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ID1115605300

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    Plenarprotokoll 11/156 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 156. Sitzung Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 11715A Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksache 11/5000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1993 (Drucksache 11/5001) Dr. Vogel SPD 11715B Rühe CDU/CSU 11723 D Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 11733 C Mischnick FDP 11736 C Dr. Kohl, Bundeskanzler 11739C Dr. Schmude SPD 11750A Lintner CDU/CSU 11754 B Frau Frieß GRÜNE 11756 C Hoppe FDP 11758C Büchler (Hof) SPD 11760B Dr. Knabe GRÜNE 11762 D Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . . 11763 C Kühbacher SPD 11765C Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMVg . . 11769A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 11772 B Dr. Rose CDU/CSU 11773 D Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister AA 11776D Dr. Hauchler SPD 11778C Wilz CDU/CSU 11781C Dr. Mechtersheimer GRÜNE 11783 B Frau Seiler-Albring FDP 11784 C Müntefering SPD 11786 D Pesch CDU/CSU 11788D Frau Teubner GRÜNE 11791C Dr. Hitschler FDP 11792 D Frau Hasselfeldt, Bundesminister BMBau . 11794B Conradi SPD 11797D Frau Odendahl SPD 11799C Frau Männle CDU/CSU 11803 A Wetzel GRÜNE 11804 D Neuhausen FDP 11806A Daweke CDU/CSU 11806D Möllemann, Bundesminister BMBW . . . 11807D Oostergetelo SPD 11810B Eigen CDU/CSU 11814 D Frau Flinner GRÜNE 11817 C Bredehorn FDP 11819 A Daubertshäuser SPD 11821 C Fischer (Hamburg) CDU/CSU 11824 A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 156. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 Frau Rock GRÜNE 11826 D Zywietz FDP 11828B Haar SPD 11831A Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von den Abgeordneten Susset, Michels, Eigen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Heinrich, Bredehorn und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen (MOG) (Drucksache 11/5124) 11821B Nächste Sitzung 11832D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . .11833* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 156. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 11715 156. Sitzung Bonn, den 5. September 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 07. 09. 89* Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 07. 09. 89 Büchner (Speyer) SPD 07. 09. 89* Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE 05. 09. 89 Eich GRÜNE 07.09.89 Frau Eid GRÜNE 07. 09. 89 * * * Frau Fischer CDU/CSU 07. 09. 89* * * Frau Garbe GRÜNE 05. 09. 89 Frau Geiger CDU/CSU 07. 09. 89* * * Genscher FDP 07.09.89 Haack (Extertal) SPD 05. 09. 89 Heimann SPD 05.09.89 Frau Hensel GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Holtz SPD 07. 09. 89* * * Frau Hürland-Büning CDU/CSU 07. 09. 89 Dr. Hüsch CDU/CSU 05. 09. 89 Hüser GRÜNE 05.09.89 Ibrügger SPD 05. 09. 89 * * Jaunich SPD 05.09.89 Klein (Dieburg) SPD 07. 09. 89 Dr. Klejdzinski SPD 07. 09. 89 * * * Dr. Kreile CDU/CSU 07. 09. 89 Kreuzeder GRÜNE 05.09.89 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 07. 09. 89 Frau Luuk SPD 07. 09. 89* * * Lüder FDP 07.09.89 Magin CDU/CSU 07.09.89 Meyer SPD 05.09.89 Dr. Müller CDU/CSU 07. 09. 89 * Frau Nickels GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Nöbel SPD 07. 09. 89 Poß SPD 05.09.89 Regenspurger CDU/CSU 07.09.89 Frau Saibold GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Scheer SPD 07. 09. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 07. 09. 89 Dr. Stercken CDU/CSU 07. 09. 89 * * * Stratmann GRÜNE 05.09.89 Such GRÜNE 05.09.89 Tietjen SPD 07.09.89 Vahlberg SPD 07.09.89 Frau Dr. Vollmer GRÜNE 05. 09. 89 Westphal SPD 07.09.89 Wolfgramm (Göttingen) FDP 07. 09. 89* * * Dr. Wulff CDU/CSU 07. 09. 89* * * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung * * * für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentarischen Union
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    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einbringung des Etats für das kommende Haushaltsjahr ist traditionell Gelegenheit, auf der einen Seite Rechenschaft abzulegen, auf der anderen Seite Kritik vorzutragen. Das entspricht einem wesentlichen Auftrag des Parlaments. Es ist gut, wenn das, was zu sagen ist — und zwar von allen Seiten — , in großer Offenheit und mit einer gewissen, in der Leidenschaft der Debatte durchaus verständlichen Härte gesagt wird. Das Parlament ist der zentrale Ort der politischen Auseinandersetzung. Das ist gut so.
    Wir haben dieser Tage in einer nachdenklichen Stunde auf ein zentrales Ereignis der deutschen und der Weltgeschichte, den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 50 Jahren, zurückgeblickt. Eine der Lehren, die wir daraus gezogen haben, ist die Erkenntnis, daß die parlamentarische Demokratie die einzige wirklich freiheitliche Staatsform ist. Zur parlamentarischen Demokratie gehört stets auch die Auseinandersetzung um den besten Weg für unser eigenes Volk und um den Beitrag, den wir in der Welt zu leisten haben.
    Der Abgeordnete Vogel hat mir — sozusagen als Kollege im Amt des Parteivorsitzenden — einige Ratschläge gegeben. Herr Abgeordneter, ich stimme Ihnen zu, daß wir alle Grund haben, die Entwicklung der Parteienlandschaft bei uns in der Bundesrepublik Deutschland — wenn ich es recht sehe, betrifft dieses Problem auch andere freiheitliche Demokratien auf unserem Kontinent — sehr sorgfältig zu beobachten. Keine der großen demokratischen Parteien, die in einer bedeutenden Tradition stehen, darf so selbstgefällig sein, sich in einer solchen Zeit des Wandels nicht immer wieder selbstkritisch zu fragen: Sind wir in unserer Partei, sind wir in unserer politischen Gemeinschaft auf dem richtigen Weg? Ich lehne es ab, dabei von „Altparteien" zu reden, wie es ja inzwischen zu einer gängigen Ausdrucksweise in der Bundesrepublik geworden ist.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Da haben Sie recht!)

    Diese sogenannten Altparteien — dieses Wort ist ja diffamierend gemeint — haben 40 Jahre Frieden und Freiheit in unserer Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, jede für sich und an ihrem Platz.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Aber die Väter und Mütter unserer Verfassung und die, die später im Lauf der Zeit die Wahlgesetze schu-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    fen und auch veränderten, haben beispielsweise die 5-%-Klausel nie als eine Festung begriffen, die nicht eingenommen werden kann. Ihre Position war bestimmt von den Erfahrungen der Geschichte, nicht zuletzt der Weimarer Zeit.
    Wir als Union — CDU und CSU — tragen in der 40jährigen Geschichte unserer Republik insgesamt 27 Jahre Regierungsverantwortung. Wir haben in diesen 27 Jahren Wesentliches und Entscheidendes für unseren Staat tun können. Wir haben großartige Beiträge geleistet, und wir haben auch Fehler gemacht.
    Da Sie ja auch selbst, Herr Abgeordneter Vogel, viele Jahre in der Regierungsverantwortung standen, wissen Sie, daß beides dazugehört — Erfolge und Fehler.
    Wir haben Wahlsiege gefeiert und Wahlniederlagen hinnehmen müssen. Es ist doch ganz natürlich, daß sich eine demokratische Partei mit einer so großen Tradition und einer so beachtlichen Verantwortung für das Ganze überlegt, wie ihr Weg in die Zukunft aussieht.
    Herr Kollege Vogel, ich brauche dabei keinen Nachhilfeunterricht als Parteivorsitzender. Wenn Sie einmal 16 Jahre die Sozialdemokratie geführt haben werden — so wie ich mittlerweile die CDU — , werden wir uns viel leichter verständigen können. Ihnen stehen noch viele Erfahrungen — und sicherlich auch Enttäuschungen — ins Haus, die ich bereits hinter mich gebracht habe.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Kollege Vogel, wenn Willy Brandt hier wäre oder Franz Josef Strauß es sein könnte — —

    (Zuruf von der SPD)

    — Ich versuche jetzt einmal, auf die nachdenkliche Tonart einzugehen, die Herr Vogel angeschlagen hat. Aber Ihr ganzer Beitrag dazu besteht darin, die Sache irgendwie lächerlich zu machen.

    (Widerspruch bei der SPD)

    Das können Sie machen. Ich fahre in dem Ton fort, den ich für richtig halte.

    (Dr. Vogel [SPD]: Denken Sie mal an Rühe!)

    Ich sage noch einmal: Wenn Willy Brandt hier wäre oder wenn Franz Josef Strauß noch hier sein könnte — sie würden beide bestätigen, was ich eben gesagt habe.
    Also, ich nehme gern Ihre Anteilnahme an der Entwicklung der CDU/CSU entgegen, aber seien Sie unbesorgt: Auch das, was in unserer Partei gelegentlich geschehen mag und geschieht, wird diese großartige Volkspartei, die — aus unserer Sicht — große Kraft der demokratischen Politik in Deutschland, nicht kaputtmachen können. Das war doch das, was Sie hier eingewandt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Zum zweiten: Herr Abgeordneter Vogel, wir sind in der Koalition einen schwierigen Weg gegangen, weil wir in den vergangenen Jahren vieles tun mußten, was Sie nicht getan haben, als es geboten war. Daraus ergaben sich für uns — ich komme noch darauf zu
    sprechen — notwendigerweise große Probleme. Zum Teil hatten die Wahlniederlagen, die wir erleben mußten, ihren Grund auch darin.
    Nur, Herr Abgeordneter Vogel: Wenn Sie über die Veränderung der parteipolitischen Landschaft reden, dann müssen Sie eben auch auf die sehr bemerkenswerte Entwicklung hinweisen, daß Sie bei Wahlen praktisch nichts dazugewonnen haben.

    (Dr. Vogel [SPD]: NRW, Schleswig-Holstein! — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Entschuldigung, Sie wissen doch so gut wie ich, daß Sie bundesweit nichts dazu gewonnen haben. Wir haben doch vor einigen Wochen — nach der Europawahl — nebeneinandergesessen, und Ihr Gesicht sprach Bände.

    (Dr. Vogel [SPD]: 1,2 Millionen Stimmen!) Darüber brauchen wir wirklich nicht zu reden.

    Die Frage, die uns gemeinsam interessieren muß, lautet, ob die normale demokratische Balance zwischen Regierung und Opposition — aus welchen Gründen auch immer — gestört ist. Darüber müssen wir nachdenken. Wir tun das für unsere Seite.
    Wir haben daraus für uns einen eindeutigen Schluß gezogen, den ich bei Ihnen völlig vermisse.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es!)

    Mein Freund Volker Rühe hat schon davon gesprochen.

    (Zuruf von der SPD: Republikaner!)

    — Ich würde an Ihrer Stelle die Republikaner nicht in den Mund nehmen. Sie haben in Ihrer Partei darüber nachgedacht, wie man die Republikaner fördern kann, um die Union zu schädigen. Das ist doch die Wahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wenn Sie von den Radikalen reden: Sie von der SPD haben sich doch nicht abgegrenzt. Herr Parteivorsitzender Vogel, was sagen Sie denn eigentlich dazu, daß der SPD-Landesvorsitzende in Hessen sich vor ein paar Tagen weigerte, klar und deutlich gegen die Zusammenarbeit mit Kommunisten einzutreten? Was ist eigentlich aus der deutschen Sozialdemokratie geworden?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Position der Union ist eindeutig: Wir lehnen jede Zusammenarbeit und jede Koalition mit den Radikalen von rechts und links ab. Wir haben unser Erbe nicht aufgegeben. Eine Zusammenarbeit mit Kommunisten, eine Zusammenarbeit mit den GRÜNEN, eine Zusammenarbeit mit den Republikanern oder der NPD kommt für uns nicht in Frage.

    (Beifall bei der der CDU/CSU und der FDP — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: München! — Dr. Vogel [SPD]: Wer hat denn in München die GRÜNEN gewählt?)

    Wer die Entwicklung der politischen Szene in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten zwölf Monaten verfolgt hat, der weiß doch, daß DIE GRÜNEN heute einen ungleich größeren Einfluß auf die SPD-Programmatik haben als je zuvor. Das ist doch wahr!



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Wenn Sie die Reden der Damen und Herren Abgeordneten aus dem Lager der GRÜNEN hier am Pult verfolgen, erkennen Sie: Das ist eine einzige Aufforderung — eine, wie ich zugebe, unerbetene Ermahnung an Sie — , sich noch weiter in eine bestimmte Richtung zu bewegen.
    Herr Abgeordneter Vogel, ob Sie es glauben oder nicht — Sie mögen ja die Illusion haben, es sei anders — : Damit geraten Sie auf einen Weg, an dessen Ende eine existentielle Veränderung der Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland stehen würde. Darüber werden wir uns mit Ihnen öffentlich auseinandersetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deswegen warten Sie getrost unseren Parteitag ab, warten Sie auch getrost die weitere Entwicklung ab. Wir haben genug Gelegenheit, uns in den vor uns liegenden 15 Monaten in Wahlkämpfen auseinanderzusetzen.

    (Zuruf von der SPD: Neuwahl in Niedersachsen!)

    — Ich kann Ihnen dazu nur folgendes sagen: Das, was der Kollege Albrecht tut, zeigt jedem, daß er aus unseren Beschlüssen klar und eindeutig die Konsequenzen gezogen hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Neuwahlen!)

    — Herr Abgeordneter Vogel, die Forderung nach Neuwahlen — das nehme ich Ihnen wirklich nicht übel — ist die normale Reaktion einer Opposition. Ich selbst habe das im alten Plenarsaal drüben oft genug gefordert — und ich weiß, wie wenig sinnvoll so etwas im Ergebnis ist. So ergeht es heute Ihnen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle
    — das ist in dieser Debatte deutlich geworden — sind in diesen Tagen durch die Bilder aus Ungarn aufgewühlt, wo Tausende unserer Landsleute aus der DDR versuchen, den Absprung in die Freiheit, in den Westen, zu finden. Einige unserer Landsleute befinden sich in unserer Vertretung in Ost-Berlin und in unserer Botschaft in Prag. Viele von ihnen sprechen offen aus, warum sie der DDR den Rücken kehren. Es ist der Wunsch nach persönlicher Meinungs- und Bewegungsfreiheit; es ist der verständliche Wunsch nach besseren Lebensbedingungen.
    Ich wende mich mit großer Entschiedenheit gegen jene Stammtischparolen, die auch in der Bundesrepublik umgehen und die besagen: Die kommen ja nur, weil es ihnen hier wirtschaftlich bessergeht. Meine Damen und Herren, diese Landsleute haben ein Recht darauf, daß sie einen Lebensstandard erarbeiten können, der dem unseren entspricht. Das gehört zu unserer Vorstellung von Freiheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist ganz selbstverständlich, daß jeder, der aus der DDR zu uns kommt, bei uns als Deutscher auf genommen wird. Wir weisen niemanden zurück. Jeder Deutsche aus der DDR hat alle Rechte und Pflichten, die sich aus dem Grundgesetz und aus unserer Rechtsordnung ergeben. Daran wird sich nach unserem Wunsch auch in Zukunft nichts ändern.
    Meine Damen und Herren von der SPD, Sie hatten eben in der Diskussion auf den Hinweis des Kollegen Rühe hin gefragt, wer denn aus Ihren Reihen zum Thema Staatsbürgerrecht solche Äußerungen getan habe. Ich verstehe die Zwischenfrage nicht, Herr Schmude. Die Dokumente sind eindeutig. Herr Lafontaine hat im November 1985 gesagt — ich zitiere ihn wörtlich — :
    Wenn man tatsächlich einen normalen Reiseverkehr will, dann muß man irgendwann in der Frage der Staatsbürgerschaft so entscheiden müssen, daß man eben die Staatsbürgerschaft anerkennt.
    Ich könnte Ihnen noch andere Belegstellen, beispielsweise von Herrn Momper und anderen, nennen. Meine Damen und Herren, es ist doch einfach die Wahrheit, daß Sie jahrelang im Blick auf die Geraer Forderungen zumindest so getan und mir persönlich auch entsprechende Vorhaltungen gemacht haben, daß wir in dieser Frage der DDR weiter entgegenkommen müßten. Das war doch immer wieder zu hören und zu lesen.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das stimmt nicht! — Dr. Vogel [SPD]: Das ist doch einfach nicht wahr!)

    — Sie haben uns doch angeraten, das zu tun. Lesen Sie doch einmal Ihre eigenen Reden nach! Ich sage Ihnen ganz einfach: Wären wir Ihnen gefolgt, dann hätten wir heute in dieser Frage eine ganz ungute Situation.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Abgeordneter Schmude, weil sie gleich nach mir sprechen, einfach die Frage: Was denken Sie eigentlich in dieser Situation — angesichts der Bilder aus Ungarn, angesichts der Gesprächserfahrungen, die Sie doch auch machen — über den Vorschlag — der doch nicht zuletzt von Ihnen immer wieder kam — , die Präambel unseres Grundgesetzes zu ändern?

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Gerade Herr Schmude!)

    Wer gibt uns eigentlich das Recht, so etwas zu sagen, wenn im gleichen Zeitpunkt Zehntausende unserer Landsleute aus der DDR den Weg in die Bundesrepublik suchen, wenn wir die Bilder aus Leipzig nach einem Gottesdienst sehen, wo gerufen wird „Wir wollen hier raus"?
    Das ist doch eine Abstimmung mit den Füßen. Ich sage das auch vor dem Forum der Weltöffentlichkeit. Es gibt doch niemanden in der Bundesrepublik, der Propaganda betreibt, damit möglichst viele von drüben hierherkommen. Das ist doch nicht unsere Politik
    — und darf es auch gar nicht sein. Nein, es ist eine Reaktion von vielen Menschen — wie viele es sind, wissen wir gar nicht —, die sich verbittert — und in vielen Fällen auch deprimiert — sagen: Überall bewegt sich etwas — nur bei uns nicht.
    Diese Leute zum Beispiel in Leipzig sehen im Fernsehen die Bilder aus Ungarn: die Rehabilitierung des



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    damals hingerichteten Ministerpräsidenten Nagy. Jetzt gilt das als Justizmord — was es natürlich schon immer war. Sie sehen die Bilder aus Polen: die Wahl eines Nichtkommunisten zum Ministerpräsidenten. Sie sehen die Bilder aus dem Baltikum. Sie hören von den Diskussionen über den Hitler-Stalin-Pakt. Es ist doch nur zu verständlich, daß sich die Menschen in einer solchen Situation sagen: Es kann doch nicht angehen, daß solche Entwicklungen an uns vorübergehen. Sie fordern ihr Recht, und wir stehen dazu, daß wir das Notwendige tun, um ihnen zu helfen.
    Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben sich getäuscht; denn in so vielen Gesprächen und Verhandlungen mit den führenden Leuten drüben in der DDR, in Ihren gemeinsamen Kommissionssitzungen haben Sie eben den Willen unserer Landsleute in der DDR zur Freiheit unterschätzt. Die wollen nicht derlei Kooperation; sie wollen ein Stück mehr Freiheit haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren von der SPD, Sie selber spüren doch, daß Sie von der deutschen Wirklichkeit eingeholt worden sind, daß die Dinge anders laufen. Es ist doch bei Ihnen immer wieder gefragt worden, ob es nicht altmodisch sei, geradezu erzkonservativ, von Deutschland zu reden. „Einigkeit und Recht und Freiheit" — das ist doch alles oft genug abwertend klassifiziert und entsprechend karikiert worden. Ihre Wunschpartner, DIE GRÜNEN, haben das ja am Freitag der vergangenen Woche — lesen Sie die Rede des Sprechers der GRÜNEN nach — noch einmal deutlich werden lassen.
    Ich sage Ihnen klipp und klar — ich tue das namens der Koalition aus FDP, CDU und CSU, aber lassen Sie mich das auch als Parteivorsitzender der CDU sagen — : Wir werden unseren deutschlandpolitischen Kurs unbeirrt fortsetzen, weil er den Menschen dient, nicht irgendeiner Ideologie.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir werden ungeachtet irgendwelcher demoskopischen Daten alles tun, um die Eingliederung unserer Landsleute hier bestmöglich voranzubringen, um das Leben für sie zu erleichtern.

    (Zuruf von der SPD: Hoffentlich!)

    Wenn wir das sagen, heißt das: Wir respektieren die Entscheidung jedes einzelnen. Ich bitte sehr, daß hier kein Mißverständnis entsteht. Wenn ich sage, wir respektieren die Entscheidung jedes einzelnen, dann heißt das auch — das muß ebenfalls ausgesprochen werden — : Es kann nicht das Ziel einer vernünftigen Deutschlandpolitik sein, möglichst viele aus der DDR aufzufordern, hierherzukommen.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Richtig! Sehr gut!)

    Die Probleme der DDR sind nicht hier in Bonn zu lösen; sie müssen in der DDR gelöst werden, in Leipzig, in Dresden und anderswo.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Bei allem, was wir tun, haben wir eine besondere Verpflichtung gegenüber jenen, die aus Gründen, die
    ich selbstverständlich respektiere, drüben bleiben wollen, mit ihren Kindern und mit ihrer Familie — die aber natürlich auch auf ein besseres Leben drüben in der DDR hoffen. Sie wollen eine Zukunft in persönlicher Freiheit und mit einem gerechten Anteil am Erfolg ihrer Arbeit. Das ist nicht von politischer Selbstbestimmung zu trennen. Die Diskussion um Perestroika, die Diskussion um Öffnung und Veränderung der Gesellschaft in der Sowjetunion, hat deutlich gemacht, daß eine Verbesserung der ökonomischen Situation ohne eine gleichzeitige Verbesserung im Bereich der Freiheitsrechte einfach nicht denkbar ist. Es ist eine blanke Illusion, zu glauben, man könne das eine vom anderen trennen.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Ja!)

    Deswegen hoffe ich — wir wollen alles tun, was wir dazu beitragen können — , daß sich ein solcher Prozeß einer Öffnung und zum Wohle unserer Landsleute in der DDR vollzieht. Das muß ein Axiom unserer Politik bleiben.
    Die Bundesregierung ist ebenso entschlossen, in ihrer bisherigen Politik der praktischen Zusammenarbeit mit der DDR im Interesse der Menschen auf beiden Seiten fortzufahren.
    Ich höre gelegentlich Stimmen, die jetzt nach Sanktionen rufen. Ich werde nichts tun — ich sage dies mit Bedacht —, was das Schicksal der Betroffenen drüben in der DDR verschlechtert.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr gut!)

    Was wir heute — trotz der bedrückenden Situation in der DDR — für den Umweltschutz tun, hilft den Menschen in der DDR.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Was wir zur Verbesserung der Verkehrssituation tun, hilft den Menschen drüben. Unser Interesse muß sein — das war von Anbeginn das Ziel meiner Politik als Regierungschef — , den Menschen in Deutschland zu helfen. Wir versuchen im Rahmen unserer Möglichkeiten alles, um die DDR in die Lage zu versetzen, diesen Weg der Öffnung endlich zu beschreiten.
    Meine Damen und Herren, das was im Zusammenhang mit der DDR zu sagen ist, bringt uns zu dem Thema Ungarn und zu den Bildern, die gegenwärtig aus Ungarn kommen. Ich glaube, es wäre gut, wenn von allen Seiten des Hohen Hauses deutlich gemacht würde, wie sehr wir — Bundesregierung und Bundestag — die Hilfe und die Unterstützung, die wir von dort erfahren, zu schätzen wissen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, es steht außer Frage, daß wir ohne dieses Entgegenkommen in den letzten Wochen ungleich größere Schwierigkeiten — und die Schwierigkeiten sind groß genug — gehabt hätten.
    Wenn man sich vorstellt — ich will es nur andeuten; Sie alle wissen das — , welch eine Gratwanderung dies für den ungarischen Ministerpräsidenten, für den ungarischen Außenminister und für die ungarische Regierung bedeutet — gerade auch angesichts des Reformprozesses in Ungarn: denken Sie nur an den



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    bevorstehenden Parteitag — dann kann ich nur sagen: Wir wollen ihnen herzlich dafür danken, daß sie uns und unseren Landsleuten dabei geholfen haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Das gilt auch für alle anderen Stellen, die hier angesprochen werden müssen: für das Internationale Rote Kreuz und nicht zuletzt auch für unsere österreichischen Nachbarn.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Ich finde es großartig, was die Wiener Regierung, aber auch viele einzelne im Burgenland aus privater Initiative heraus getan haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, ich will es nur noch mit einem Satz erwähnen: Die Entwicklung der letzten Wochen hat deutlich gemacht, daß die deutsche Frage auf der Tagesordnung der Weltpolitik geblieben ist, daß sie eben nicht auf die Müllkippe der Geschichte kam, daß der Wille der Deutschen zur Einheit in Freiheit ungebrochen ist.
    Was die Lösung der deutschen Frage angeht, so sind nicht die Deutschen allein gefordert. In dem vor uns liegenden Zeitraum werden sich viele ihre Überlegungen machen müssen, nicht zuletzt auch die Verantwortlichen auf seiten der drei Westmächte, die ich hier ganz bewußt anspreche. Das Verhältnis der beiden Staaten in Deutschland zueinander ist ein wesentliches Element der Stabilität in Europa. Angesichts mancher Stimmen kann ich nur warnend sagen: Wer diese Stabilität gefährdet, muß wissen, welche Folgen dies für alle Beteiligten hätte.
    In der gemeinsamen Erklärung, die Generalsekretär Gorbatschow und ich im Juni hier in Bonn unterzeichnet haben, sprachen wir — ich zitiere — „von der vorrangigen Aufgabe" unserer Politik, „zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen" . Die Lage heute zeigt die Dringlichkeit dieser Aufgabe. Wir werden in diesem Sinne unsere Beziehungen konsequent weiter pflegen, wir werden die Beziehungen zu unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn, wo immer möglich, ausbauen. Dabei steht für uns das Verhältnis zur Sowjetunion im Mittelpunkt der Bemühungen.
    Für alle Staaten des Warschauer Pakts gilt: Je entschlossener diese Staaten den Weg der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen gehen, je mehr sie sich nach innen und nach außen öffnen, desto größere Möglichkeiten und Chancen eröffnen sich für eine Zusammenarbeit mit uns. Das ist die Grundlage, von der wir ausgehen müssen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, das gilt in einer besonderen Weise für unserer Verhältnis zu Polen. Das Verhältnis zu Polen ist ein historisch belastetes Verhältnis. Wer einigermaßen gerecht die Entwicklung dieses Verhältnisses betrachtet, der darf nicht erst 1945 oder 1939 ansetzen, so elementar diese Daten sind; er
    muß weit zurückschauen — in das 19. Jahrhundert und in die Zeit davor.
    Die Nachrichten, die jetzt aus Warschau zu uns kommen, hätte noch vor zwölf Monaten niemand für möglich gehalten. Mit der Wahl eines Ministerpräsidenten aus den Reihen der Opposition hat das Parlament dort deutlich gemacht, daß es den Weg zur Demokratie konsequent weitergehen will. Was wir jetzt in unseren Verhandlungen mit Polen zu tun haben, hat zwei Komponenten, die gleichermaßen gesehen werden müssen: Zum einen geht es uns darum, zwischen Deutschen und Polen den überfälligen Schritt zu einer dauerhaften Aussöhnung zu machen; zum anderen auch — das geht weit über unsere bilateralen Beziehungen hinaus — bietet Polen das Beispiel für den großen Versuch, aus einem kommunistischen Regime eine freiheitliche Demokratie zu formen. Dies erlegt uns eine zusätzliche Verantwortung bei unseren Gesprächen und Entscheidungen auf.

    (Dr. Vogel [SPD]: Ja!)

    Deswegen ist es so wichtig, meine Damen und Herren, daß wir bei dem, was jetzt zu tun ist, alles daransetzen zu verhindern, daß es einen Rückschlag gibt. Wir haben in den 70er Jahren, in der Amtszeit meines Vorgängers, einen Versuch gemacht, über den heute schon gesprochen wurde. Er endete mit einem Rückschlag. Wer mich jeden Tag drängt, dies oder jenes zu tun, der muß bedenken: Mir geht es jetzt vor allem darum, daß das, was wir tun, sorgfältigst vorbereitet ist. Wir dürfen uns keinen neuen Rückschlag erlauben!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Lage ist so — was ich hier sage, entspricht übrigens völlig dem, was ich mit dem polnischen Ministerpräsidenten dieser Tage besprochen habe — : Ich gehe davon aus, daß die künftige polnische Regierung — die Ressorts sind noch gar nicht besetzt — in kurzer Zeit — ich denke, in den nächsten 14 Tagen — im Amt sein wird. Wir wollen dann — das ist auch so verabredet — die unterbrochenen Verhandlungen sofort wieder aufnehmen. Mein Ziel ist, daß wir schnellstmöglich — auf unserer Seite wird es keinen zeitlichen Verzug geben — zu einem Abschluß kommen. Ich möchte erst danach nach Warschau reisen, weil ich es für unmöglich halte, in Warschau selbst die Verhandlungen zu Ende zu führen. Sie müssen vorher zu Ende geführt sein. Es muß klare Absprachen geben. Für jedermann muß deutlich werden, daß wir einen neuen Anfang machen. Deswegen ist es notwendig, gemeinsam ein Gesamtpaket von Maßnahmen zu schnüren.
    Ich habe auf dem Pariser Weltwirtschaftsgipfel nachdrücklich um Unterstützung vor allem für Polen und für Ungarn geworben, wie ich es schon in den Jahren davor getan hatte. Es waren unsere Anregungen, die zu dem Beschluß führten, die EG mit in die Unterstützungsmaßnahmen einzubeziehen. Mit einem Wort — ich sage das ohne Pathos — : Wir müssen jetzt die geschichtliche Chance nutzen. Die Polen brauchen jetzt nicht gute Worte, sondern schlicht handfeste Unterstützung.

    (Zuruf von der SPD: Und keine Grenzdiskussion!)




    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Wir müssen alles tun, daß nicht nur wir, sondern möglichst viele in Europa erkennen, worum es bei der Entwicklung in Warschau letztlich geht.
    Meine Damen und Herren, wir werden alles tun, um die positive Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses zu fördern. Wir wissen, daß ein Vordringen der Reformkräfte in Staaten des Warschauer Pakts von entscheidender Bedeutung für eine friedliche Zukunft unseres Kontinents und der Welt ist. Wir sind Zeugen eines historischen Umbruchs in Europa mit vielen Chancen, aber auch mit Risiken. Deswegen ist es wichtig, daß wir auch in dieser Zeit die Handlungsfähigkeit des Atlantischen Bündnisses als Voraussetzung von Frieden und Freiheit für unser Land erhalten.
    Es ist einfach nicht wahr, daß wir in den Abrüstungsverhandlungen bereits an einem Punkt angelangt sind, bei dem man ohne weiteres sagen kann: Die Freiheit gibt es jetzt zum Nulltarif. Keine Spur davon! Denn nicht die Sehnsucht nach Frieden, meine Damen und Herren, sichert schon eine friedliche Zukunft, sondern in erster Linie sind es die Anstrengungen, die wir unternehmen, um Frieden und Freiheit zu bewahren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich stimme Ihnen zu, Herr Abgeordneter Vogel, daß es heute mehr Grund zum Optimismus gibt als in all den Jahren zuvor. Das ist wahr. Aber Optimismus allein genügt nicht. Wir müssen das Menschenmögliche tun, um wirklich voranzukommen, beispielsweise in Wien bei Abrüstung und Rüstungskontrolle. Hier gibt es gegenwärtig vieles, was einen optimistisch stimmen kann. Die westlichen Vorschläge haben die Verhandlungen seit deren Beginn vor sechs Monaten geprägt. Die Initiativen von Präsident Bush auf dem NATO-Gipfel haben wesentlich dazu beigetragen.
    Wenn ich jetzt die Entwicklung betrachte und mich auch an die Debatte erinnere, die wir hier im Bundestag hatten, dann glaube ich, daß sich die knappen Zeitspannen, die Präsident Bush genannt hat — sie wurden damals weitgehend als unrealistisch bezeichnet — , heute doch als ganz realistisch erweisen könnten. Das liegt auch daran — dies muß man ebenfalls anerkennen — , daß auch die sowjetische Seite Bewegung gezeigt hat, die ebenfalls vor ein paar Monaten so nicht denkbar war.
    Ich bin sicher, daß das Gesamtkonzept der NATO jetzt eine gute Chance hat. Da wir ja nicht nur auf die zwölf Monate vor uns blicken, sondern auch auf die vergangenen zwölf Monate zurückschauen, darf hier immerhin angemerkt werden, daß sich alle Unkenrufe vor dem NATO-Gipfeltreffen im Frühjahr dieses Jahres in Nichts aufgelöst haben. Unsere Position hat sich bewährt, und wir haben eine gute Chance, auf diesem Feld weiter voranzukommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, der Kollege Mischnik hat soeben in seiner Rede auf den doch erstaunlichen Sachverhalt hingewiesen, daß der Führer der Opposition, der Vorsitzende der SPD, in seiner Hauptrede auf
    wirtschaftliche Sachverhalte überhaupt nicht zu sprechen kam.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das kommt morgen noch!)

    — Ja, ich glaube ja, daß Sie morgen darauf zu sprechen kommen.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

    Aber wenn ich mir die Reden vor Augen führe, die der
    Kollege Vogel in den letzten zwei Jahren gehalten hat
    — Herr Kollege Vogel, dieses Horrorgemälde vom Zusammenbruch etwa nach dem Dollarcrash; erinnern Sie sich —, dann sah man förmlich die Kolonnen der Hungernden durch die Straßen der Bundesrepublik Deutschland ziehen.

    (Dr. Vogel [SPD]: Na, na!)

    Es war doch alles darin, was überhaupt denkbar war: Massenarbeitslosigkeit, die blanke Not stand hier im Saal.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Nicht so überheblich, Herr Bundeskanzler! — Zurufe von der CDU/CSU)

    — Ja, ja, verehrte Frau Kollegin, die Arbeitgeber, die nach Gießen kommen und die Menschen dort fragen: „Könnt ihr nicht zu mir kommen und bei mir arbeiten?", widerlegen Ihre These von der Massenarbeitslosigkeit zu einem großen Teil.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich weiß ja, meine Damen und Herren, daß es in der deutschen Gegenwart Mode ist, vor allem auch in großen Teilen der veröffentlichten Meinung, unfein ist, auf Erfolge hinzuweisen, daß Erfolge, wenn sie eintreten, totgeschwiegen werden und daß, wenn auch das nicht möglich ist, alle dran „schuld" sind.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das passiert bei Ihnen nie!)

    Da ich aber seit vielen Jahren gewohnt bin, immer der Schuldige zu sein, wenn etwas schlecht läuft, will ich auch einmal als am Positiven „Schuldiger" etwas sagen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Abgeordneter Vogel, können Sie sich vorstellen, was Sie gesagt hätten, wenn Sie so ein Zertifikat hier hätten vorlegen können:
    Die guten Ergebnisse, die die deutsche Wirtschaft seit Mitte 1987 vorzuweisen hat, haben die Erwartungen weit übertroffen. Angesichts der derzeit günstigen Aussichten ... scheinen der allgemeine Kurs der Wirtschaftspolitik wie auch die ökonomischen Maßnahmen angemessen.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Obwohl Sie regieren!)

    Das ist das Urteil der OECD.
    Meine Damen und Herren, seien Sie doch froh, daß es bei uns so gut geht ... ;

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Jawohl! — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Besser, wenn ihr weg seid!)




    Bundeskanzler Dr. Kohl
    ... das ist doch das Beste, was uns passieren kann. Was haben Sie uns alles für Ratschläge gegeben! Alles war falsch, was Sie empfohlen haben. Und dann haben Sie noch in die Schublade gegriffen und unsere Politik mit bestimmten, aus Ihrer Sicht abwertenden Stempeln versehen. Sie haben gesagt: Das ist Reaganomics. Und einige in der deutschen Wirtschaft haben das ganz falsch verstanden und es für hervorragend gehalten, wenn wir Reaganomics betreiben.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So dumm sind die auch nicht!)

    Ich meine der Umdenkungsprozeß findet ja nicht nur bei Ihnen statt — bloß sagen Sie es nicht laut —; eigentlich müßte er auch in vielen Couloirs der Vorstände deutscher Unternehmen vonstatten gehen, denn der Standort Bundesrepublik Deutschland ist nicht zusammengebrochen. Er ist in den letzen Jahren immer besser geworden. Auch das gehört ins Gesamtbild.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, können Sie sich vorstellen, was jetzt hier im Bundestag passieren würde, wenn Helmut Schmidt noch Bundeskanzler wäre und lapidar sagen könnte "Nach sieben Aufschwungjahren haben wir inzwischen einen Stand der Konjunktur erreicht, der demjenigen aus dem sprichwörtlichen Bilderbuch entspricht' ? Er würde lange Wasser trinken, der Beifallsorkan nähme kein Ende, und, meine Damen und Herren, eine — —

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Rote Rosen würden sie ihm bringen!)

    — Wenn Herbert Wehner noch da wäre, würde er rote Rosen bringen. Das würde auch ich sagen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    In diesen Tagen .. .

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sie kriegen keine Blumen, Herr Bundeskanzler!)

    — aber, gnädige Frau, von Ihnen würde ich auch rote Rosen nehmen; warum denn nicht? —

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    ... hat dann Herr Pöhl, ein weiterer ganz unverdächtiger Zeuge, beiläufig darauf hingewiesen, daß er es für möglich hält, daß die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts bei 4% liegen wird. Wenn man das nun im internationalen Vergleich betrachtet, dann kann man in der Sprache unserer Jugend nur sagen: Wir sind Spitze. — Wir sind Spitze, meine Damen und Herren. Es gibt gar keine andere Bezeichnung dafür.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Abgeordneter Vogel, natürlich haben die allermeisten Bürger unseres Landes teil an dieser Verbesserung der Lage. Das hat greifbare Konsequenzen für die Entwicklung der Einkommen, und zwar in allen Einkommensgruppen. Die Arbeitnehmerhaushalte mit mittlerem Einkommen haben zwischen 1983 und 1988 mit plus 13,2 % deutlich besser abgeschnitten als die Bezieher höherer Einkommen. Was Sie da immer als Sozialneid unter die Leute bringen, das hat doch
    gar keinen realen Hintergrund, das ist doch einfach nicht wahr!
    Während in dem Fünfjahreszeitraum 1978 bis 1983
    — und das sind doch Zahlen, die Sie nicht bestreiten können — die Rentner einen realen Einkommensverlust von 3,2 % hatten, stiegen die Renten im Zeitraum 1983 bis 1988 real um 6,6 %. Das ist eine Tatsache. Gleiches gilt auch für die Sozialhilfebezieher: Zwischen 1979 und 1983 gingen deren Einkünfte real um 5,3 % zurück. In den letzten fünf Jahren gab es dagegen — nach Abzug der Preissteigerung — eine Steigerungsrate von über 12 %.
    Meine Damen und Herren, wenn ich dies sage, weiß ich, daß das statistische Werte sind. Sie besagen etwas über die große Mehrheit der Bürger in unserem Land. Ich weiß natürlich, daß es in diesem Land des Wohlstands sehr wohl auch Bürgerinnen und Bürger gibt, die auf der Schattenseite dieser Gesellschaft leben, und daß man darüber nachdenken muß: Was können wir tun, um auch in diesen Bereichen — wie es die Moral unserer Republik einfach gebietet — Hilfe zu geben, in vielen Fällen auch Hilfe zur Selbsthilfe?
    Meine Damen und Herren, es ist auch wahr — das ist für die Zukunft von allergrößter Bedeutung — , daß die Gesamtentwicklung dazu geführt hat, daß wir eine Investitionstätigkeit haben, wie sie seit zwanzig Jahren nicht mehr erreicht worden ist. Die Investitionen von jetzt sind, nicht zuletzt im Blick auf die Europäische Gemeinschaft, die Arbeitsplätze von morgen und übermorgen. Hier wird für die Lebenschancen der jungen Generation in den 90er Jahren das Fundament gelegt. Wir wissen aus Erfahrungen, daß eine solche nachhaltige Investitionsdynamik die beste und sicherste Zukunftssicherung ist.
    Ich will schon hier ein Wort zu einem Thema sagen, das heute in der Debatte — wie ich finde: zu Recht — eine große Rolle gespielt hat und auch spielen muß: Wie schaffen wir die Verbindung zwischen Ökonomie und Ökologie? Wie kann das, was für die Zukunft notwendig ist, bezahlt werden?
    Wir haben immerhin 1,2 Millionen neue Arbeitsplätze. Seit dem Tiefpunkt von 1983 ist die Entwicklung überdeutlich. Die Bundesbank — ich zitiere wieder — sagt ganz einfach: Mit 27,6 Millionen Arbeitsplätzen haben wir den bisher höchsten Beschäftigungsstand in der Geschichte unserer Bundesrepublik erreicht. Das ist ein Ergebnis, das Beachtung verdient.
    Herr Abgeordneter Vogel, ich denke gar nicht daran, zu sagen: Das ist alles das Werk dieser Regierung. — Da haben viele mitgewirkt: alle, die arbeiten, die Arbeitnehmerschaft genauso wie die Leute im Unternehmerbereich und die Gewerkschaften. Alles in allem vernünftige Tarifentwicklungen gehören in diesen Bereich hinein. Die Arbeitslosenzahl geht zurück. Es hieß immer: Sie steigt. Horrorzahlen sind genannt worden. Im August sind wir jetzt im vierten Monat hintereinander unter der Zweimillionengrenze.

    (Zuruf von der SPD: Statistisch!)

    — Sie glauben doch nicht im Ernst, daß es hier einfach um Statistik geht. Sie wissen so gut wie ich, wenn wir



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    schon über Statistik reden, daß große Zweifel bestehen, ob die Statistik die vorgelegt wird, stimmt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Aussichten für die weitere Verbesserung des Arbeitsmarkts sind unübersehbar. Aber — auch das gehört zum Bild — trotz dieser positiven Entwicklung haben wir, etwa im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, Daten, die zur Besorgnis Anlaß geben. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD — lassen Sie ganz ruhig darüber sprechen; in Ihren politischen Reihen sind viele der wichtigsten Repräsentanten der deutschen Gewerkschaftsbewegung — , mit den Gewerkschaften reden — wir tun das auch — , dann werden Sie von denen die gleiche Sorge hören, die auch wir haben, die wir gemeinsam haben, denke ich: Was geschieht in den 90er Jahren mit denen — das ist der Sockel der Langzeitarbeitslosen — , die den steigenden Anforderungen im beruflichen Alltag nicht mehr entsprechen, die der geforderten Qualifikation nicht mehr entsprechen, deren Situation vielleicht auch so sein mag, daß sie schwer zu qualifizieren sind? Ich will es einmal so umschreiben. Das ist in Tat und Wahrheit das eigentliche Problem, vor dem wir stehen.
    Wenn wir jetzt mit 1,75 Milliarden DM im Haushalt Entsprechendes getan haben, mit Lohnkostenzuschüssen bis zu 80 % in diesem Bereich, sind wir an dieses Gebiet herangegangen. Ich bin völlig offen für Gespräche, beispielsweise mit den Gewerkschaften und den Arbeitgebern, um dieses spezielle Thema der Langzeitarbeitslosigkeit fernab jeder Polemik zu erörtern. Wenn wir uns morgen mit der Führung der Gewerkschaften und der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände treffen, ist es genau unser Ziel, auszuloten, was man in diesem Feld tun kann. Dabei geht es beispielsweise auch um die absolut nicht akzeptable Situation im Blick auf Teilzeitarbeitsplätze vor allem für Frauen. Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, daß unser Nachbarland Niederlande mit einer vergleichbaren Gesellschaftsstruktur 22 % Teilzeitarbeitsplätze anbietet und wir knapp über 12 %. Hier ist noch vieles zu tun, obwohl die Gesetzgebung da ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, daß selbst in Ballungsräumen der Bundesrepublik, wo wir de facto Vollbeschäftigung haben — Sie kennen diese Regionen — , ein 55-, 53jähriger Arbeitnehmer als zu alt gilt, weil sich inzwischen eine absurde Vorstellung der Einteilung der Lebensabschnitte in unserer Gesellschaft ausgebreitet hat.
    Deshalb, meine Damen und Herren, ist es sehr wohl richtig, daß wir — Staat und Politik, Gewerkschaften und Unternehmer — ungeachtet der notwendigen Auseinandersetzung im Parteipolitischen in diesen Fragen, wo es wirklich um die Betroffenen und ihr Schicksal geht, jetzt versuchen wollen, an einen gemeinsamen Tisch zu kommen. Es wäre auch aus einem anderen Grund ganz wichtig, daß wir in diesen Fragen jetzt schnell handeln: weil wir für die Aus- und Übersiedler aus der Sowjetunion, aus Rumänien, aus Polen und natürlich für die aus der DDR die entsprechenden Konsequenzen ziehen müssen. Ich bitte alle, dabei mitzuhelfen, gegenüber jener Feindseligkeit,
    die bezüglich der Aussiedler und Übersiedler gelegentlich im Lande anzutreffen ist, Front zu machen.
    Meine Damen und Herren, wer einmal — viele von Ihnen haben das ebenso wie ich getan — mit einer Familie gesprochen hat, die jetzt aus Rumänien zu uns kommt — Menschen aus Jahrgängen, denen ich angehöre — , und sich vorstellt, was diese Menschen in den letzten 40, 50 Jahren mitmachen mußten, nur weil sie Deutsche sind, der muß sich beschämt fragen, wohin viele in der Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, wenn sie sich in dieser Frage als so herzlos und hart erweisen.

    (Beifall bei CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

    Ich sage das Folgende auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden; aber ich finde, das Argument muß auch einmal auf den Tisch. Es geht zwar primär um die moralische Pflicht, den Aussiedlern zu helfen. Aber wenn wir klug sind und die Lage unseres Landes und der Bevölkerung bis hin zur demographischen Situation betrachten, dann sollte manch einer, der sich jetzt so herzlos äußert, bedenken, daß die Kinder der jetzt zu uns kommenden Aussiedler später seine Rente erarbeiten werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Ich habe in diesen Tagen eine sehr bemerkenswerte Äußerung von Rudolf Kolb, dem Geschäftsführer des Verbandes der Rentenversicherungsträger, gelesen. Ich möchte sie zitieren:
    Nach nunmehr vorliegenden detaillierten Modellrechnungen des Verbandes deutscher Rentenversicherungsträger werden — unter den dort getroffenen Annahmen — die Aussiedler bereits ab 1995 die Rentenfinanzen entlasten ... Sie würden dann wegen ihrer im Verhältnis zur bundesdeutschen Wohnbevölkerung günstigen Altersstruktur die Rentenfinanzen bereits im Zeitraum bis zum Jahr 2000 um rund 3,6 Milliarden DM entlasten.
    Ich finde, das ist ein Argument der Vernunft, das viele berücksichtigen sollten.
    Wir haben mit dem Zuzug von Aussiedlern natürlich auch enorme Probleme. Als eines von vielen nenne ich den Wohnungsmarkt. Dabei müssen wir einfach erkennen, daß nicht nur die Zahl der Aussiedler und Übersiedler, die zu uns kommen, sondern auch eine völlige Veränderung der Lebensgewohnheiten den Wohnungsmarkt von Grund auf verändert hat. Die Tatsache, daß junge Leute zu einem relativ frühen Zeitpunkt von zu Hause ausziehen, ist inzwischen für viele Familien völlig selbstverständlich geworden. Das alles hat seine Auswirkungen.
    Wir versuchen, dem Rechnung zu tragen. Erste Erfolge sind spürbar. Die Zahl der Baugenehmigungen für Mietwohnungen hat mit einer Steigerung von mehr als 50 % gegenüber dem Vorjahr eine Rekordzuwachsrate erreicht.
    Wolfgang Mischnick hat eben ein wichtiges Argument angesprochen. Es nützt uns überhaupt nichts, meine Damen und Herren, wenn die notwendigen Mittel bereitgestellt werden, während in der Bürokra-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    tie vor Ort — es gibt viele solcher Beispiele — das Thema in einer Weise behandelt wird, wie es in der großen Aufbruchsituation des Wohnungsbaus in der Bundesrepublik in den frühen 50er Jahren unmöglich gewesen wäre.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir haben mit der Verkürzung der Abschreibungsdauer für Mietwohnungen die Bedingungen für private Bauherren verbessert. Wir haben beschlossen, den Bau preiswerter Wohnungen für einkommensschwache Haushalte zu verstärken. Die Mittel — der Bundesfinanzminister hat es gestern eingehend dargelegt; ich kann es mit einem Satz bewenden lassen — sind wesentlich erhöht worden. Wir streben für das Jahr 1990 den Bau von insgesamt rund 300 000 Wohnungen an, darunter rund 100 000 Sozialwohnungen.
    Meine Damen und Herren, ich sage das Folgende auf einen Zwischenruf von Ihrer Seite hin. Ich bin davon überzeugt, daß die anstehenden Probleme auf dem Wohnungsmarkt weder allein über den freien Markt noch allein mit Hilfe des sozialen Wohnungsbaus gelöst werden können. Beides gehört zusammen. Das sollte die Konsequenz sein, die wir in dieser Hinsicht ziehen.
    Meine Damen und Herren, die sehr guten Wirtschaftsdaten hängen auch mit der Verflechtung der deutschen Volkswirtschaft mit dem Ausland und mit den Weltmärkten zusammen, die sich in einer guten Weise entwickeln konnten. Unbestreitbar ist, daß die jeweilige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik darüber entscheidet, ob Wachstum und Beschäftigung nur für kurze Zeit erreicht werden oder ob es zu einer langfristigen Entwicklung kommt. Wir haben das Menschenmögliche getan, um mit Blick auf eine langfristige Sicherung unsere Gesellschaft auf die 90er Jahre und die Zeit danach vorzubereiten.
    Herr Kollege Vogel, ein Grund dafür, daß wir uns beim Fitmachen unserer Republik schwergetan haben, lag darin, daß wegen früherer Versäumnisse einschneidende Maßnahmen und Reformen notwendig waren. Ich räume ein, daß wir in der Kürze der Zeit und der Dringlichkeit mancher Entscheidungen auch Fehler gemacht haben. Ich muß akzeptieren, daß Sie als Oppositionsführer uns diese Fehler auch vorhalten. Ich muß dafür geradestehen, und ich tue es selbstverständlich.
    Aber wir haben diese Reformen in Angriff genommen, um Zukunft zu sichern. Und ich finde schon, daß es in diese Debatte gehört, daß seitens der Opposition auch ein klärendes Wort zu den vielen Vorwürfen etwa in bezug auf die Gesundheitsreform gesagt wird, zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung und zu allem, was damit zusammenhängt.
    Norbert Blüm hat viel Prügel einstecken müssen; ich natürlich mit ihm. Das gehört zum Amt des Regierungschefs. Aber Sie sollten doch hier einmal ans Pult gehen und zugeben: Nach rasanten Steigerungen in den letzten Jahren blieben die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 1. Januar 1989 an stabil. Sie sollten doch ein Wort zu dem lauten Streit und zu der Demagogie sagen, die umgegangen sind: Das Instrument der Festbeträge zeigt Wirkung.
    Am Arzneimittelmarkt ist ein Preiswettbewerb eingetreten, noch ehe es die Festbeträge gab. Nach den jetzt laufenden Erhebungen zeigt sich, daß die Pharmahersteller auf breiter Front mit Preissenkungen reagiert haben. Was ist vorher alles zu hören gewesen? Es ist doch einfach wahr, und es zeigt sich doch jeden Tag überall in der Republik, daß wir überhöhte Arzneimittelpreise hatten, und zwar zu Lasten aller Beitragszahler. Das ist doch einfach die Wahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich will ein anderes Reformwerk ansprechen. Ich meine die Konsequenzen, die wir aus der erkennbaren Überalterung unserer Bevölkerung ziehen müssen. Meine Damen und Herren, ich will ausdrücklich für die Bundesregierung sagen, daß wir gerade wegen der absehbaren Schwierigkeiten, die aus der demographischen Entwicklung folgen, es begrüßen, daß sich die Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD auf einen gemeinsamen Entwurf des Rentenreformgesetzes verständigt haben. Wie Sie wissen, haben wir den gewünschten und notwendigen Kabinettsbeschluß gefaßt. Ich glaube, das ist ein anderes Feld, bei dem wir alles tun sollten, um parteipolitische Auseinandersetzungen zu vermeiden.
    Es geht um die Sicherung des Lebensabends einer Generation vor allem jetzt und heute, die in ihrem Leben genug Aufregung und Heimsuchung erlebt hat und die unsere besondere Zuneigung auch verdient.
    Als Drittes — davon war ja schon die Rede — werden wir in wenigen Monaten ab 1. Januar 1990, die dritte Stufe der Steuerreform haben. Meine Damen und Herren, daß Sie mit Ihren Steuerreformplänen in Europa alleinstehen, zeigt Ihnen ein Blick auf Ihre sozialistischen Bruderparteien. Die Reden, die hierzu von Ihnen gehalten werden, wären in Österreich völlig unverständlich; sie wären in anderen Ländern völlig unverständlich.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

    Herr Abgeordneter Vogel, weil ja in der Parteigeschichte, der großen Parteigeschichte — ich sage das ohne jeden Soupçon — der deutschen Sozialdemokratie der Austro-Marxismus zu früheren Zeiten eine befruchtende Wirkung hatte, lassen Sie doch einmal die steuerpolitischen Überlegungen Ihrer österreichischen Genossen auf sich wirken!

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich glaube, das käme unserer Volkswirtschaft insgesamt zugute.
    Ich will auf dieses Lied, das Sie angestimmt haben, nicht mehr eingehen — zumal ja jeder weiß, daß es einfach falsch ist —, daß hier über steuerliche Umverteilung die Reichen reicher oder die Armen ärmer geworden sind oder noch werden.

    (Widerspruch bei der SPD — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Denken Sie einmal darüber nach, was Ihr Vorbild Thatcher macht!)

    — Meine Damen und Herren, was soll's denn, wenn
    Sie sich im Brustton der Überzeugung hier herstellen
    und den ganzen Saal anreden und sagen, wir alle ver-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    dienen zu viel, und dann werden wir noch mit der Steuer belohnt? Sie wissen so gut wie ich — das Beispiel des Scheiterns des Kommunismus, des Sozialismus in anderen Teilen Europas zeigt es Ihnen doch —, daß Sie natürlich, wenn Sie Leistung bestrafen, auch keine Leistung erreichen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Neid ist ein miserables Mittel im Privatleben und ein miserables Mittel in der Politik. Das hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wenn wir jetzt weiter denken, an die Zeit nach 1992 in der Europäischen Gemeinschaft, an die großen Auseinandersetzungen in der Konkurrenz mit den großen Wirtschaftszentren in den USA, in Kanada in den beginnenden 90er Jahren, im kommenden Jahrhundert, und wenn wir die Entwicklung im Fernen Osten sehen, hier aber so tun, als könnten wir Weltexportland Nummer 1 sein und gleichzeitig Bedingungen im Lande zulassen, die wirtschaftliches Denken und wirtschaftliches Handeln unmöglich machen, wird klar, daß wir unser Ziel nicht erreichen werden. Das muß der Bürger sehr klar und deutlich wissen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Erlauben Sie mir noch ein kurzes Wort zu dem Thema Umweltschutz, das hier — wie ich finde, aus gutem Grund — sehr viel diskutiert wurde. Meine Damen und Herren, Sie können kritisieren, daß wir noch nicht genug tun. Man kann darüber diskutieren, was für die Zeit, die vor uns liegt, alles noch notwendig ist. Aber wenn ich davon ausgehe, daß wir jetzt 32 Milliarden DM in diesem Bereich in der Bundesrepublik ausgeben, daß die öffentliche Hand und die Privatwirtschaft daran etwa zur Hälfte beteiligt sind
    — die Privatwirtschaft übrigens nicht zuletzt deswegen, weil sie mehr oder minder auch gezwungen wurde, solche Entwicklungen zu akzeptieren — , dann finde ich das gegenüber den 20 Milliarden DM im Jahr 1982 eine beachtliche Zahl. Denn wir hatten ja nicht nur das Thema Umweltschutz. Wir mußten etwas tun, um die Ökonomie wieder in Ordnung zu bringen. Wenn jetzt die Steuereinnahmen steigen, wenn wir mehr Möglichkeiten haben, werden wir
    — und das sage ich mit Bedacht — auch für die vor uns liegende Zeit der nächsten Jahre immer wieder darüber diskutieren müssen, was auf diesem Feld geschieht.
    Den Erhalt der Schöpfung — Herr Kollege Vogel, Sie haben freundlicherweise die Überschrift meiner Regierungserklärung von 1987 zitiert — finde ich sehr gut. Das entspricht genau unserer Meinung.
    Was heißt, wir machen nichts? Meine Damen und Herren, das meiste, was wir in den ersten Jahren tun mußten, mußten wir doch deswegen tun, weil Sie nichts getan haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ich habe doch als Führer
    der Opposition in diesem Hause die Großfeuerungsanlagen-Verordnung nicht verhindert. Es war doch Ihr eigenes Unvermögen, das durchzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

    Warum haben Sie denn eigentlich beim KatalysatorAuto nichts gemacht? Ich kann Sie nur immer wieder fragen. Meine beiden Vorgänger, Willy Brandt und Helmut Schmidt, hatten doch 1972 und 1974 die Gelegenheit zu handeln, als Japan und Amerika gehandelt haben. Sie haben das doch nicht getan!

    (Dr. Vogel [SPD): Was haben Sie denn damals dazu getan?)

    Wer hat denn meinen Vorgänger beispielsweise daran gehindert, auf einem der Weltwirtschaftsgipfel die Frage des Regenwaldes und die entscheidenden Fragen der globalen ökologischen Gefährdung auf die Tagesordnung zu setzen? Ich war es doch, meine Damen und Herren,

    (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Nach ein paar Monaten haben Sie es kapiert!)

    der bei meinem ersten Weltwirtschaftsgipfel in den USA, noch eher mitleidig belächelt, den Umweltschutz zum Thema gemacht und das mühsam durchgesetzt hat. Es gab doch zu Ihrer Zeit genug Leute mit großer internationaler Reputation, die dieses Thema zu ihrem Thema hätten machen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich will es kurz sagen: Die Bundesregierung ist fest entschlossen, auf diesem Weg weiter voranzugehen. Wir wissen sehr genau — und ich sage das jetzt einmal aus meiner Überzeugung aus vielen Jahrzehnten politischer Tätigkeit —, daß unser Denken und unsere Überzeugung, die die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft betreffen, heute bedeuten, daß wir die Entwicklung Sozialer Marktwirtschaft auch zu einer ökologisch-ökonomischen Balance hin vorantreiben müssen. Ich füge auch hinzu — Herr Vogel, das habe ich wohl aus Ihrer Rede mitgenommen — , da gibt es kein Patentrezept. Das, was Sie denken, und das, was wir dazu denken — wir führen auf unserem Parteitag zu diesem Thema eine ganztägige Diskussion —, wird alles zu erwägen sein. Aber es muß dann jemand schließlich die Verantwortung übernehmen. Ich sage Ihnen für diese Bundesregierung, ich sage Ihnen für diese Koalition — da gibt es keine Unterschiede zwischen FDP und CDU/CSU — : Unser Ausgangspunkt ist und bleibt die marktwirtschaftliche Überzeugung: In diesem Feld ist am besten mit den Gesetzmäßigkeiten der Sozialen Marktwirtschaft etwas zu bewirken. Übrigens, wer daran noch Zweifel hat, kann die jetzt wiederum an den Beispielen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa überwinden. Diese Gesellschaftssysteme haben doch gerade auch im Bereich des Umweltschutzes in einer dramatischen Weise versagt,

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    weil ihre Wirtschaftsordnung marktwirtschaftliche Möglichkeiten gar nicht eröffnet hat.
    Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren. Ich hoffe, daß wir auch hier noch eine wirkliche Gemeinsamkeit finden. Das ist das Thema Kohle. Ich glaube



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    nicht, daß es in Ordnung ist, heute hier zu sprechen, ohne über dieses Thema wenigstens ein paar Sätze zu sagen.
    Sie kennen alle die Problematik. Sie kennen auch die wachsende Ungeduld gleich auf zwei Seiten, einerseits bei den unmittelbar Betroffenen an der Ruhr und an der Saar und ihren Familien; man darf nie denken, es gehe nur um die Kumpels, es sind ja ganze Städte, ganze Gemeinschaften betroffen. Auf der anderen Seite — das füge ich ebenso klar hinzu; das muß man fairerweise aussprechen — gibt es in den revierfernen Gebieten ein durchaus verständliches und steigendes Unbehagen über die Entwicklung unserer Energiekosten. Das ist keine Frage einer Partei; lassen Sie sich das nicht einreden. Wir müssen versuchen, die Betroffenen zusammenzubringen. Ich spreche hier die Gewerkschaften als die Sachwalter der Arbeitnehmer an, weiter die betroffenen Unternehmen, auch die betroffenen Kommunen und lokalen Gemeinschaften, ferner die bergbaufördernden und die revierfernen Länder und die Bundesregierung. Ich bin voll und ganz einverstanden, sie zusammenzubringen. Ich beteilige mich an diesem Versuch.
    In den letzten Jahren hat sich ein Preisverfall auf den internationalen Energiemärkten eingestellt, der die Schwierigkeiten drastisch steigert. Es hat keinen Sinn, die Grundtatsachen der ökonomischen Entwicklung in diesem Feld in Protestveranstaltungen zu verschweigen.
    In dieser schwierigen Lage haben wir — die Bundesregierung mit Unterstützung der Koalitionsparteien — nachhaltig unseren Beitrag geleistet. Von 1983 bis 1988 wurden rund 33 Milliarden DM für die deutsche Steinkohle aufgewendet. Weil in diesem Saal in anderen Bereichen so viele Vergleiche aus dem Haushalt gezogen werden, soll diese Zahl fairerweise hier wenigstens auch einmal genannt werden. Allein in diesem Jahr werden es rund 10 Milliarden DM sein. Nie zuvor sind Mittel in vergleichbarer Größe für die Kohle zur Verfügung gestellt worden.
    Wir haben jetzt mit allen Beteiligten Gespräche geführt mit dem Ziel, sowohl den laufenden Jahrhundertvertrag bis 1995 zu stabilisieren als auch, was wirklich überfällig ist, zu einem längerfristigen Konzept zu kommen. Meine Damen und Herren, wenn wir klug beraten sind, versuchen wir, gemeinsam das Notwendige zu tun.
    In einem Gespräch mit den Ministerpräsidenten der Bergbauländer am 24. August bei mir im Kanzleramt ist es gelungen, Einvernehmen über die jetzt notwendigen Schritte zu erzielen. Danach kann festgehalten werden, daß wir für die weitere Verwirklichung des Jahrhundertvertrages tragfähige Voraussetzungen geschaffen haben. Die notwendigen Einzelheiten werden jetzt in der Novelle zum Verstromungsgesetz festgelegt.
    Wir haben nach langen Diskussionen eine Sachverständigen-Kommission eingesetzt, die, ich denke, bis Februar, spätestens Anfang März ihr Konzept vorlegen wird. Ich will klar und deutlich sagen, was meine Position, die Position der Bundesregierung ist. Diese Kommission ist nicht eingesetzt worden, wie das gelegentlich in der Politik geschieht, um ein Problem sozusagen unter den Tisch zu kehren. Ich erhoffe und erwarte von dieser Kommission, in der praktisch alle beteiligten Kreise vertreten sind, daß ohne jedes taktische Kalkül das auf den Tisch kommt, was denkbare Modelle sind. Ich sage bewußt „Modelle" , weil ich mir sehr wohl vorstellen kann, daß eine solche Kommission nicht zu einem gemeinsamen Beschluß kommt, was ich eigentlich hoffe, sondern daß auch unterschiedliche Meinungen möglich sind, also die der Mehrheit und der Minderheit.
    Mein Ziel ist, daß wir dann möglichst rasch in einer ebenso offenen, fairen wie vielleicht auch sehr schwierigen Diskussion unsere Entscheidungen herausarbeiten. Ich will hier eindeutig zusichern: Es ist nicht die Absicht der Bundesregierung, das Thema nach der Vorlage des Kommissionsberichtes zu vertagen. Wir brauchen natürlich Zeit für vernünftige Gespräche. Aber das Thema soll auf keinen Fall zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden. Es gibt ja Termine im Jahre 1990 in Nordrhein-Westfalen und anderswo und auch im Bund, die diesen Verdacht erregen könnten. Nicht die Termine, die ich eben beiläufig erwähnt habe, bestimmen das Zeitmaß unserer Entscheidung.
    Für mich geht es darum — ich sage das einmal durchaus emotional — , daß wir angesichts der weltweiten Entwicklung im Energiesektor, auch angesichts der zunehmenden Vorbehalte gegen Kohlefeuerung — das haben wir heute schon angesprochen — eine Regelung finden, die den Menschen gerecht wird. Blicken wir auf 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland zurück. Man muß sich erinnern, daß am Anfang der wirtschaftliche Wiederaufbau stand. Beschäftigen Sie sich einmal näher und intensiv mit dem Thema. Stellen Sie sich vor, wie die Kohleförderung im Juni 1945 war; damals betraf das nicht das Saarland, aber die Ruhr. Stellen Sie sich vor, was dort auf dem Höhepunkt der Demontage in den Wintern 1946 und 1947 geschehen ist. Ein Teil der Initialzündung für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft ist von der Förderung der Kohle ausgegangen, des einzigen Rohstoffs, der in unserem Land vorhanden war. Es gibt deshalb über die rein materielle Betrachtung hinaus — ich sage das mit Bedacht und Bewußtsein — eine, wie ich finde, Dankesschuld an eine Region, die damals für unser Land außerordentlich viel geleistet hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten Wochen in den zuständigen Ausschüssen und dann noch einmal in einer abschließenden Generaldebatte die Haushaltsberatung fortführen. Wir — die Bundesregierung — werden Kritik hören; das gehört sich so. Wir werden stolze Erfolge vorweisen können; das gehört sich auch. Wir müssen Ihre Kritik ertragen und Sie unsere Erfolgsbilanz. Ich halte das für eine richtige und gerechte Arbeitsteilung.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Bitte zum Abschluß ist ganz einfach — ich greife damit wirklich nicht die Autorität des Parlaments an und auch nicht in sie ein daß Sie unge-
    11750 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 156. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 5 September 1989
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    achtet der Probleme, die wir im eigenen Land haben, und ungeachtet der notwendigen Auseinandersetzung über den richtigen Weg vielleicht gerade in diesem Augenblick, in diesem geschichtlichen Augenblick nicht vergessen, daß auf uns, auf die Deutschen, vor allem auf die Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik, eine historische Verantwortung zukommt, daß wir also bei allem Streit und aller Auseinandersetzung diese Verantwortung nicht vergessen.

    (Langanhaltender, lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmude.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Jürgen Schmude


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Bundeskanzler! Sie werden an unseren Reaktionen gemerkt haben, daß wir Teile Ihrer Rede durchaus zu schätzen wissen. Es ist zu früh, ein Ergebnis Ihrer Bemühungen um die Kohle zu würdigen. Das Ergebnis liegt nicht vor. Aber Sie haben mit Recht auf die Belange der Menschen in den Kohleregionen hingewiesen. Sie sollten sich noch einmal in Erinnerung rufen, welch große Unsicherheit dort besteht. Ihr Wort von der Dankesschuld ist gehört worden; nun gibt es Erwartungen zu erfüllen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir verstehen, Herr Bundeskanzler, daß Sie auf günstige Konjunkturdaten verweisen, auch wenn wir Ihrem Vergleich mit Helmut Schmidt nicht ganz folgen können. Was er erlebt hat, werden Sie nicht erleben, und das, glaube ich, leisten Sie auch nicht. Aber bevor Sie sich dem Erfolgsrausch überlassen, sollten Sie uns gerade in dem Zusammenhang die ständig wiederholte Frage beantworten, wie es mit dem Abbau, mit der Überwindung der fortbestehenden Massenarbeitslosigkeit bei Ihnen steht.

    (Beifall bei der SPD)

    Wann, wenn nicht zur Zeit der Hochkonjunktur — wir haben es oft genug gefragt — , soll das gelingen? Da genügt es nicht, auf „Horrorzahlen" zu verweisen und die Statistik zu bekämpfen — bei der Statistik läßt sich von beiden Seiten manches in Frage stellen — , sondern da geht es darum, den Arbeitslosen neue Chancen zu eröffnen. Vorschläge zur Überwindung der Langzeitarbeitslosigkeit lagen schon jahrelang auf dem Tisch, bevor sich die Bundesregierung zu ersten Schritten bereit fand. Was wir jetzt sehen, reicht erkennbar nicht aus, um wirksame Abhilfe zu schaffen. Wir werden auf Nachbesserung drängen.
    Sie wenden sich, Herr Bundeskanzler, gegen den Neid im Zusammenhang mit der Steuerreform. Wir fragen noch einmal, wie die Frau Kollegin Matthäus-Maier gestern: Ist es etwa Neid, wenn sich jemand, der sein Geld als Arbeitnehmer verdient und versteuert, fragt, warum jemand anders, der Zinseinkünfte in größerer Höhe bezieht, keine Steuern zu zahlen braucht, weil diese Regierung die Steuerhinterziehung in diesem Bereich praktisch fördert?

    (Beifall bei der SPD)

    Das halten Sie doch auf Dauer gar nicht durch. Ich
    warte auf den Arbeitnehmer, der einmal zum Bundesverfassungsgericht geht, um zu fragen, ob das wohl vertretbar ist: Der eine zahlt es voll, der andere nimmt das ohne Arbeit erzielte Einkommen auch noch unversteuert.
    Schließlich: Sie haben zum Umweltschutz hier einen zufriedenen Rückblick vorgetragen. Aber mit allen Rückblicken dieser Art können Sie doch nicht leugnen, daß die künftige Entwicklung zum Negativen verläuft, und das schon eine ganze Weile.
    Sie haben beanstandet, unser Kollege Vogel hätte die Wirtschaftspolitik nicht erwähnt. Diesen wichtigen Teil des notwendigen Umbaus der Wirtschaft im Sinne einer Forderung der Ökologie, im Sinne einer Schonung von Natur und Umwelt hat er ausführlich dargelegt. Dazu hätten wir gerne von Ihnen etwas gehört. Wie sieht Ihre Umsteuerungsüberlegung aus?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Herr Bundeskanzler, wir wissen auch den Stil Ihrer Rede zu schätzen. Der Geschmack daran wird uns freilich durch die Einsicht vergällt, daß Sie offensichtlich eine Arbeitsteilung mit Herrn Rühe vorgenommen haben. Wir sind von Herrn Geißler einiges an pauschalen Verunglimpfungen gewohnt und haben das seiner Person zugerechnet.

    (Rühe [CDU/CSU]: Das haben wir doch schon einmal gehört!)

    Nach Ihrem heutigen Auftritt, Herr Rühe, über den sich viele bei uns, die Sie gut kennen, sehr gewundert haben, sind wir geneigt, zu vermuten, daß es zu den Anstellungsbedingungen des CDU-Generalsekretärs gehört, so zu reden.

    (Beifall bei der SPD — Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Ist die Frau Fuchs noch im Lande?)

    Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, einen Schwerpunkt möchte ich bei der Deutschlandpolitik setzen. Von Beginn der Teilung Deutschlands an haben sich Sozialdemokraten mit besonderem Ernst darum bemüht, die Trennung zu überwinden und die beiden Teile beieinanderzuhalten. In der Deutschlandpolitik nach 1969 hat dieses Bestreben den damals angemessenen und notwendigen Ausdruck gefunden. Wir halten es für richtig, auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Lage die Anliegen dieser Politik in der jetzigen Debatte besonders zu betonen.
    Ich sage ganz klar: Es war richtig und ist richtig geblieben, die in Deutschland bestehenden staatlichen Verhältnisse zu respektieren und auf dieser Grundlage die Sicherung des Friedens und die Verbesserung der Lage der Menschen zu betreiben. Beides hat von Anfang an zusammengehört. Das bedeutet: Für die Verbesserung der materiellen Situation der in der DDR lebenden Menschen wie für die Erweiterung ihrer Rechte und Freiheiten haben wir uns mit der Deutschlandpolitik stets bewußt eingesetzt.

    (Beifall bei der SPD)

    Die inzwischen erfolgte Annäherung — um auch dieses Stichwort zu gebrauchen — hat bei weitem



    Dr. Schmude
    nicht genug, aber doch spürbar Wandel zum Besseren bewirkt; bei uns — daran wollen wir uns ruhig erinnern — vor allem in der Bereitschaft, Schranken zu überwinden und mit denen zu sprechen und zusammenzuarbeiten, die man zuvor bei Leugnung der Staatlichkeit der DDR nicht zur Kenntnis genommen hatte. Wesentlich stärker und grundsätzlicher liegt der Druck zum Wandel auf dem politischen System der DDR; kein Wunder, da doch im friedlichen Wettbewerb der Systeme schließlich dasjenige zur Änderung genötigt wird, das die größeren Mängel und Schwächen aufweist.
    Es war richtig und nützlich, die Einsichten in diesen Änderungsbedarf vor zwei Jahren in einem Dialogpapier zwischen SED und SPD festzuhalten. Da, Herr Rühe, ging es nicht um Freundschaft oder ähnliches, sondern um das Aufschreiben von Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen.

    (Rühe [CDU/CSU]: Die Beziehungen sind schon ganz intim!)

    Die tatsächliche Lage ist durch dieses Papier nicht sogleich verändert worden. Langjährige Forderungen kritischer Menschen in der DDR, z. B. von kirchlichen und anderen Gruppen, wurden in dem Dokument von der SED anerkannt und bestätigt. Eine weitere Berufungsgrundlage für die Forderung nach mehr Meinungs- und Informationsfreiheit sowie nach weiter verbesserten Bewegungsmöglichkeiten liegt damit vor. Sie ist genutzt worden; sie muß beharrlich weiter genutzt werden.
    Was damit auf Dauer erreicht werden kann, hat die KSZE-Schlußakte von 1975 überall im Ostblock und gerade auch in der DDR eindrucksvoll bewiesen. Es ist richtig, an dieser Stelle daran zu erinnern, daß die KSZE-Schlußakte in diesem Bundestag gegen Sie, die CDU/CSU, in einer Sondersitzung am 25. Juli 1975 durchgesetzt werden mußte.

    (Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!)

    Manche erhoben nach dem Zustandekommen dieses Dokuments ihr bis dahin geducktes Haupt. Rechte und Möglichkeiten im Ostblock wurden eingefordert, deren Verweigerung den Mächtigen immer schwerer fiel. Das Klima änderte sich und mit ihm die politischen Verhältnisse.
    Aber die Erwartungen sind schneller gewachsen. Mit der großen Enttäuschung darüber, daß sie nicht erfüllt werden, haben wir es jetzt zu tun. Wie immer die verschiedenen Motive der Menschen sein mögen, die der DDR den Rücken kehren, sie sind Ausdruck der einen großen Unzufriedenheit. Wenn denn wirtschaftliche Gründe eine Rolle spielen, so zeigt sich darin eben die Unzufriedenheit mit den grotesken Mängeln und dem teilweisen Versagen des wirtschaftlichen Systems der DDR.
    Auch DDR-Bürger — das ist wohl die Erfahrung von vielen von uns — , denen es privat einigermaßen gut geht, führen endlose und zornige Klage über die vielen Mißstände und Hindernisse, die ihnen die Arbeit im Betrieb verleiden. Das liegt doch nicht an den Arbeitern, es liegt an der Einwirkung politischer Macht
    auf das gesamte Wirtschaftsleben in allen seinen Einzelvorgängen;

    (Beifall bei der SPD)

    ein sicheres Verfahren zur Vergeudung wirtschaftlicher Werte und zur Verhinderung des Erfolgs. Würden wir es hier anwenden, kriegten wir mühelos auch unsere Wirtschaft kaputt.
    Mit den Werten wird Arbeitskraft vergeudet. Fleißige und einsatzbereite Menschen erfahren entmutigt die Vergeblichkeit ihres Mühens. In einem der gemeinsamen Worte der Evangelischen Kirchen in der DDR und in der Bundesrepublik heißt es 1986:
    Die schöpferischen Kräfte der Bürger blühen auf, Leistungskraft und Stabilität wachsen, wo Vertrauen gewagt und Toleranz geübt wird.
    Die politische Führung der DDR wird sich entscheiden müssen; beides kann sie nicht haben. Entweder bleibt sie beim Mißtrauen gegen das eigene Volk, bei der Reglementierung aller Lebensbereiche, oder sie gibt der Kreativität und dem Arbeitswillen freien Raum und dann auch die selbst erarbeitete angemessene Belohnung.
    Gern hätten wir in der Bundesrepublik von einer erfolgreichen DDR gelernt: z. B. wie man einen Staat ohne die politische Macht des großen Kapitals gestaltet, wie man jenes Gemeinschaftsgefühl unter den Menschen erhält, dessen Fehlen die Übersiedler bei uns anfangs befremdet feststellen; vielleicht auch wie man einen Staat aufbaut und führt, in dem Richter und andere wichtige Funktionsträger des Dritten Reiches keine Rolle mehr spielen. Aber man lernt nichts aus einem Hausbau, bei dem vielleicht Treppe und Fußboden gut gelungen sind, bei dem aber die Wände reißen und der Regen durch die Decke tropft. Allenfalls lernt man, wie man es nicht machen darf.
    Wirtschaftliche Hilfe, einfach so gegeben, würde daran kaum etwas ändern. Die Bereitschaft, zur Verbesserung der Lage in der DDR im Interesse der Menschen Geld einzusetzen, auch Milliardenbeträge, von denen Herr Biedenkopf in den letzten Tagen gesprochen hat, ließe sich bei uns gewiß politisch mobilisieren, aber doch nur, wenn die Hilfe Erfolg verspricht, nicht für ein Wirtschaftssystem, in dem auch großer finanzieller Einsatz voraussichtlich folgenlos bleibt.
    Endlos, meine Damen und Herren, ist die Mängelliste, die uns von den Betroffenen zum politischen Alltag vorgetragen wird. Auf einen einzigen Punkt will ich mich beschränken. Womit erklärt man es eigentlich erwachsenen Menschen, daß sie ihre Besuchsreise in den Westen wohl zu einer unfreundlichen Tante oder einem gleichgültigen Vetter, aber nicht zu guten Freunden unternehmen können; denn mit denen sind sie ja nicht verwandt? Womit erklärt es diese DDR den Anhängern ihres Systems, denen sie den Abspruch von West-Bindungen nahegelegt hatte, daß sie nun solche Verbindungen überhaupt brauchen, um reisen zu dürfen? Es ist nicht erklärbar, und es wird deshalb auch gar nicht versucht.
    Wir allerdings müssen uns der Gegenfrage stellen, wie wir denn wohl darauf vorbereitet sind, daß die Reiseregelung in der DDR den Erfordernissen der Vernunft angepaßt wird. Da müssen dann Millionen



    Dr. Schmude
    zusätzlicher Besucher bei uns Aufnahme finden, und zwar als willkommene Gäste, nicht als mittellose Fremde ohne Unterkunft und Hilfe. Richten wir uns frühzeitig darauf ein, das Begrüßungsgeld aufzustokken und mit öffentlichen Mitteln wenigstens für einige Tage denen eine Unterkunft zu bieten, die niemanden haben, der sie privat aufnimmt! Die Aufnahmebereitschaft von Gastgebern in der Bundesrepublik wird daneben immer noch gebraucht, und zwar stärker als bisher.
    Von offizieller Seite in der DDR wird nun behauptet, unsere Medien seien schuld an aller Unruhe. Wir selbst sehen Anlaß zur Kritik an mancher Berichterstattung. Aber die Unzufriedenheit der Menschen mit den politischen Verhältnissen in der DDR, der Drang zur Übersiedlung und die tatsächlichen Ausreisen, das alles haben nicht die Medien erfunden oder geschaffen. Es geschieht, und die Journalisten berichten darüber, wie es ihre Pflicht ist.
    Der Vorwurf der Einmischung, wieder und wieder gegen Politiker in der Bundesrepublik erhoben, ist besonders schwach. Eigentlich enthält er das Geständnis, das alles so kritisch ist, wie wir es bewerten; aber man wolle sich nicht darauf ansprechen lassen. Im „Neuen Deutschland" und anderen Medien der DDR erscheinen gleichzeitig lange Berichte über angebliche Mißstände in der Bundesrepublik. Niemand ist bisher bei uns auf den Gedanken gekommen, sich das als Einmischung zu verbitten.
    Bei uns wie in der DDR treffen wir auf ungeduldige Forderungen und erregtes Aufbegehren, die in der dort betriebenen Politik ihren Grund haben. Wir haben uns auf diese Stimmungen einzustellen, ob sie uns passen oder nicht.
    So nehmen wir Sozialdemokraten kritische Anfragen an unsere Deutschlandpolitik zum Anlaß immer erneuter Prüfung unseres Weges. Eben dazu suchen wir die Diskussion, den sachlichen Austausch von Erfahrungen und Argumenten. Aber Aufforderungen zum Abenteuer, Einladungen zur aufschäumenden Emotionalität müssen wir um der Sache willen ablehnen.

    (Beifall bei der SPD)

    Es überzeugt nicht und führt nicht weiter, wenn jetzt bei uns nicht nur vereinzelt Stimmen laut werden, die die bisherige Deutschlandpolitik als zaghaft und pragmatisch schmähen und statt dessen mit der Forderung nach schneller Wiedervereinigung aufs Ganze gehen wollen. Eben der jetzt so hochmütig verworfenen pragmatischen Politik ist es zu verdanken, daß der Zusammenhalt der Nation als politische Kraft gehalten und gestärkt worden ist. Ohne diese Politik gäbe es kaum mehr etwas zusammenzuhalten und erst recht nicht zu vereinigen. Und es kann gar nicht falsch sein, wenn man weiterhin Trenngräben überbrückt und zuschüttet, Grenzen durchlässiger macht und den Abbau von Freiheitsbeschränkungen fordert und fördert. Pragmatismus um seiner selbst willen und zur Festigung des Status quo war niemals angesagt. Stets ging es um Fortentwicklung und Veränderung.
    Eine Destabilisierung der DDR bis hin zum Zusammenbruch war niemals unser Ziel und darf es auch
    heute nicht sein. Wir können sie freilich auch nicht verhindern. Die Stabilisierung ist allein von den politisch Verantwortlichen gemeinsam mit den Bürgern in der DDR zu schaffen. Die Ausgangslage dafür ist dort besser als in den anderen Staaten des Warschauer Pakts. Leistungsfähige Menschen, die zur konstruktiven, aber auch mitverantwortlichen und freien Arbeit an der Gestaltung des Gemeinwesens bereit sind, gibt es genug, nicht zuletzt in den Kirchen. Ihre Bereitschaft muß freilich genutzt werden: in offenen, fairen Gesprächen anstelle formelhafter Verlautbarungen, durch Einräumung eigenverantwortlicher Mitwirkungsmöglichkeiten anstelle der Unterordnung unter einen alles bestimmenden politischen Willen.
    Bevor an eine staatliche Einheit beider Teile Deutschlands zu denken ist, sind viele Probleme zu lösen und Fragen zu klären. Solche Aufgaben, z. B. die Verdichtung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten mit unmittelbarer Wirkung für die Menschen, stehen jetzt auf der Tagesordnung, verlangen jetzt unsere Kraft und Phantasie. Wir stimmen Ihnen zu, Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, Sie werden die praktische Politik zum Vorteil der Menschen fortführen.
    Jene Friedensordnung in Europa, die den Deutschen die Chance eines neuen Zusammenlebens eröffnen kann, ist in Ansätzen spürbar; erreicht ist sie lange nicht. Wird sie einmal erreicht sein, werden zu den bisherigen Fortschritten in der Deutschlandpolitik zahlreiche und wichtige andere hinzugekommen sein, dann werden sich die Deutschen vielleicht fragen, ob sie in einem einheitlicheren Europa eigentlich einen gemeinsamen Staat brauchen. Unsere europäischen Nachbarn werden soviel Vertrauen zu beiden deutschen Staaten gewonnen haben, daß sie nichts mehr gegen einen solchen Staat haben.
    Bis dahin ist es weit. Gewiß kommen wir dem Ziel nicht näher, indem wir schwungvolle Wiedervereinigungsrhetorik an die Stelle mühsamer, geduldiger Politik zur Lösung der jetzt anstehenden Probleme setzen.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich rechne zur Wiedervereinigungsrhetorik, was die CDU in ihr deutschlandpolitisches Programmpapier im Juni letzten Jahres mit den Worten geschrieben hat, die vordringlichste Aufgabe aller Politik sei die deutsche Wiedervereinigung. Mit meinem Diskussionsanstoß zur Präambel, auf den der Bundeskanzler hingewiesen hat, wollte ich klarmachen: So etwas fordert die Präambel des Grundgesetzes nicht. Sie fordert nicht die Festlegung auf solche Vorstellungen unter Ausschluß aller anderen Möglichkeiten, die den Menschen helfen könnten.
    Aber noch gewisser ist doch, daß wir das Ziel in weitere Ferne rücken, wenn wir, wie es der CSU-Vorsitzende in diesem Sommer getan hat, die jetzt zu Polen gehörenden früheren deutschen Ostgebiete in die deutsche Frage einbeziehen.

    (Lintner [CDU/CSU]: Das ist Ablenkung!)

    Wenn man will, daß alle Welt die Antwort auf diese
    Frage fürchtet, auf die Frage, von der der Bundes-



    Dr. Schmude
    kanzler sagt, sie steht wieder auf der Tagesordnung der Weltgeschichte, wenn man also will, daß die Menschen die Antwort fürchten, dann muß man es so machen wie Herr Waigel.

    (Beifall bei der SPD)

    Man kann gar nicht genug Klarheit darüber schaffen, daß die Westgrenze Polens nach unserem politischen Willen dauerhaften Bestand haben soll.

    (Beifall bei der SPD — Zustimmung des Abg. Dr. Knabe [GRÜNE])

    Sie, Herr Bundeskanzler, haben nach dem Gerede Ihres Finanzministers besonderen Anlaß zu solcher Klarstellung. In Ihrer sehr beachtlichen und auch von uns Sozialdemokraten im ganzen mit Beifall bedachten Regierungserklärung am 1. September haben Sie die Chance leider nicht genutzt. Die Aufforderung — so wörtlich — , „wir sollten nicht weiter darüber diskutieren", zeigt die Verlegenheit Ihres Ausweichens ins Unverbindliche.
    Nein, Deutschlandpolitik betrifft beide deutsche Staaten einschließlich Berlin, und sonst nichts. Unaufgebbarer Bestandteil dieser Politik ist es, daß Deutsche aus der DDR für uns nicht Ausländer sind. Mag man das verfassungsrechtlich oder politisch-programmatisch begründen, so ist es doch vor allem eine Lebenstatsache. Ich würde es nicht fertigbringen, einem Magdeburger oder Dresdner zu eröffnen, daß er ab sofort für mich Ausländer ist.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Ich denke, wir sind uns in dieser Haltung so gut wie alle einig. Anderslautende, sehr theoretische Vorschläge einzelner ändern das nicht.
    Um den Legenden, die auch heute wieder verbreitet worden sind, entgegenzutreten: In unseren Beiträgen zur Diskussion über die Geraer Forderungen haben wir immer gesagt, es wird diesen Zustand mit uns niemals geben, daß Deutsche aus beiden Staaten füreinander Ausländer sind.

    (Lintner [CDU/CSU]: Lafontaine!)

    Uns ging es darum, festzustellen, daß die Staatsbürgerschaft als solche bereits respektiert wird, daß es mehr aber nicht gibt.

    (Lintner [CDU/CSU]: Lafontaine!)

    Lafontaines Äußerung im Herbst 1985 hat den Sprachgebrauch nicht genau getroffen.

    (Lintner [CDU/CSU]: Soso!)

    Wenn man aber diese Äußerung zitiert, dann bitte ich Sie, auch zu erinnern, daß er sie klargestellt hat und daß die Debatte darüber im Saarländischen Landtag zu einer einvernehmlichen Entschließung aller Fraktionen geführt hat. Das ist klargestellt, Herr Bundeskanzler, kommen Sie damit nicht wieder an.
    Daß die Bundesrepublik niemanden gegen seinen Willen vereinnahmt, ist längst klar. Die DDR mag sich sagen lassen, daß kein Staat einen allgemeinen völkerrechtlichen Anspruch darauf hat, daß seine Bürger von einem anderen Staat, dem sie sich anschließen wollen, abgewiesen werden.
    Sind die Bürger der DDR für uns Deutsche und wollen sie zu uns kommen, so ist es unsere selbstverständliche Pflicht, sie aufzunehmen, auch wenn die Übersiedlerzahl unerwartet hoch ansteigt. Es sollte nicht erst des Hinweises auf die Tüchtigkeit der neuen Bürger und ihrer Nützlichkeit für unser Wirtschafts- und Sozialsystem bedürfen, um den engstirnigen Egoismus zum Schweigen zu bringen, mit dem manche bei uns mißgünstig auf die Zuwanderer blicken.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Natürlich gilt unsere Sorge denen, die im Ausland und in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin in besonders bedrängter Lage sind. Eine Lösung für sie ist wünschenswert. Sie erfordert freilich unser konstruktives Mitdenken. Denn auf die Frage, wie sich die erneute Benutzung solcher Wege aus der DDR ausschließen läßt, sollte man sich wohl einlassen, wenn man, wie die Bundesregierung, dazu auffordert, die Ausreise nicht über die diplomatischen Vertretungen zu suchen.
    In diesem Zusammenhang kann man schließlich nicht ignorieren, daß die DDR-Behörden in diesem Jahr bislang etwa 60 000 Menschen die Übersiedlung in die Bundesrepublik genehmigt haben.
    Bei alledem — da stimme ich Herrn Mischnick ausdrücklich zu — dürfen wir nicht der Versuchung erliegen, über der Beschäftigung mit Ausreisewilligen diejenigen zu vernachlässigen, die in der DDR bleiben und dort ihre Aufgaben erfüllen wollen. Sie dürfen nicht das Gefühl bekommen, angesichts der Schlagzeilen zu den Übersiedlern vergessen zu sein. Sie müssen unsere besondere Zuwendung erfahren und auch spüren können, indem wir die privaten Kontakte gerade jetzt verstärken, indem wir auf sie hören und indem wir alle geeigneten politischen Maßnahmen ergreifen, um sie zu stützen und ihre Lebensumstände zu verbessern.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Uns Sozialdemokraten überrascht es nicht, daß engagierte kritische Bürger der DDR sich mit ihren Überlegungen dem demokratischen Sozialismus nahefühlen. Wir sehen darin die Bestätigung nicht nur unseres Mühens um den Zusammenhalt Deutschlands, sondern auch unserer Überzeugung, daß Sozialismus und Demokratie untrennbar zusammengehören.

    (Beifall bei der SPD)

    So wird man in der DDR bei der Suche nach Wegen zu Veränderungen natürlich auch in dieser Richtung denken und diskutieren. Darüber in einen Meinungsaustausch zu treten, wenn es gewünscht wird, gehört für uns zu den selbstverständlichen deutsch-deutschen Kontakten.
    Ob es darüber hinaus sinnvoll ist, in Anknüpfung an die früher in der DDR und zuletzt noch in Ost-Berlin bestehende SPD bestimmte Organisationsformen zu suchen, haben nicht wir zu entscheiden. Wer uns aber fragt, dem würden wir freilich den Eindruck nicht vorenthalten, daß gegenwärtig eine solche Formalisierung leicht auf Schwierigkeiten stoßen könnte, ange-



    Dr. Schmude
    sichts derer weitgespannte Erwartungen unerfüllbar wären.

    (Dr. Hennig [CDU/CSU]: Haben Sie das nicht zu entscheiden? Das ist doch kein Ausland!)

    — Wir entscheiden doch nicht, wer sich wo und wie und auf Grund welcher Einsichten organisiert. Soll denn unsere Bevormundung gleich die andere ablösen, unter der diese Menschen leiden?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Es geht doch nicht ums Bevormunden!)

    Meine Damen und Herren, in den deutsch-deutschen Beziehungen erleben wir gegenwärtig eine unruhige, aber auch eine spannende Phase. Rückschläge drohen, aber auch neuer Aufbruch nach vorne zeichnet sich ab, wie wir ihn wiederholt erlebt haben. Tun wir alles, um diesen Aufbruch zu erleichtern. Unterlassen wir alles, was diese Möglichkeit verschütten und uns zurückwerfen könnte.
    Vielen Dank.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD)