Rede von
Karitas Dagmar
Hensel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Frau Präsidentin! Sehr verehrte noch anwesenden Damen und Herren! Das selbstzufrieden entfaltete Panorama der Regierungspolitik, wie es in der Rede des Bundeskanzlers zum Ausdruck kam, unterscheidet sich kaum vom Grundtenor der Berichte früherer Jahre: Natürlich hat die Bundesregierung alles für die Einheit, für die Wiedervereinigung getan; auch hat sie bei der DDR für die Landsleute drüben alles rausgeholt, was rauszuholen war; auch zeigt sich die Bundesregierung besorgt über die innere Lage in der DDR; sie hat sogar Gorbatschow den Kopf gewaschen und ihm gezeigt, was eine Harke in Sachen Wiedervereinigung ist; sie vergißt auch nicht die Beteuerung, Berlin sei Gradmesser der Ost-West-Beziehungen und unveränderliche Hauptstadt der Nation. Alljährlich folgt auch das Bekenntnis zum westlichen Bündnis und folgen die Hinweise auf die Freiheit der Menschen in der Bundesrepublik.
Möglicherweise habe ich einige Stereotypen der Grundorientierung der jährlichen Regierungserklärung übersehen; aber über eines wurde bestimmt nicht geredet: über die komplexe und komplizierte Realität,
über die schwierigen Probleme, vor die sich alle europäischen Länder gestellt sehen.
Vor allem schweigen Sie, Herr Kohl — er ist leider nicht mehr da — , natürlich zu der zunehmenden inneren Zerrissenheit des Koalitionslagers in den Fragen der Außen- und Deutschlandpolitik.
In ungeahnter Weise hat die geänderte Politik der beiden Großmächte, insbesondere die außenpolitische Öffnung der Sowjetunion unter der Reformpolitik Gorbatschows, die konservativen Parteien unter Druck gesetzt: Innenpolitisch beschleunigt sie die Prozesse der Herausbildung einer rechtsnationalistischen Partei, und außenpolitisch ruft sie die Spagatstellung zwischen einer Neubelebung der Ansätze nationaler Politik und der Weiterentwicklung der EG-Integration bzw. des Atlantischen Bündnisses hervor. Was sozusagen die politischen Alarmglocken läuten läßt, sind die sich mehrenden Anzeichen, daß die Entscheidung zwischen Nation und Westbindung — diese Entscheidung stellt sich objektiv — von einer zunehmenden Zahl von Unionspolitikern offengelassen oder heute schon zugunsten traditionaler Sinnstiftung des alten Deutschlandbegriffes gefällt wird.
Die strategischen Bestimmungen und politischen Optionen im Koordinatenfeld der Ost-West-Konfrontation sind in Bewegung geraten. Die pazifische Orientierung der USA und die westeuropäische Wendung zum eigenen Kontinent, die Machtüberdehnung beider Großmächte sowie die inneren und äußeren Umgestaltungsbemühungen und Abrüstungsinitiativen der Sowjetunion signalisieren eine globale Umbruchsituation, die die Möglichkeit einer dauerhaften europäischen Friedensarchitektur bietet,
die auf einer kooperativen und interdependenten Koexistenz beider Gesellschaftssysteme basiert.
Wir leben in einer Übergangszeit, und die politische Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des entstehenden Vakuums hat längst begonnen. Das haben auch die Stahlhelmer in der Union begriffen, und, für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar, zeigten sich neutralistische Stimmungen in der CDU/CSU-Fraktion während der Debatte um die doppelte Null-Lösung. Unter den Stichworten einer „Singularisierung" und „Sonderbedrohung" der Deutschen wurde unter antiamerikanischem Vorzeichen einer Renationalisierung der bundesdeutschen Außenpolitik das Wort geredet.
Auch Sie, Herr Kohl, waren anfangs nicht abgeneigt, solche nationalen Töne anzuschlagen. Die Warnungen an die Adresse des Westens, die Bundesrepublik könnte ihre NATO-Mitgliedschaft in Frage stellen, wenn das INF-Abkommen abgeschlossen würde — Herr Dregger und Herr Rühe exponierten sich besonders in dieser Frage — , wurden von Ihnen nicht zurückgewiesen. Statt dessen jetteten beide als Sonderbotschafter des Kanzlers nach London und Paris.
Daß Ihre Regierung, Herr Kohl, dem INF-Abkommen zustimmte, geschah nicht aus eigener Einsicht und Überzeugung, sondern durch den unnachgiebigen Druck der USA und der NATO-Partner.
In diesem Kontext ist auch verständlich, daß die halbherzigen Vorstöße Heiner Geißlers, einer deutsch-nationalen Politik in der Union die programmatische Grundlage zu entziehen, nicht auf Unterstützung durch den Kanzler hoffen konnten. Auch in der jüngsten Auseinandersetzung über seine Äußerungen über die Überholtheit eines Nationalstaates in den Grenzen von 19xy stand er allein da und mußte unter dem Druck der Deutschnationalen klein beigeben.
— Das war genau so, und das wissen Sie ganz genau!
Die Tragweite dieser Entscheidung wird erst dann richtig deutlich, wenn der seit Jahren stärker werdende Trend in rechten und in konservativen Kreisen, die „Mittellage" Deutschlands wieder zu betonen, in den Blick gerät. Auf Grund der historischen Voraussetzungen bedeutet eine politische Konzeption, die auf „Mitteleuropa" und nationale Bezüge setzt, die Wiederherstellung des Anspruchs, als Nationalstaat eine führende Rolle in Europa zu spielen,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8125
Frau Hensel
sowie die Belebung antiwestlicher Ressentiments und
die perspektivische Aufkündigung der Westbindung.
— Das ist so.
Herr Dregger arbeitet schon seit Jahren daran, die Deutschen nicht nur in einem Nationalstaat zu vereinen, sondern auch zu neuem Nationalstolz zu überreden.
Die Protagonisten eines tiefsinnigen deutschen Gemüts oder — damit Sie das verstehen —, moderner ausgedrückt, eine „nationale Identität" haben seit Bitburg eine Vielzahl von Versuchen unternommen, Auschwitz zu relativieren, damit deutsche Nationalgeschichte überhaupt sinnstiftend wirken kann.
Ihre Akzeptanz der Westbindung beschränkte sich auf das machtpolitische Kalkül einer reaktionären NATO-Philosophie,
während Sie die kulturelle Dimension der Westorientierung, nämlich Pluralismus, Toleranz, Weltoffenheit und Aufklärung, ablehnen.
Unter Berücksichtigung solcher Zusammenhänge erhalten bestimmte Äußerungen verantwortlicher Politiker eine ganz andere Brisanz. So äußerte sich Eberhard Diepgen bei der Grundsteinlegung für das „Deutsche Historische Museum" in Westberlin ganz anders als heute:
Aber die Standortentscheidung werte ich als bewußte Hinwendung des Teilstaates Bundesrepublik Deutschland,
— des Teilstaates Bundesrepublik Deutschland! —
zur Mittellage Deutschlands in Europa,
zur Rolle Berlins als Hauptstadt der deutschen Nation.
In diesem Satz finden wir die ganze antiwestliche Mitte-Ideologie.
Es gibt eine Vielzahl ähnlicher Äußerungen und Erscheinungen. Meine Befürchtung ist, daß die EwigGestrigen in der Union schon wieder eine Zukunft haben.
Bei ihnen steht längst die Westbindung zur Disposition,
und der Schleichweg der Bundesrepublik zur mitteleuropäischen Macht und zur nationalstaatlichen Größe beginnt, sich von rechts als Straße auszudehnen.
Das politische Klima heute erlaubt es, daß der Kultusminister von Baden-Württemberg, Gerhard Mayer-Vorfelder, in der Zeitschrift „Nation Europa", die im Verfassungsschutzbericht als rechtsextremes Organ geführt wird,
im September 1988 einen Beitrag veröffentlicht. Das ist möglich.
Während Heiner Geißler mit seiner Vision von einer Bundesrepublik als multikultureller Gesellschaft von niemandem in der Union unterstützt wird, kann sich Edmund Stoiber kurz nach dem 50. Jahrestag der antisemitischen Pogrome gegen Geißler als ein an dunkle Tage erinnernder Rassehygieniker aufspielen und vor einer „durchrassten und durchmischten Gesellschaft" warnen
— aber er hat es getan! — , ohne daß in der Union damals auch nur die Spur eines Protestes wach wurde.