Rede von
Karsten D.
Voigt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Es freut mich, daß die bei unserer Debatte anwesenden Gäste mitspüren und miterleben können, daß die deutschfranzösische Freundschaft zumindest bei der SPD und den Regierungsfraktionen unumstritten ist. Denn die
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8141
Voigt
deutsch-französische Freundschaft dient dem europäischen Frieden.
In diesem europäischen Geist und mit dieser friedenspolitischen Zielsetzung unterstützen wir Sozialdemokraten jeden konkreten Fortschritt in der deutsch-französischen Zusammenarbeit, und sei er noch so klein und bescheiden.
Wir werden deshalb auch den beiden Zusatzprotokollen zum Elysée-Vertrag zustimmen. Wir bejahen die beabsichtigte Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Abrüstungspolitik und ebenso in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Wir haben in den letzten Jahren immer wieder bedauert, wenn sich die Bundesregierung Kohl in ihrer Zusammenarbeit mit der französischen Regierung vor allen Dingen auf die Pflege symbolischer Akte konzentriert hat. Weniger Symbolik und mehr politische Substanz wären uns lieber gewesen.
Auch die Einrichtung des in den Zusatzprotokollen vorgesehenen Verteidigungs- und Sicherheitsrates einerseits und des Finanz- und Wirtschaftsrates andererseits ist vom Makel einer zu sehr an politischen Symbolen orientierten deutsch-französischen Zusammenarbeit nicht frei, denn beide Räte könnten nichts beraten, was sich nicht auch heute schon unter Nutzung der vorhandenen Strukturen beraten ließe, wenn man nur wollte. Trotzdem hoffen wir, daß diese neuen Räte durch die Bundesregierung auch tatsächlich zu einer weiteren Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit genutzt werden. Gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen in der französischen Nationalversammlung werden wir uns aktiv an der Ausfüllung der den beiden Räten gestellten Aufgaben beteiligen.
Der Auswärtige Ausschuß des Bundestages ebenso wie der Auswärtige Ausschuß der französischen Nationalversammlung haben zu diesem Zweck die Einrichtung von gemeinsamen deutsch-französischen Arbeitsgruppen beschlossen, die die Arbeit auf Regierungsebene parlamentarisch begleiten sollen. Diese qualitativ neue Form der parlamentarischen Zusammenarbeit kann und sollte als unser Beitrag zu einer Art transnationalen Parlamentarismus in Europa gesehen werden, und sie kann auch Vorbild werden für die Zusammenarbeit mit anderen Parlamenten in Europa.
Es gab in Westeuropa immer wieder besorgte Stimmen, die fürchteten, daß sich eine Vertiefung der zweiseitigen deutsch-französichen Zusammenarbeit zu Lasten der Zusammenarbeit mit anderen westeuropäischen Staaten auswirken könnte. Diese Sorgen waren und sind unbegründet. Im Gegenteil, die deutsch-französische Zusammenarbeit hat sich als Motor des westeuropäischen Einigungsprozesses bewährt. Ohne die deutsch-französische Zusammenarbeit wäre es nie zu einem Europäischen Währungssystem gekommen.
Die westeuropäischen Sozialdemokraten und Sozialisten haben sich in einer Sitzung am 20. November 1988 in Rom auf eine gemeinsame Plattform in der Sicherheits- und Abrüstungspolitik geeignet. Sie sind damit den westeuropäischen Regierungen wieder mal ein Stückchen voraus. Aber wir Sozialdemokraten drängen und hoffen, daß sich die Regierungen Westeuropas endlich zur Formulierung eines sicherheits- und abrüstungspolitischen Gesamtkonzepts als fähig erweisen; dies ist erforderlich. Aber wir meinen auch, daß man im Rahmen eines solchen Gesamtkonzepts nicht die Stationierung neuer Kurzstreckenraketen legitimieren, sondern sie überflüssig machen, d. h. darauf verzichten sollte.
Wir streben eine gemeinsame europäische Währung und eine gemeinsame Notenbank an. Mein Kollege Norbert Wieczorek wird dazu noch etwas sagen. Aber wer diese Ziele bejaht, der muß auch eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit bejahen. Ohne sie geht es nicht, aber es geht auch nicht mit ihr allein. Deshalb muß die deutsch-französische Zusammenarbeit auch weiterhin politisch gegenüber den anderen westeuropäischen Staaten offenbleiben und sich immer wieder erneut öffnen.
Willy Brandt und Helmut Schmidt nutzten die deutsch-französische Zusammenarbeit auch zur Abstimmung gemeinsamer entspannungs- und abrüstungspolitischer Initiativen. Die Chancen für den Erfolg einer neuen Phase der Entspannungs- und Abrüstungspolitik sind auf Grund des unter Generalsekretär Gorbatschow begonnenen Reformkurses besser geworden, und auch der Kollege Dregger bewertet heute die Reformpolitik Gorbatschows viel positiver als noch vor ein, zwei Jahren. Damals war es auch noch nicht so eindeutig.
Insofern nehme ich das auch als Teil nicht nur eines Lernprozesses, sondern auch als Teil eines Prozesses, der die inneren Entwicklungen in der Sowjetunion, die positiv verlaufen, reflektiert.
Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Chancen der Reformpolitik noch besser zu nutzen, durch deutsch-französische Zusammenarbeit und durch gemeinsame westeuropäische Initiativen. Ich mache darauf aufmerksam, daß de Gaulle seine Ostpolitik noch zu Zeiten begann, als Konrad Adenauer noch bremste. Auch künftig sollte sich die deutsch-französische Zusammenarbeit im Willen zur Zusammenarbeit und zur Partnerschaft mit den Staaten Ost- und Ostmitteleuropas bewähren.
Übrigens mehren sich auch in der Sowjetunion die Stimmen, die erkennen, daß sich die deutsch-französische Zusammenarbeit zugunsten einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit auswirken kann. So bewertet Radio Moskau — Kollege Ehmke hat darauf gestern in einer Rede vor der Bundestagsfraktion hingewiesen — den deutsch-französischen Gipfel Anfang November zusammenfassend mit dem Satz: „Die
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deutsch-französische Zusammenarbeit wurde zu einem bedeutenden Faktor der europäischen Politik. Sie kann zum Ausbau des gesamteuropäischen Hauses beitragen. " Dieser Einschätzung stimmen wir ausdrücklich zu.
Ich möchte hinzufügen: Wer dieses deutsch-französische Vertragswerk ablehnt, untergräbt objektiv auch seine Fähigkeit zu Verhandlungen mit den Staaten Osteuropas.
Die heutige deutsch-französische Freundschaft ist für uns auch Antrieb zur Vollendung der deutsch-polnischen Versöhnung. Wir wollen mit Frankreich zusammenarbeiten, nicht weil wir alte Feindbilder gegenüber Frankreich durch neue Feindbilder gegenüber unseren östlichen Nachbarn ersetzen wollen, sondern weil wir Feindbilder und Feindschaft in Ost und West durch eine europäische Friedensordnung überwinden wollen.
Zu diesem Ziel bekennen sich auch ausdrücklich die heute zur Ratifizierung anstehenden Verträge. Dieses Ziel ist in dem gemeinsamen Bericht von Herrn Feldmann, Herrn Lamers und mir, der ja von allen Mitgliedern dieser drei Fraktionen angenommen und im Auswärtigen Ausschuß unterstützt worden ist, ausdrücklich festgehalten.
Wir Sozialdemokraten unterstützen dieses Ziel einer europäischen Friedensordnung. Wir streben eine Friedensordnung in Europa an, die die Konfrontation der Militärblöcke und auch der Gesellschaftssysteme abbaut und die Teilung Europas durch Zusammenarbeit und gleichzeitigen friedlichen Wettbewerb zwischen den Systemen überwindet. Wir streben eine schrittweise Entmilitarisierung des Ost-West-Gegensatzes an. Aber ich sage auch: Solange es eine europäische Friedensordnung noch nicht gibt, bedarf die Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland des Rückhaltes einer auch militärisch abgestützten und in die Partnerschaft im westlichen Bündnis eingebundenen Sicherheitspolitik. Da kann die WEU ein Beitrag sein — nicht zur Aufrüstung, wie manche unterstellen, aber zur Bildung von Selbstbewußtsein und auch zur Verhandlungsfähigkeit Westeuropas gegenüber Osteuropa.
Die NATO ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck. Im Rahmen einer künftigen europäischen Friedensordnung können die Gefahren einer äußeren Bedrohung gebannt und das Ziel einer sicherheitspolitischen Stabilität in Europa gefördert werden, auch ohne daß sich Militärbündnisse gegeneinander organisieren; sie werden damit überflüssig. Das gilt dann auch für die NATO.
Die Militärstrategien der NATO und Frankreichs sind heute keineswegs deckungsgleich. Frankreich hat die NATO-Strategie der „flexiblen Antwort" für sich nie akzeptiert.
Wir Sozialdemokraten sind uns bewußt, daß die geltende NATO-Strategie der „flexiblen Antwort" nur durch eine neue Übereinkunft im Bündnis abgelöst werden kann. Wir streben eine solche Änderung an, da die geltende Bündnisstrategie nach unserer Überzeugung nicht geeignet ist, das gemeinsame Ziel der Kriegsverhütung auf Dauer sicherzustellen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Denkschrift zu dem Protokoll auf Drängen der SPD festgestellt und klargestellt, daß von diesem keine vertragliche Festlegung auf eine bestimmte Strategie ausgeht.
Diese Rechtsauffasssung ist — ebenfalls auf Wunsch der SPD — der französischen Seite durch Verbalnote unter Einschluß der Denkschrift notifiziert worden.
In Gesprächen mit den Berichterstattern des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses der Assemblée Nationale — das sind Gespräche gewesen, bei denen übrigens die GRÜNEN durch Abwesenheit geglänzt haben; da sieht man, wie sehr sie diese Frage intern ernst nehmen, im Gegensatz zu ihren öffentlichen Darstellungen — —
— Erklärt ja, aber anwesend war keiner.
Durch solche Gespräche mit den Berichterstattern in der Assemblée Nationale, an denen wir uns beteiligt haben, haben wir erreicht, daß das französische Parlament diese Rechtsauffassung teilt. Im Bericht des Auswärtigen Ausschusses der Assemblée Nationale zu dem Protokoll zum Elysée-Vertrag wird hierüber hinaus hervorgehoben, daß das Protokoll auch für die Gegenwart keine Festlegung auf eine gemeinsame militärische Strategie enthält.
Es wird dabei festgehalten, daß es vielmehr Aufgabe künftiger Konsultationen sei, sich um die Erarbeitung gemeinsamer oder ähnlicher strategischer Prinzipien zu bemühen — darauf hat der Kollege Dregger bereits hingewiesen — , die dann gleichermaßen, falls man sich einigt, für die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich gelten könnten.
Wie diese künftige Strategie aussehen wird, darüber
entscheiden politische Mehrheiten in Bonn und Paris.
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Der Inhalt einer derartigen Strategie wird völkerrechtlich durch die Protokolle zum Elysée-Vertrag in keiner Weise präjudiziert.
Die GRÜNEN behaupten, daß die Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik sowohl zur nuklearen als auch zur konventionellen Aufrüstung führen müsse.
Diese Behauptung ist falsch. Sie wird auch durch den Wortlaut des Vertragswerkes nicht gerechtfertigt. Diese Behauptung widerspricht darüber hinaus den in der gemeinsamen Berichterstattung durch den Auswärtigen Ausschuß des Bundestages dargelegten Zielen, die gemeinsam durch SPD, FDP und CDU/CSU beschlossen wurden.
Wir Sozialdemokraten haben in den letzten Wochen auch die gegenteilige Erfahrung gemacht. Als wir nämlich mit allen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien eine gemeinsame sicherheits- und abrüstungspolitische Plattform in Rom beschlossen haben, also auch unter Beteiligung der französischen Sozialisten, haben wir uns auf das gemeinsame Ziel der Unterstützung des START-Abkommens mit einer 50%igen Reduzierung der nuklearstrategischen Waffen geeinigt. Wir haben uns gegen eine Umgehung oder Kompensation des Abkommens über eine doppelte Null-Lösung bei den Mittelstreckenwaffen durch eine sogenannte Modernisierung bei den nuklearen Kurzstreckenraketen unterhalb der Reichweite von 500 km festgelegt.
Wir haben uns festgelegt auf das Ziel einer konventionellen Stabilität, das erreicht wird durch Abrüstung und nicht durch Aufrüstung. Schließlich haben wir uns im Zusammenhang mit der konventionellen Stabilität darauf geeinigt, das Ziel anzustreben, alle nichtstrategischen Nuklearwaffen letztlich völlig abzubauen.
Das sind klare und eindeutige abrüstungspolitische Ziele, die wir gemeinsam mit den Franzosen haben. Sie widerlegen diejenigen GRÜNEN, die behaupten, daß jede Form der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu einer Militarisierung führen müsse. Dies ist nicht der Fall. Wer so etwas behauptet, schürt Mißtrauen und baut neue Feindbilder auf, wo es um Zusammenarbeit und Abbau von Feindbildern — auch von alten, überkommenen Feindbildern — geht.
Niemand kann leugnen, daß Auffassungsunterschiede verbleiben: Wir Sozialdemokraten sind nicht nur gegen amerikanische und sowjetische, sondern auch gegen französische Kurzstreckenraketen, gleichgültig ob sie den Namen Pluton oder Hades tragen. Ebenso sind wir gegen französische Neutronenwaffen wie gegen Neutronenwaffen anderer Staaten.
Wir beharren auf unserem Ziel, das System der wechselseitigen nuklearen Abschreckung durch Fortschritte in der Abrüstung, durch den Abbau von Feindbildern und potentieller Feindschaft schließlich im Rahmen einer europäischen und letztlich weltweiten Friedensordnung gänzlich zu überwinden. Das unterscheidet uns von vielen Franzosen, das unterscheidet uns auch von vielen Christdemokraten in diesem Hause.
Aber auch gerade angesichts dieser Unterschiede bleiben vertiefte Diskussionen über sicherheits- und abrüstungspolitische Fragen zwischen Deutschen und Franzosen — also auch auf Regierungsebene — sinnvoll, nützlich und erforderlich.
Wer — wie die GRÜNEN — diese Zusammenarbeit als Schritt zur europäischen Atomstreitmacht unter Beteiligung der Deutschen diffamiert — Kollege Dregger hat bereits darauf hingewiesen, daß das gar nicht angestrebt wird und auch nicht möglich ist —, der betreibt eine bewußte Irreführung der deutschen und europäischen Öffentlichkeit. Wir Sozialdemokraten sind gegen eine europäische Atomstreitmacht. Aber wichtiger ist noch: Die Protokolle zum ElyséeVertrag enthalten keinen einzigen Hinweis auf eine europäische Atomstreitmacht. Sie führen weder direkt noch indirekt auf dieses Ziel hin. Alles andere sind Unterstellungen und widerspricht den Tatsachen.
Die heute zur Ratifizierung anstehenden deutschfranzösischen Verträge sind eine Chance für Europa, und zwar nicht nur für Europa im Westen, sondern auch für die Zusammenarbeit in Europa über die Grenzen nach Osten hinaus und damit für Gesamteuropa, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Wir Sozialdemokraten wollen diese Chance nutzen. Deshalb stimmen wir mit Ja.