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ID1117702500

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    Plenarprotokoll 11/177 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 177. Sitzung Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 13479 A Nachträgliche Überweisung eines Antrages — Drucksache 11/5692 — an den Haushaltsausschuß 13479 B Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle (Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz) (Drucksache 11/5464) . . 13479A Tagesordnungspunkt I: Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksachen 11/5000, 11/5321, 11/5389) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes Dr. Vogel SPD 13479 D Dr. Bötsch CDU/CSU 13488 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 13492 B Dr. Graf Lambsdorff FDP 13496 A Dr. Kohl, Bundeskanzler 13502 D Voigt (Frankfurt) SPD 13514 B Bohl CDU/CSU 13516A Frau Eid GRÜNE 13518 C Genscher, Bundesminister AA 13520 B Dr. Meisner, Senator des Landes Berlin . 13523 C Wüppesahl fraktionslos 13525 A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 13527 A Roth SPD 13527 D Austermann CDU/CSU 13529 C Jungmann (Wittmoldt) SPD 13532 A Namentliche Abstimmung 13533 D Ergebnis 13536 B Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Hiller (Lübeck) SPD 13534 A Dr. Neuling CDU/CSU 13538 A Frau Frieß GRÜNE 13541 D Hoppe FDP 13544 A Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . 13545 D Frau Terborg SPD 13548 D Lintner CDU/CSU 13550 D Heimann SPD 13552 C Weisskirchen (Wiesloch) SPD 13553 B Stratmann GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 13555 A Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts Waltemathe SPD 13555 C Dr. Rose CDU/CSU 13557 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 13561 B Hoppe FDP 13563 A Stobbe SPD 13564 A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Frau Beer GRÜNE 13567 D Genscher, Bundesminister AA 13568 C Einzelplan 10 Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Diller SPD 13572 C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 13574 B Frau Flinner GRÜNE 13576 C Bredehorn FDP 13578 C Kiechle, Bundesminister BML 13579 C Koltzsch SPD 13582 B Einzelplan 13 Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation Frau Faße SPD 13584 B Bohlsen CDU/CSU 13587 D Hoss GRÜNE 13589 C Funke FDP 13590 D Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister BMPT 13591 D Nächste Sitzung 13594 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13595* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 13479 177. Sitzung Bonn, den 28. November 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 12. 89 * Amling SPD 28.11.89 Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 01. 12. 89 Frau Dempwolf CDU/CSU 01. 12. 89 Dr. Dollinger CDU/CSU 01. 12. 89 Engelsberger CDU/CSU 29.11.89 Graf SPD 28.11.89 Dr. Haack SPD 01. 12. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 28. 11. 89 Zuydtwyck Dr. Hennig CDU/CSU 29. 11. 89 Frau Hensel GRÜNE 28. 11. 89 Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 28. 11. 89 Höffkes CDU/CSU 01. 12.89 Hörster CDU/CSU 28. 11.89 Kißlinger SPD 01. 12.89 Klein (Dieburg) SPD 01. 12. 89 Dr. Klejdzinski SPD 28. 11. 89* Linsmeier CDU/CSU 01. 12.89 Frau Luuk SPD 01. 12. 89 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Lüder FDP 28.11.89 Meneses Vogl GRÜNE 01. 12. 89 Mischnick FDP 28.11.89 Niegel CDU/CSU 01. 12. 89 * Poß SPD 28. 11.89 Rappe (Hildesheim) SPD 28. 11. 89 Frau Rock GRÜNE 01. 12. 89 Frau Schilling GRÜNE 28. 11. 89 Frau Schoppe GRÜNE 28. 11. 89 Schreiber CDU/CSU 30. 11.89 Schröer (Mülheim) SPD 01. 12. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 01. 12. 89 Singer SPD 28. 11.89 Dr. Stark (Nürtingen) CDU/CSU 28. 11. 89 Dr. Stoltenberg CDU/CSU 28. 11. 89 Tietjen SPD 01. 12.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 28. 11. 89 Verheugen SPD 30. 11.89 Vosen SPD 28. 11.89 Dr. Warnke CDU/CSU 28. 11. 89 Werner (Ulm) CDU/CSU 28. 11. 89 Frau Wilms-Kegel GRÜNE 01. 12. 89 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Karsten D. Voigt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie sind mit den zehn Punkten, die Sie hier vorgetragen haben, in vielen Begriffen — Politik der kleinen Schritte, KSZE — auf uns zugegangen. In einer solchen Situation, vor solchen Herausforderungen werden wir Sozialdemokraten auch nicht davor zurückscheuen, auf Sie zuzugehen.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

    Sie werden gemerkt haben, daß zwischen den Ausführungen von Jochen Vogel heute morgen und dem, was Sie jetzt in den zehn Punkten vorgetragen haben, keine konzeptionellen Differenzen zu erkennen sind.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!)

    Deshalb stimmen wir Ihnen in allen zehn Punkten zu.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Wiedervereinigung?)

    Und bei allem Streit, der im einzelnen bei der Umsetzung dieser Punkte oder bei der Interpretation des einen oder anderen Punktes bleiben wird, bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit bei der Verwirklichung dieses Konzeptes, das auch unser Konzept ist, an.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist wahr: Die demokratische Revolution in Osteuropa eröffnet jetzt eine realistische Perspektive für eine neue Einheit unseres bisher gespaltenen Kontinents und damit auch für eine Einheit der Deutschen. Die Deutschen in der DDR haben dadurch, daß sie friedfertig Freiheitsrechte erkämpften, der deutschen Nation mehr gedient als die gesamte nationale Rhetorik von bestimmten Gruppen der Rechten seit dem Untergang des Hitlerreiches.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Deutschen in der DDR üben ihr Selbstbestimmungsrecht in Formen aus, die eher an die Form von Kirchentagen und der Friedensbewegung erinnern als an die von Vertriebenenverbänden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Nationales geschieht, aber Nationalisten werden isoliert! In Berlin vereinen sich die Bürger einer bisher geteilten Stadt, zahlreiche neue Grenzübergänge werden geschaffen, die getrennten Teile der Stadt werden durch neue Verbindungen und Bindungen wieder zusammengefügt. Ohne staatliche Neuorganisation von oben, ohne daß Statusfragen oder völkerrechtliche Fragen bereits aufgeworfen werden, vollzieht sich der Prozeß des Wiedersehens und der Wiedervereinigung von langgetrennten Freunden und Familien. Das ist die Einheit, die aus Freiheit und Menschenrechten und nicht aus Staatsrecht entsteht. Das ist die Einheit, die wir Sozialdemokraten wünschen und die wir unterstützen.

    (Beifall bei der SPD)

    Aber in dem Prozeß der Demokratisierung in der DDR, in Polen, in der Sowjetunion, in Bulgarien und jetzt in der Tschechoslowakei beginnt auch die Überwindung der bisherigen Spaltung Berlins, der beiden deutschen Staaten und der beiden Teile Europas. Die Deutschen und die Europäer gewinnen so durch Friedenswillen und durch Demokratie an Einheit. Dieser Einigungsprozeß kann, wenn wir den Begriff des neuen Ministerpräsidenten der DDR aufgreifen, erst einmal zu einer „Vertragsgemeinschaft", zum engen Miteinander zweier völkerrechtlich getrennter deutscher Staaten, dann zu einer Konföderation zweier gleichberechtigter deutscher Staaten mit gemeinsamen Institutionen, wie Johannes Rau das vor einer Woche auf dem Landesparteitag auch vorgeschlagen hat, oder schließlich auch zu einem in einer europäischen Struktur eingebundenen Bundesstaat führen. Keine dieser Entwicklungen ist ausgeschlossen; keine möchten wir von vornherein ausschließen. Aber nie sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern der DDR vorzuschreiben versuchen, wie sie sich entscheiden sollen. Das Recht auf Selbstbestimmung schließt das Recht auf unterschiedliche Ergebnisse bei der Ausübung dieses Rechts ein.
    Wir Sozialdemokraten sind für das jeweils erreichbare Höchstmaß an Einheit. Aber dabei sollten wir alle — Sie von den Regierungsparteien und wir in der Opposition — beachten: Die Deutschen können nur an Einheit gewinnen, wenn Europa durch ihre Einheit auch an Frieden gewinnt.

    (Beifall bei der SPD)




    Voigt (Frankfurt)

    Es wäre blanker Zynismus, wenn von der Einheit der Deutschen geredet wird und wenn die Bundesregierung die Deutschen in der DDR gleichzeitig wirtschaftlich und sozial im Regen stehen ließe. Wer das Recht auf Selbstbestimmung ernst nimmt, darf die Übernahme des politischen und wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik Deutschland nicht zur Vorbedingung für Hilfe und Zusammenarbeit erheben.
    Deutsch-deutsche Institutionen und Vereinbarungen wie der Grundlagenvertrag sollten daraufhin überprüft werden, welche in ihnen enthaltenen Kooperationsmöglichkeiten noch nicht voll ausgeschöpft worden sind — wie Sie das soeben auch gesagt haben — und wo zusätzliche Vereinbarungen, Verträge und Institutionen sinnvoll und geboten erscheinen. Zu solchen Institutionen gehören dann auch Institutionen in Berlin, das dadurch eine neue Rolle in dem Prozeß des Zusammenwachsens von Ost und West und im Prozeß des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten erhalten könnte. Das gilt natürlich auch für die von Jochen Vogel und von Bundeskanzler Kohl angesprochene Zusammenarbeit und die spätere Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft und im Europarat.
    Der Prozeß des Zusammenwirkens, der mit einer Vertragsgemeinschaft beginnen kann und der dann zu einer Konföderation gleichberechtigter deutscher Staaten führen könnte, läßt sich auf absehbare Zeit mit der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Bündnissen und Wirtschaftssystemen vereinbaren. Auch die Beantwortung grundsätzlicher Fragen nach dem Status von Berlin und den Rechten der Alliierten in bezug auf Deutschland als Ganzes ließen sich in diesem konföderativen Prozeß auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Wer heute die staatliche Einheit der Deutschen auf die Tagesordnung setzt, muß auch bereit sein, die Zugehörigkeit zu den Bündnissen auf die Tagesordnung zu setzen. Wir Sozialdemokraten — das ist keine neue Position; sie ist auch im Grundsatzprogramm der SPD enthalten — halten die Bündnisse auf absehbare Zeit zwar noch für erforderlich, aber wir streben ihre Überwindung in einer europäischen Friedensordnung an.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist logisch und konsequent. Aber wer — dabei erinnere ich an frühere Äußerungen des Bundeskanzlers — die Mitgliedschaft in der NATO zur Staatsräson erklärt und sie für unabänderlich und nicht überwindbar hält, der kann nicht gleichzeitig von der Wiederherstellung der staatlichen Einheit oder der Neuschaffung einer staatlichen Einheit der Deutschen reden. Das ist widersprüchlich, das ist unlogisch.

    (Beifall bei der SPD)

    Das wäre ein Widerspruch in der durch Rhetorik eine gegenteilige Politik verschleiert werden würde.
    Das neue Denken im Osten erfordert aber auch ein neues Denken im Westen. Die demokratische Revolution in Osteuropa verringert die Gefahr einer militärischen Bedrohung Westeuropas, und zwar ohne daß irgendein Soldat im Osten abgezogen würde. Sie werden die Zahl der Soldaten und Panzer reduzieren, aber die Demokratisierung Osteuropas verringert die militärische Bedrohung Westeuropas, denn die Menschen in Prag, Leipzig, Budapest, Warschau, Moskau und Ost-Berlin wollen die Bundesrepublik Deutschland nicht angreifen. Wenn in diesen Ländern aus freien Wahlen hervorgegangene demokratische Regierungen die Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen, dann ist das ein Schutz vor Angriffsabsichten. Warum sollte dann nicht jenseits aller Waffen — ganz egal wo sie stationiert sind und wie viele stationiert sind; ich hoffe, es werden immer weniger sein — ein solches Verhältnis zwischen Ost und West in Europa wie heute zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich entstehen? Das heißt: Dann gibt es keine Abschreckung mehr, weil es kein Abschrekkungsverhältnis mehr zwischen Ost und West gibt, sondern weil es dann gemeinsame Sicherheit und eine europäische Friedensordnung gibt.

    (Beifall bei der SPD)

    Oder glaubt ernsthaft jemand im Saal, daß sich in Osteuropa demokratische Regierungen und pluralistische Gesellschaften zu einem Angriff, geschweige denn zu einem Überraschungsangriff auf uns entschließen, oder sich dafür überhaupt koordinieren könnten?
    Wir Sozialdemokraten bejahen die Bundeswehr und Wehrpflicht. Aber wir wollen, daß ihr zahlenmäßiger Umfang, ihre Ausrüstung und ihre Strategie der heutigen und der künftigen Lage in Europa angepaßt wird. Das setzt drastische Reduzierungen der in Ost und West, auch der bei uns stationierten Streitkräfte voraus, auch eine drastische Reduzierung der Bundeswehr.

    (Beifall bei der SPD)

    Das sollte man frühzeitig sagen. Man sollte auch sa- gen, daß die Wehrpflicht nicht verlängert wird, sondern daß sie verkürzt wird, und zwar unter das jetzige Maß hinaus.

    (Beifall bei der SPD)

    Man sollte jetzt auch sagen — dazu habe ich eine Aussage des Bundeskanzlers vermißt — , daß keine neuen Kurzstreckenraketen in der Bundesrepublik stationiert werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Man sollte auch sagen, daß alle nuklearen Gefechtsfeldwaffen aus der Bundesrepublik und aus Osteuropa weg müssen; denn wir brauchen keine Waffen, die unsere Partner in Prag, in Ost-Berlin und in Warschau bedrohen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir brauchen auf absehbare Zeit noch das Bündnis. Wir brauchen es auch, um einen sicherheitspolitischen Nationalismus zu vermeiden bzw. zu verhindern. Aber das Bündnis muß sich jetzt in der Abrüstung und weniger in der Abschreckung bewähren. Wir brauchen, wenn überhaupt, ein Minimum an Abschreckung, aber ein Maximum an Abrüstung und Zusammenarbeit.
    Wir wollen durch unsere in Westeuropa eingebettete Politik, durch unsere Politik der europäischen Einigung unsere nationalen Interessen verwirklichen. Aber wir wollen sie in einer Weise verwirklichen, die nicht nur die Einheit der Deutschen, sondern auch die



    Voigt (Frankfurt)

    Einheit der Europäer fördert. Das ist dann nicht 1871, der Prozeß der Einigung von oben. Das ist nicht ein Prozeß der Einigung, der mit der Annexion von Elsaß-Lothringen und der Unterdrückung von Polen verbunden war.
    Das ist dann das Hambacher Fest von 1832, wo das erste Mal die Fahne der deutschen Demokratie schwarz-rot-gold gezeigt wurde, wo nicht nur die deutsche Fahne, sondern auch die französische und die polnische Fahne gezeigt wurde.

    (Beifall bei der SPD)

    Heute würde zusätzlich die Fahne Europas gezeigt werden.
    Das ist die Freiheit, die sich mit Einheit verbinden läßt, weil sie von unten erwächst, weil sie mit Selbstbestimmung und weil sie durch Interessenausgleich mit unseren Nachbarn in Ost und West verbunden ist. Mit einem solchen deutschen Einheitsstreben können sich Europäer in Ost und West identifizieren. Davor braucht niemand Angst zu haben. Alles andere wäre nationalistisch, aber nicht patriotisch.

    (Beifall bei der SPD)



Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Abgeordnete Bohl.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Friedrich Bohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die epochalen Umbrüche in Ost- und Mitteleuropa machen, so glaube ich, ganz besonders und eindrucksvoll deutlich, daß der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus auch den Bankrott der sozialistischen Idee insgesamt bedeutet.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Ereignisse dort sprechen für sich. Aber ich glaube hinzufügen zu können, daß der Sozialismus nicht nur in diesen Staaten zu Grabe getragen wird. Es ist ein weltweiter Prozeß, der sich vollzieht.

    (Zuruf von der SPD: Erzählen Sie das einmal Herrn Mitterrand!)

    Auch in westlichen Industriestaaten, in denen Sozialisten an der Regierung sind, wird eine marktwirtschaftliche Politik betrieben. Ich nenne Frankreich, ich nenne Spanien, und ich nenne auch das schöne Neuseeland. Was in diesen Ländern an freier Wirtschaftspolitik betrieben wird, triebe hierzulande die politische Linke zur Weißglut.
    Sogar der Außenminister von Vietnam hat vor kurzem für sein Land und seine Regierung erklärt: Wir stimmen jetzt alle überein, daß wir eine Marktwirtschaft brauchen. Vietnam — daran muß erinnert werden — war lange Zeit kommunistischer Frontstaat und vor allem Symbolstaat der westdeutschen Linken — Herr Voigt, Sie sollten zuhören — gegen den sogenannten Kapitalismus. Einige Vertreter von Ihnen sind ja damals für ein vereinigtes kommunistisches Vietnam auf die Straße gegangen. Das sind die gleichen Leute, die sich heute anscheinend vor einem vereinigten, freiheitlichen Deutschland fürchten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Und deshalb ist für diese sicherlich peinlich — und ich sage es noch einmal, es ist zu schön — , was der Außenminister sagte: Wir stimmen jetzt alle überein, daß wir eine Marktwirtschaft brauchen.
    Es ist so: Die soziale Marktwirtschaft ist eine freiheitliche Wirtschaftsordnung. Der Sozialismus bringt dagegen Daumenschrauben für die Freiheit. Überall, wo es ihn gab, hat sich herausgestellt: Letztlich ist Sozialismus nichts anderes als ein Synonym für Bevormundung und Mißwirtschaft.
    Da verwundert schon die Haltung der SPD in diesen Tagen. Willy Brandt sieht in den Revolutionen eine „Renaissance des demokratischen Sozialismus".

    (Beifall des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

    Und für Sie, Herr Vogel, ist demokratischer Sozialismus eine Leitidee, die an Bedeutung und Anziehungskraft gewinnen werde.

    (Beifall bei der SPD — Zander [SPD]: Können Sie was von lernen!)

    Hört! Hört! Wenn wir uns die SPD-Programmdiskussion anschauen, Herr Zander,

    (Zander [SPD]: Ich kann Sie nur ermuntern, das zu tun!)

    dann wissen wir, was sich die SPD unter dieser Leitidee vorstellt. Nach den Beschlüssen der Antragskommission für das Grundsatzprogramm soll es eine — hören Sie bitte zu — „gesamtgesellschaftliche Steuerung" der Wirtschaft geben. Der Staat soll Planungen zusammenführen und zu „übergreifenden Entwicklungsplänen" verbinden. Meine Damen und Herren, das sind nicht Modifikationen der sozialen Marktwirtschaft, nein das ist die Einführung von Elementen einer sozialistischen Planwirtschaft, die die SPD hier vorhat. Und dagegen werden wir zu Felde ziehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es gibt allerdings auch andere Stimmen bei der SPD. Annemarie Renger hat anläßlich des 30. Jahrestages der Verabschiedung des Godesberger Programms dazu aufgerufen, sicherzustellen, daß ideologische Voreingenommenheiten und doktrinäre Zwänge, die mit Godesberg aus dem SPD-Programm verabschiedet worden seien, nicht wieder Eingang in sozialdemokratische Perspektiven fänden.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    Und auch Klaus von Dohnanyi mahnte Sie ja jüngst im „Stern", übrigens auch ein sehr lesenswerter Artikel — —

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Aber nur der! Sonst nichts!)

    — Aber in diesem Fall müssen wir das zugeben.
    Er mahnte Sie von der SPD und sieht erfreulicherweise in „Privateigentum, Markt und Demokratie essentielle Bausteine jeder wissenschaftlichen technischen Gesellschaft" .
    Wir stimmen, meine Damen und Herren, Frau Renger und Herrn von Dohnanyi uneingeschränkt zu. Nur, Sie stehen im Widerspruch zu ihrer Partei. Das, was jetzt in der SPD beschlossen werden soll, sind doch genau die ideologischen Voreingenommenhei-



    Bohl
    ten und doktrinären Zwänge, die Frau Renger gerade verhindern will.
    Ich kann nur sagen: Schlingerkurs, Bürgerferne und Zerstrittenheit sind typisch für die SPD:
    Oskar Lafontaine will Benzin verteuern für den Umweltschutz. Anke Fuchs will das gleiche Geld für Sozialausgaben. Was gilt, meine Damen und Herren von der SPD?

    (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Ist doch geklärt worden, Herr Bohl!)

    Die Grundsatzprogrammkommission will mehr Marktwirtschaft. Von Oertzen, die Altsozialisten bei den Jungsozialisten und jetzt die Antragskommission wollen Plan statt Mark. Was gilt?

    (Zander [SPD]: Glänzende Rede zum Kanzlerhaushalt!)

    Da stellt sich doch die Frage: Wo bleiben Sie, Herr Vogel? Sie sind doch der Parteichef. Haben Sie auch eine Meinung, oder sind Sie in der Behandlung von Herrn Lafontaine vom Oberlehrertum zur antiautoritären Erziehung übergegangen? Regierungsfähigkeit werden Sie jedenfalls auf diese Weise nicht gewinnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, die „tageszeitung" , das Szeneblatt der Rot-Grünen, hat am 18. November dieses Jahres den Zusammenhang hergestellt, den die bundesdeutsche Linke zwischen Deutschlandpolitik und Sozialismus sieht. Sie schrieb:
    Die Eigenstaatlichkeit der DDR ist die Grundvoraussetzung für das demokratisch-sozialistische Experiment, das mit dem Aufbruch der letzten Wochen möglich geworden scheint.
    Deutschland soll also geteilt bleiben, damit die DDR als Labor für ein sozialistisches Experiment genutzt werden kann. Das ist es doch offensichtlich, was beabsichtigt wird.
    Und Walter Momper, Vorreiter für eine rot-grüne Politik, geht noch einen Schritt weiter. Zu einer Zeit, in der die Kommunistische Partei Italiens dabei ist, den Kommunismus aus ihrem Parteinamen zu streichen, in der die frühere Leitfigur des griechischen Kommunismus, Mikis Theodorakis, feststellt, daß der Kommunismus „zu sich selbst ,Auf Wiedersehen' ' " sagt, in der die Kommunistische Partei Ungarns sich sogar selbst auflöst, sagt Herr Momper: „Der Antikommunismus muß aus unseren Köpfen . " Dazu kommt kein Widerspruch von der SPD, sondern ein weiteres Bekenntnis zum Sozialismus à la Vogel.
    Meine Damen und Herren, ich glaube, der Wunsch der SPD ist klar. Sie will offenbar das jetzt in der DDR versuchen, was ihr in den 50er Jahren in der Bundesrepublik mißlungen ist.

    (Jung [Lörrach] [CDU/CSU]: So ist es!)

    Jetzt soll in der DDR ein sozialistisches Wirtschaftssystem, verbrämt als human, menschlich und freiheitlich, durchgesetzt werden, nachdem die SPD hier bei uns in der Bundesrepublik die Soziale Marktwirtschaft nicht hat verhindern können. Aber damit würde die SPD genau das verhindern, was die Menschen in
    der DDR am allerwichtigsten brauchen. Sie brauchen
    ein zweites Wirtschaftswunder. Darum geht es doch.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Dr. Rose [CDU/CSU]: Sie brauchen das erste! — Brück [SPD]: Dort wäre es das erste!)

    — Sehr richtig. Sie können rechnen. Es ist schon erfreulich, daß SPD-Kollegen die Grundrechenarten inzwischen beherrschen.
    Nachdem Neue Heimat und coop die besondere Leistungsfähigkeit der gemeinwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung in eindrucksvoller Weise nachgewiesen haben, sollte man solche politischen Probebohrungen in der DDR lieber unterlassen. Die Menschen in der DDR haben genug vom Sozialismus. Sie wissen, daß er genauso ist wie Trabi-Fahren: Es ist eng, es geht nur langsam voran, es stinkt und man ist froh, wenn man wieder aussteigen kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zander [SPD]: Das erinnert mich an Ihre Rede!)

    Stephan Hildsberg, der Sprecher der Sozialdemokratischen Partei — es wurde schon auf ihn hingewiesen — , sagte in der Tat: Wir sind für Soziale Marktwirtschaft. Nach Presseberichten vom 20. November — das wurde hier bestritten — ist das auf dem Landesparteitag der SPD von Nordrhein-Westfalen mit vereinzelten Pfiffen und eisigem Schweigen beantwortet worden.
    Ich meine, meine Damen und Herren, Sie sollten sich hier entscheiden. Ich kann Sie nur auffordern: Streichen Sie den Sozialismus ein für allemal aus Ihrem Programm

    (Horn [SPD]: Grimms Märchen!) und Ihren Köpfen.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wir, die CDU/CSU, haben klar Kurs gehalten. Unsere Politik war und ist es, die unserem Land Frieden, Freiheit, Wohlstand und jetzt auch die Chance zur Einheit gebracht hat. Die Ereignisse dieser Tage bestätigen das. Wir waren es, die für ein starkes Bündnis der freien Demokratien eingetreten sind, weil es unsere Sicherheit garantiert und eine unwiderstehliche Anziehungskraft für den Freiheitswillen der Menschen im Ostblock darstellt.
    Die Ratschläge der SPD in Sachen Sozialismus haben sich in jeder Beziehung als falsch erwiesen. Besonders bewußt ist mir das persönlich bei der Dankesrede des diesjährigen Trägers des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Václav Havel, geworden. Ich werde nicht vergessen wie er sagte — hören Sie bitte zu — :
    In meiner Heimat ist aus demselben Wort, also aus dem Wort „Sozialismus" , schon längst ein ganz gewöhnlicher Gummiknüppel geworden.
    Ich glaube, das spricht für sich. Ich will ergänzen, daß mich mehr noch als jede andere folgende Passage betroffen gemacht hat, die er sprach:
    Ich erinnere mich immer noch, wie zu Beginn der
    70er Jahre einige meiner westdeutschen Freunde
    und Kollegen mir auswichen aus Furcht, daß sie



    Bohl
    durch einen wie auch immer gearteten Kontakt zu mir, den die hiesige Regierung nicht gerade liebte, eben diese Regierung überflüssigerweise provozieren und damit die zerbrechlichen Fundamente der aufkeimenden Entspannung bedrohen könnten.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren von der SPD, fragen Sie sich eigentlich, ob Václav Havel nicht möglicherweise auch Mitglieder Ihrer Partei damit gemeint hat? Ich glaube, es wäre wirklich gut — Volker Rühe hat in seiner Rede im September darauf hingewiesen —, wenn Sie hier einen klaren Strich ziehen würden.
    Walter Momper hat kürzlich festgestellt, daß es „unter den Politikern auch viele Wendehälse" gebe. Aber das sei „kein DDR-typisches Phänomen". Ich weiß nicht, ob er darauf anspielte, daß er vor einigen Monaten noch strikt gegen jede Koalition mit der AL war, mit der er jetzt im Koalitionsbett liegt. Ich weiß nur eins: nach den Pirouetten, die Sie von der SPD in der letzten Zeit haben drehen müssen, sind Sie die wahre deutsche Wendehalspartei geworden.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, wir wissen, die Freiheit ist die Leitidee der Zukunft, nicht der Sozialismus, in welchem Gewand auch immer. Bringen Sie, wenn Sie die Kraft dazu haben, heute Ihre Partei auf den Kurs der Eigeninitiative, der Verantwortung und der Freiheit.
    Noch im August 1987, Frau Matthäus-Maier, haben Sie von der SPD mit der SED — man glaubt kaum, richtig zu lesen — folgendes vereinbart. „Sozialdemokraten und Kommunisten fühlen sich beide dem großen humanistischen Erbe Europas verpflichtet ... "

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    „... Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen."

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, meines Erachtens ist jetzt die Stunde, in der Sie von der SPD dieses Papier mit der SED endlich aufkündigen müssen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wer in einer solchen Zeit, in einer solchen Stunde an einem solchen Papier festhält, der hat sich wahrlich politisch selbst disqualifiziert und kann nicht mehr ernstgenommen werden. Denken Sie an Gorbatschow: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. "
    Vielen Dank.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)