Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen am Ende der Haushaltsberatungen. Das herausragende Ereignis dieser Woche war der Deutschlandplan des Bundeskanzlers, allerdings auch die Art und Weise, wie die Fraktionen dieses Hauses darauf reagiert haben.
Die Qualität dieses Plans liegt darin, daß er die Deutschlandpolitik, die Europapolitik, die Ost-WestSicherheitspolitik miteinander verbindet und dadurch Perspektiven auf einen nationalen und internationalen Konsens aufzeigt, ohne den die deutsche Frage nicht gelöst werden kann.
Wer Unklarheiten an der einen oder anderen Stelle moniert, weiß nicht, worum es geht. Meine Damen und Herren, auch wenn Sie das meinen, Drehbücher für geschichtliche Abläufe im Detail kann es nicht geben.
Notwendig in einer Zeit des Wandels — das ist auch immer eine Zeit der Ungewißheiten — ist ein festes Fundament, ein klares politisches Ziel und eine weitreichende Perspektive. Die Union verfügt darüber. Unser Fundament ist Deutschland und Europa in einem untrennbaren Zusammenhang.
Unser klares politisches Ziel ist die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands in einer Föderation.
Unsere Perspektive ist eine gesamteuropäische Friedensordnung, an der die Sowjetunion im Osten, die Vereinigten Staaten im Westen und das vereinigte Europa von Polen bis Portugal in der Mitte als friedenserhaltende Mitte zwischen den Weltmächten beteiligt sind. Das ist diese weitreichende Perspektive.
Meine Damen und Herren, was wir zuerst brauchen, ist der nationale Konsens. Er schien am Dienstag wenigstens in diesem Hause nahe zu sein. Der Sprecher der SPD, Karsten Voigt, ein ausgewiesener Kenner der Außen- und Sicherheitspolitik, erklärte nach der Rede des Bundeskanzlers, das Konzept des Bundeskanzlers sei auch das Konzept der SPD. Er sagte wörtlich: „Deshalb stimmen wir Ihnen in allen zehn Punkten zu."
Sie, meine Damen und Herren der SPD, sollten Ihren Sprecher deswegen nicht schelten, denn auch Willy Brandt, Ihr Ehrenvorsitzender, den Sie gerade zum Aushängeschild, wenn man das so sagen darf, Ihrer Deutschlandpolitik erkoren haben,
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Dr. Dregger
erklärte in Berlin, es gebe nichts, was an dem Deutschlandplan des Kanzlers zu kritisieren sei.
Inzwischen hat sich die SPD von dem Konsens, der sich am Dienstag anzubahnen schien, wieder entfernt.
Das ist mir unverständlich, da doch das Eingehen auf den Vorschlag einer gemeinsamen Entschließung, der aus allen Fraktionen des Hauses kam, der SPD die Möglichkeit geboten hätte, sich aus einer Position in der Deutschlandpolitik zu befreien, die angesichts der Veränderungen in Osteuropa, in Mitteleuropa und in der DDR doch völlig unhaltbar geworden ist.
Frau Seebacher-Brandt hatte Sie, meine Damen und Herren der SPD, doch in einem Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vor einer solchen Torheit gewarnt, aber offenbar vergebens.
Das ist nicht unser, das ist Ihr Problem.
Was mich, meine Damen und Herren, betroffen macht, ist die Tatsache, daß es nichts mehr zu geben scheint, was von Ihrer Seite, Herr Vogel
— ich kann ja verstehen, daß Sie das alles aufregt, aber Ihr Verhalten ist wirklich aufregend, auch vom nationalen Standpunkt aus, bedauerlich, sehr bedauerlich; aber die Wahrheit wird man Ihnen sagen müssen, und wir haben sie Ihnen nie erspart und werden das auch heute natürlich nicht tun — , was von weiten Kreisen Ihrer Fraktion und Partei nicht unter Wahlkampfgesichtspunkten gewertet wird.
Und das machen Sie noch falsch.
Ich sage Ihnen: Wer den nationalen Konsens
in der Deutschlandpolitik auf der Grundlage eines Konzepts, das alle Zukunftschancen offenhält und alle Entwicklungsmöglichkeiten bündelt — das ist beim Deutschlandplan des Bundeskanzlers der Fall — und das ja Ihren Sprecher Karsten Voigt veranlaßt hat, spontan zu sagen „Das ist auch unser Konzept!" ,
ablehnt, wird nicht nur die Bundestagswahl verlieren, sondern wird sich auch völlig unabhängig davon unfähig machen, auf die weitere Gestaltung unseres nationalen Schicksals Einfluß zu nehmen.
Mit anderen Worten: Wer sich in dieser Stunde versagt, der versagt;
so hat es einer meiner Vorgänger im Amt des Vorsitzenden dieser Fraktion, Rainer Barzel, einmal formuliert.
Meine Damen und Herren, Ihren Entschließungsantrag werden wir ablehnen, sollten Sie ihn zur Abstimmung stellen.
Wir halten nichts von unaufhörlichen Entschließungen, die massenweise produziert werden. Ich glaube nicht, daß das die beste Politik ist. Aber wenn Sie es wollen, wenn Sie Ihren Entschließungsantrag zur Abstimmung stellen, werden wir ihn ablehnen.
Heute, meine Damen und Herren, steht die Deutschlandpolitik auf der Tagesordnung, nicht die Westgrenze Polens.
Dazu haben wir bereits am 8. November eine gemeinsame Entschließung gefaßt.
Heute stehen auch nicht die atomaren Kurzstrekkenraketen und die atomaren Gefechtsfeldwaffen auf der Tagesordnung.
Das wird der Fall sein, wenn die konventionellen Abrüstungsverhandlungen in Wien, die zügig und konstruktiv verlaufen, zu einer Vereinbarung geführt haben; wir rechnen damit im nächsten Jahr. Dann wird das atomare Thema hier wieder auf dem Tisch liegen, und dann geht es nicht nur um die Kurzstreckenraketen, sondern auch um die atomare Rohrartillerie, zu der ich, wie Sie wissen, eine ganz bestimmte Meinung habe. Sie haben das in Ihrem Entschließungsantrag zur Deutschlandpolitik, obwohl Sie dieses Thema dort behandelt haben, zunächst vergessen, dann aber in Ihrem zweiten Antrag nachgebessert.
Meine Damen und Herren, aber darum geht es ja jetzt gar nicht. Entscheidend ist doch die Frage: Warum dieses Draufsatteln mit Themen, die entweder gerade behandelt oder/und zur Zeit nicht aktuell sind?
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Dr. Dregger
Das alles, meine Damen und Herren, sind doch Nebelkerzen,
die verhüllen sollen, wie nackt, wie zerstritten und wie hilflos Sie in Ihrer Deutschlandpolitik dastehen.
Sie haben Ihre Position in den letzten 40 Jahren eben zu häufig verändert und sind daher heute nicht in der Lage, auf neue Entwicklungen richtig zu reagieren. Wir dagegen können bei unserem klaren Kurs bleiben,
den wir seit 40 Jahren verfolgen — der übrigens der Verfassungslage entspricht, die ja noch wichtiger als Ihre Beschlußlage ist, die sich dauernd ändert —
und der sich als offenbar erfolgreich erweist.
Meine Damen und Herren, Deutschland geht nicht nur Deutschland an. Deshalb steht in diesen Wochen neben der Deutschlandpolitik die Europapolitik vorn. Beide sind ineinander verschränkt, sie können nicht voneinander getrennt werden.
Der Bundeskanzler steht ständig in persönlichem und telefonischem Kontakt mit unseren Verbündeten. Seine Aufgabe in einer „Führungsrolle der Allianz", so hat es der amerikanische Präsident Bush bei seinem letzten Staatsbesuch hier in der Bundesrepublik Deutschland formuliert, nimmt er intensiv und erfolgreich wahr. Vor allem mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand und dem amerikanischen Präsidenten Bush hält er beides zusammen: die Europäische Gemeinschaft und die Allianz. Das gilt in anderer Weise auch für unser Verhältnis zur Sowjetunion und zu den Ländern Ostmitteleuropas. Es gibt ständige Telefonkontakte mit Staatspräsident Gorbatschow und mit den Ministerpräsidenten Polens und Ungarns, der beiden Reformländer in Ostmitteleuropa.
Meine Damen und Herren, man kann ohne Übertreibung sagen: Die konstruktive Rolle der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft und in der NATO und die sich verstärkende Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion und den Ländern Ostmitteleuropas tragen zur Zeit entscheidend dazu bei, daß sich der Wandel in den sozialistischen Ländern, der unvermeidlich ist, friedlich und weitgehend im Konsens vollzieht. Das ist unsere Rolle.
Daß die Bundesrepublik Deutschland, der westdeutsche Teilstaat des besiegten Deutschlands, diese konstruktive Aufgabe erfüllen kann, ist das Ergebnis der Politik, die von Konrad Adenauer, dem ersten Bundeskanzler und dem ersten Parteivorsitzenden
der CDU, begründet worden ist und von Helmut Kohl so erfolgreich weitergeführt wird.
Helmut Kohl ist nach Konrad Adenauer der erfolgreichste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Die Grundlage unserer Erfolge ist die klare Entscheidung für den Westen, d. h. für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Ohne diese Entscheidung, die wir zusammen mit der FDP gegen die SPD und andere Oppositionsparteien durchgesetzt haben, hätten wir heute weder Verbündete im Westen noch Optionen im Osten, sondern der Ring des Mißtrauens hätte sich wieder um uns herum geschlossen.
An dieser Westbindung halten wir fest.
Die Europäische Gemeinschaft haben wir in dieser Legislaturperiode erheblich nach vorne gebracht. Das ist vor allem dem engen Zusammenwirken von Bundeskanzler Helmut Kohl, Staatspräsident Mitterrand
und dem ausgezeichneten Präsidenten der Europäischen Gemeinschaft, Jacques Delors, zu verdanken.
— Meine Damen und Herren, wenn Sie so gut wären wie die französischen Sozialisten, dann wären Sie schon viel weiter.
— Wenn sie es verdient haben, lieber Herr Vogel, selbstverständlich; ich bin doch gerecht.
Im Vordergrund steht jetzt die Europäische Währungsunion. Das ist ein bewegendes Thema. Es geht dabei um die D-Mark, um die Unabhängigkeit der Notenbank,
um die Geldwertstabilität, d. h. um all das, was die Franzosen als die Force de frappe der Deutschen bezeichnen. Es geht aber zugleich um die politische Union zunächst Westeuropas, die wir wollen, und zwar als Modell, wie der Bundeskanzler es in seinem Deutschlandplan gesagt hat, für eine größere, ganz Europa umfassende Friedensordnung.
Zu dieser politischen Union gehören drei Elemente: die Wirtschaftsunion, die Währungsunion und auch die Sicherheitsunion. Diese Elemente parallel zueinander zu entwickeln wäre gesamtpolitisch optimal.
Diese Zielsetzung wird nicht von allen unseren Partnern geteilt. Großbritannien zeigt bisher wenig Interesse an Entwicklungen, die über den Binnenmarkt hinausgehen. Frankreich scheint vor allem, und zwar möglichst bald, das eine zu wollen: die europäische Notenbank, vielleicht auch die europäische Wirt-
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schaftsunion, die europäische Sicherheitsunion bisher jedenfalls nicht.
Angesichts dieser Lage sollten wir diese Parallelität, von der ich gesprochen habe, und zwar insbesondere zwischen Fortschritten in der Wirtschafts- und in der Währungsunion, immer wieder anmahnen.
Wir sollten ferner dafür eintreten, daß der Weg zur Währungsunion sachgerecht beschritten wird. Das heißt, das Ziel der Währungsunion muß stufenweise angegangen werden. Wir dürfen die zweite und vor allem die dritte Stufe des Delors-Planes erst betreten, wenn die erste Stufe die Voraussetzungen dafür geschaffen hat.
Sonst könnten wir stolpern. Ich meine nicht die Bundesrepublik Deutschland, sondern die Europäische Gemeinschaft als Ganze.
Die Vorstufe, das Europäische Währungssystem, EWS, war für alle Beteiligten ein Erfolg. In diesem EWS, in dem Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung und in der Geldwertstabilität nach wie vor durch den Wechselkursmechanismus ausgeglichen werden können, seit einiger Zeit aber leider nicht mehr ausgeglichen werden, ist die Bundesbank Anker der Stabilität für alle. Das hat allen genutzt, zumal sich die Bundesbank vor ihren Entscheidungen, die sie in Unabhängigkeit trifft, mit allen Betroffenen abstimmt, für die es von Bedeutung ist. Trotzdem müssen wir Deutschen Verständnis dafür haben, daß diese starke Stellung der deutschen Notenbank nicht überall gern gesehen wird. Aber die Rolle der Bundesbank kann erst enden, wenn eine gleichwertige und gleich handlungsfähige
auf Geldwertstabilität verpflichtete, d. h. auch unabhängige europäische Notenbank an ihre Stelle treten kann,
und das nicht nur verbal, sondern auch tatsächlich. Dafür sind wesentliche Voraussetzungen schon geschaffen. Der Delors-Plan, an dem auch der Chef der deutschen Notenbank mitgewirkt hat, enthält unsere Prinzipien. Es geht nur darum, daß sie in die Tat umgesetzt werden. Dafür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden.
Das setzt voraus, daß in der ersten Stufe des DelorsPlans, die jetzt beginnt, die Wirtschafts-, die Finanz-, die Haushalts-, die Geld- und die Steuerpolitiken aller EG-Partner zur Konvergenz gebracht werden.
Das ist eine schwierige Aufgabe, in der wir Anfangs- und Teilerfolge haben, die aber als Ganzes noch vor uns steht.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch einige Überlegungen zur Deutschlandpolitik vortragen. Ich wiederhole, was ich zu Beginn sagen durfte.
Der Deutschlandplan des Bundeskanzlers führt die Deutschland- und Europapolitik und die Ost-WestSicherheitspolitik zusammen und öffnet damit Perspektiven für ein Ziel, das nur im Konsens und nur im Zusammenwirken aller Beteiligten erreicht werden kann.
Dabei ist klar, daß die Entwicklung der sowjetischen Innenpolitik auch für die Ost-West-Beziehungen von größter Bedeutung ist. Deshalb wünschen wir den Reformbemühungen des sowjetischen Staatspräsidenten nicht nur Erfolg, wir unterstützen sie auch.
Wir unterstützen sie auch durch Zusammenarbeit in der Wirtschaft und — selbstverständlich in Abstimmung mit unseren Verbündeten — auch durch Zusammenarbeit in der Abrüstungspolitik. Wir sind uns ferner klar darüber, daß auch die Reformbemühungen Ungarn und Polens und der anderen Staaten Ostmitteleuropas, die sich jetzt auf diesen Weg begeben, eine Voraussetzung für den Erfolg der Reformbemühungen in der DDR und damit in Deutschland sind.
Zusammenarbeit, nicht Konfrontation, ist die bestimmende Größe des neuen Europas. Das gilt nicht nur für den Westen, wo wir diesen Grundgedanken schon weithin verwirklicht haben. Es gilt jetzt auch für den Osten. Staatspräsident Gorbatschow hat erkannt, daß die Sowjetunion die Kooperation mit dem Westen braucht. Diese Zusammenarbeit mit dem Westen ist für die Sowjetunion wichtiger als die Aufrechterhaltung eines Systems von Zwangsverbündeten in Ostmitteleuropa, das ihr nur noch Lasten — moralische, politische und ökonomische Lasten — gebracht hat. Wenn Sie beobachten, wie die Sowjetunion auf die Veränderungen in Ungarn reagiert — aus einer Volksrepublik wird eine freie Republik mit marktwirtschaftlicher Ordnung und einem Mehrparteiensystem — , dann können Sie sehen, daß die Sowjetunion heute auch so handelt, von diesem Grundsatz ausgehend. Die Kooperation ist wichtiger als das Zwangssystem. Ich habe das übrigens bereits vor fünf Jahren in einer Buchveröffentlichung vorausgesagt. Das ist jetzt Gott sei Dank eingetroffen.
In dieser Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und Osteuropa eröffnet sich die Zukunftschance für die Deutschen, auch ihre staatliche Einheit in Freiheit zu vollenden. Ich möchte in diesem Zusammenhang an eine Aussage des deutschlandpolitischen Beraters von Gorbatschow, Professor Datschischew, erinnern. Datschischew sagte Ende Oktober in Weikersheim, in Freiheit und Einheit solle das Deutsche Volk sein Schicksal selber bestimmen. Das brauche Zeit. Allein im gesamteuropäischen Ansatz könne die Deutsche Frage gelöst werden.
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Dr. Dregger
Eine Neutralisierung Deutschlands, wie früher vorgeschlagen, verliere ihren Sinn, wenn es keine Konfrontation mehr gebe.
— Völlig richtig, das meine ich auch. Dem können wir zustimmen.
Die Verhandlungen in Wien über die konventionelle Abrüstung verlaufen zügig und konstruktiv. Dazu tragen beide Weltmächte in gleicher Weise bei, die Amerikaner auch in Erfüllung eines Versprechens, das sie uns auf dem NATO-Gipfel am 30. Mai 1989 gegeben hatten. Daß wir Deutschen diese auf Abrüstung zielende Politik der beiden Weltmächte in Wien nach Kräften unterstützen, ist klar. Das ergibt sich auch aus unseren nationalen Interessen, und zwar in jeder Hinsicht.
Aber so wichtig es ist, durch eine kluge Deutschland-, Europa- und Ost-West-Politik die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen es den Deutschen möglich wird, ihr Recht auf Selbstbestimmung auszuüben, wichtiger noch ist im Augenblick das Verhalten der Deutschen selbst. Der Bundeskanzler hat dazu am Dienstag in unserem Hause folgendes gesagt — ich zitiere — :
Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.
Das entspricht exakt meinen Überzeugungen, die ich immer vertreten habe.
Worauf es jetzt ankommt, ist, alle Deutschen — soweit sie sich als solche fühlen; das ist natürlich eine Voraussetzung — an ihre Pflicht zu nationaler Solidarität zu erinnern. Das gilt zunächst und vor allem für die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland.
Der Lafontaine-Vorstoß mit dem Ziel, die Deutschen aus der DDR vom — ich zitiere — „Zugriff" auf unser Sozialsystem auszuschließen
— so ist die Sprache des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden —, war kalt, rücksichtslos und in höchster Weise unsolidarisch.
Der Gourmet von der Saar sollte zur Kenntnis nehmen, daß die Massenflucht aus der DDR nicht durch unsere Solidarität ausgelöst wurde, sondern durch das Gewaltsystem der Unterdrücker, in dem der Lafontaine-Freund Honecker eine besondere Rolle gespielt hat.
— Pfui, muß ich auch sagen.
Wenn die Menschen in der DDR wirklich frei sind, wird die Ost-West-Bewegung aufhören. Mit dem Sozialismus wird auch die Flucht vor dem Sozialismus enden. So einfach ist das.
Wir, die CDU/CSU, wollen, daß Mitteldeutschland wie Westdeutschland zu einem freien und blühenden Land wird. Das geht nur durch eine enge Zusammenarbeit aller Deutschen in Ost und West.
Ich bitte meine Landsleute in Westdeutschland, sich nicht von der Neidkampagne des saarländischen Ministerpräsidenten beeinflussen zu lassen.
Unsere Landsleute in der DDR bitte ich, sich nicht von interessierter Seite einreden zu lassen, wir hier wollten sie belehren, gängeln und bevormunden. Das ist doch alles Unsinn!
Der Bundeskanzler hat mit seinem Deutschlandplan den Menschen in der DDR ein Angebot gemacht. Eine frei gewählte Volkskammer — natürlich nicht das jetzige Regime, das ohne Legitimität ist — kann dieses Angebot annehmen, sie kann es verwerfen, oder sie kann Veränderungsvorschläge dazu machen, über die wir mit ihr sprechen werden. Das ist unter Demokraten doch völlig selbstverständlich.
Im übrigen, meine Landsleute in der DDR — ich wende mich jetzt unmittelbar an Sie —, wir, die CDU/ CSU, schätzen Sie hoch ein. Ich denke dabei nicht einmal in erster Linie an Ihre Fähigkeiten auch in technischer und ökonomischer Hinsicht,
an Ihre kulturellen Leistungen,
an Ihre großen Musiker, Maler und Wissenschaftler, die wir bewundern. Ich denke vor allem an das moralische Kapital, das Sie sich durch Ihre friedliche Revolution in aller Welt erworben haben.
Das war wirklich eine Weltpremiere. Das hat es noch nicht gegeben. Sie haben zu Hunderttausenden auf Ihren Straßen demonstriert, und keine Scheibe ist dabei zu Bruch gegangen, kein Mensch ist dabei verletzt oder gar getötet worden.
Sie haben keine Waffen gehabt.
Sie haben nur Ihre Kerzen durch Ihre Straßen getragen und sie den Bewaffneten vor die Stiefel gestellt.
Ich habe schon in der Nacht des 9. November im Bundestag gesagt: Ich bin stolz darauf, einem Volk anzugehören, das seinen Willen zum Frieden und zur Freiheit so zum Ausdruck gebracht hat, wie es die Menschen in Leipzig, in Dresden, in Ost-Berlin und in
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anderen Städten und Gemeinden der DDR getan haben.
40 Jahre der Trennung waren lang; aber eine über tausendjährige Geschichte, die uns verbindet, war länger. Deswegen meine ich, daß wir jetzt miteinander darüber sprechen sollten, wie wir unsere gemeinsame Zukunft gestalten. Dazu brauchen Sie und wir Zeit. Der Deutschlandplan des Bundeskanzlers läßt uns diese Zeit. Keiner von uns weiß schon jetzt im einzelnen, was das Richtige ist. Aber wir können voneinander lernen, wenn wir miteinander sprechen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir, die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, sind in den 40 Jahren der Trennung immer ohne Schwanken, klar und entschieden für die Einheit und Freiheit Deutschlands eingetreten.
Wir solidarisieren uns daher ganz selbstverständlich mit denen in der DDR, die in ihren friedlichen Demonstrationen gerufen haben: Wir sind das Volk! Wir bleiben hier!
Wir antworten ihnen: Ja, wir sind e i n Volk. Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren, weder von der SED noch von den GRÜNEN noch von der Lafontaine-SPD, meine Damen und Herren.
Wenn Sie in der DDR zustimmen, werden wir gemeinsam unseren Staat bauen, eine Föderation, wie der Bundeskanzler gesagt hat, d. h. einen Bundesstaat, in dem alle Teilstaaten über ein hohes Maß an Autonomie verfügen, in dem die Vielfalt der deutschen Landschaften und der deutschen Geschichte erhalten bleibt.
Dieser Staat wird ein Staat des Friedens und der Zusammenarbeit mit allen Nachbarn sein. Er wird eine Politik verfolgen, die dem Vorbild entspricht, das Sie, meine Damen und Herren in der DDR, in Ihrem gewaltfreien Kampf für die Freiheit gegeben haben.
Diese Politik verbürgt die Zukunft Deutschlands und Europas in einer Welt des Friedens. Wir in der Bundesrepublik Deutschland danken Ihnen in der DDR
für den großen Beitrag, den Sie für unsere gemeinsame Zukunft bereits geleistet haben.