine Damen und Herren, und etwas ganz Wertvolles. Darauf sollten wir hören. Ich sage deshalb: In Deutschland gibt es seit dem November, seit dem 9. November, exakt, einen neuen Stolz, auf die Friedlichkeit und auf die Verantwortlichkeit für uns und für das ganze Europa.
Christian Graf Krockow hat dieses schon vor 18 Jahren „Patriotismus in weltbürgerlicher Absicht" genannt. Da hat er recht. Darauf sind wir stolz.
Danke schön.