Rede von
Herbert
Werner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Bahr, aus Ihrer Frage muß ich entnehmen, daß Sie sich nicht gegen die Zitate, auf die ich mich stütze, und die Aussagen, die dort gemacht wurden, wenden, sondern daß Sie jetzt bereits in die Interpretation hineinschreiten.
Ich glaube, es ist durchaus zulässig,
Zitate, die als Zitat in Zeitungen wiedergegeben sind, zu benutzen, selbst dann, wenn man nicht umfassend den Redebeitrag zur Grundlage hat.
Es steht Ihnen ja frei, meine Interpretation als falsch zu widerlegen.
Meine Damen und Herren, heute hat hier auch Herr Vogel — wenn ich ihn richtig verstanden habe — so getan, als stünden europäische Einigung und Wiedervereinigung in letzter Konsequenz in einem Gegensatz zueinander.
Auch diese Argumentationen, stehen nicht im Einklang mit unserer Verfassung, und sie sind in sich, so glaube ich, auch nicht zwingend. Die deutsche Frage ist offen, solange wir Deutschen sie selber als offen behandeln.
Zwei Drittel der Menschen in beiden Staaten in Deutschland sehen die Wiedervereinigung als ein hohes erstrebenswertes Ziel an, dessen Wert selbst dann bleibt, wenn man sie selber nicht mehr erleben werde. Die Deutschen wollen also nicht nur eine Kulturna-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8123
Werner
tion, sondern sie wollen die staatliche Einheit. Je häufiger die Deutschen einander im geteilten Deutschland begegnen, desto intensiver wird ihr Zusammengehörigkeitsgefühl sein und bleiben. Der Ausbau der menschlichen Begegnungen bis hin zur Freizügigkeit ist daher vorrangige Aufgabe jeder Politik für Deutschland.
Voraussetzung dafür ist, meine Damen und Herren, daß das Ost-West-Verhältnis sich weiter entkrampft und sich auf systemübergreifende Zusammenarbeit hinentwickelt. Systemübergreifende Zusammenarbeit kann aber ohne entsprechende Fortschritte im Bereich der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts nicht sinnvoll und für alle Beteiligten erfolgreich sein.
Deshalb hat der Bundeskanzler in Moskau nachdrücklich auf das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und ihr Streben nach Einheit hingewiesen. Gorbatschow, der die Lebenskraft von Nation und Nationalitäten in der Sowjetunion täglich erlebt, hat die endgültige Antwort auf das Streben der Deutschen auf die Zukunft verschoben, die bekanntlich offen ist.
Es wäre daher völlig falsch, nicht immer wieder mit Bedacht und Geschick in Moskau die offene deutsche Frage anzumahnen, auch wenn heute die offizielle Moskauer Politik von zwei Staaten in Deutschland als einer unverrückbaren Gegebenheit ausgeht.
Westeuropa wächst Schritt für Schritt zusammen. Niemand glaubt heute jedoch daran, daß die Staaten in einer westeuropäischen Union einfach verschwinden werden. Die Nationalstaaten werden mit eigenen Selbstverwaltungsbefugnissen weiter bestehen bleiben, und auch die Bundesrepublik Deutschland wird nicht einfach in einer Union aufgehen.
Die Bundesregierung hat allerdings von Verfassungs wegen die Pflicht, bei jedem Schritt zur Europäischen Union abzuwägen, ob dadurch die Wahrung des Staatsziels Wiedervereinigung gefährdet würde. Bisher war diese Gefährdung nicht gegeben, auch nicht durch die Europäische Akte, die eine Ergänzung der Römischen Verträge ist.
Aber selbstverständlich wird jede Bundesregierung darauf achten müssen, ob in Zukunft bei qualitativ neuen Vereinbarungen in letzter Konsequenz das Staatsziel Schaden erleiden könnte.
Die immer enger werdende Vernetzung der Staaten in der Europäischen Union darf eben nicht dazu führen, daß die Bundesrepublik Deutschland die Chance einer Wiedervereinigung in Freiheit und auf der Grundlage des Selbstbestimmungrechts überhaupt nicht mehr nutzen könnte.
— Das Ergreifen dieser Chance muß allerdings, Herr Bahr, nicht in jedem denkbaren Fall notwendigerweise ein Ausscheiden aus der Europäischen Union bedeuten.
Die Sorge, daß die Partner in der Europäischen Union die erforderlichen Vorbehalte bei qualitativ neuen Vereinbarungen nicht akzeptieren würden, ist meines Erachtens unbegründet. Die drei Westmächte haben sich im Deutschlandvertrag zur Förderung der staatlichen Einheit Deutschlands verpflichtet. Sie haben damit ihre Verantwortung für ganz Deutschland unterstrichen, wie sie das auch in Verbindung mit den sonstigen Verträgen stets getan haben, und das Selbstbestimmungsrecht für Deutschland gefordert. Die NATO-Mitgliedstaaten haben im Harmel-Bericht festgeschrieben, die Herstellung der deutschen Einheit zu unterstützen. Das heißt: alle unsere Partner respektieren, ja unterstützen unser Staatsziel. Allerdings muß man auch offen sagen: Gegen den Willen der Vier Mächte und ohne Mitwirkung aller Nachbarstaaten in West und Ost wird im übrigen die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts für alle Deutschen — und damit die Wiedervereinigung im Rahmen eines Friedensvertrags mit ganz Deutschland — nicht möglich sein.
Der Fall, daß die Bundesrepublik als Teilstaat einer Europäischen Union gegen den Willen dieser Union zur Wiedervereinigung mit den anderen Teilen Deutschlands, für die dann im übrigen in der östlichen Staatengemeinschaft wohl ähnliche Voraussetzungen gelten dürften, schreiten könnte, ist daher zwar denkbar, aber kaum möglich, wenn man die Sache nüchtern betrachtet. Gerade deshalb erscheint es mir um so wichtiger, daß die Bundesrepublik Deutschland die verbündeten Staaten aus den übernommenen Verpflichtungen zur Unterstützung der Einheit Deutschlands nicht entläßt. Das heißt: die Zukunft Deutschlands hängt nicht zuletzt von uns ab, von unserem Wollen.
Im übrigen meint, so glaube ich, die Präambel des Grundgesetzes mit dem „vereinten Europa" gewiß mehr als nur die Europäische Union. Gedacht ist wohl eher an eine Gemeinschaft aller europäischen Staaten, die im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht aller Völker — ich unterstreiche: aller Völker — sich organisiert haben. In ein derartiges Europa ohne starre ideologische Blöcke, in dem Sicherheit und Wohlfahrt aller Staaten durch gemeinsame Organe gewährleistet würden und in dem die Grenzen völlig offen wären, würde sich auch ein geeintes Deutschland sehr wohl einfügen.
Fazit: Wir dürfen uns die Wege zur Einheit nicht selber verbauen. Gerade deshalb sollte die SPD die aufgekommene Diskussion, die ich als von Resignation geprägt bezeichnen möchte
und die sich letztlich gegen die Einheit richtet, möglichst umgehend beenden.
Ich danke fürs Zuhören.