Rede von
Prof.
Gerhard
Heimann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Bundesminister, wir haben in der Haushaltsdebatte über die mangelnden Kompetenzen Ihres Ministeriums gesprochen. Ich frage mich: Liegt der Grund in den mangelnden Kompetenzen Ihres Ministeriums, daß Sie hier jetzt auch schon Vorträge über Sicherheitspolitik halten?
Das, was Sie über die Sicherheitspolitik zwischen den
beiden deutschen Staaten gesagt haben, würden wir
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8119
Heimann
lieber von kompetenterer Stelle hören. Das, was Sie gesagt haben, schien uns jedenfalls nicht sehr kompetent zu sein.
Herr Kollege Lintner, Sie haben einen Aufsatz von mir aufgegriffen, den ich vor einem Jahr geschrieben habe. Ich will an dieser Stelle mein Redemanuskript einmal beiseite lassen und darauf eingehen. Vor einem Jahr habe ich einen Aufsatz geschrieben, dessen Titel lautet: „Die Last der deutschen Geschichte". Was habe ich in diesem Aufsatz eigentlich gesagt?
Ich habe gesagt, daß die deutsche Geschichte den Deutschen die Normalität anderer Völker versagt hat,
die darin besteht, daß andere Völker, besonders Frankreich, auf eine glückliche Einheit von Staat, Nation und Demokratie zurückgreifen können.
Wir haben das in unserer Geschichte nicht verwirklichen können. Die 48er-Bewegung hat es nicht geschafft, die doppelte Aufgabe von Einheit und Freiheit, also Einheit und Demokratie, zu lösen. Wir haben dann eine Einheit von Staat und Nation unter Bismarck bekommen, aber mangelhaft blieb die Verwirklichung der Freiheit und der Demokratie. Außerdem hat das Bismarck-Reich nur 74 Jahre gedauert.
Was ist das eigentlich vor dem Hintergrund der ganzen deutschen Geschichte? Wir Deutschen haben immer lernen müssen, in Formen der Mehrstaatlichkeit zu leben.
Herr Kollege Dregger hat in seiner Rede in Nürnberg auf das Heilige Römische Reich zurückgegriffen und gesagt: Auch dies ist ein Teil unserer Geschichte. Aber dieses Heilige Römische Reich war nie ein Staat im modernen Sinne, sondern es war etwas, was die Deutschen auf andere Weise zusammengehalten hat. Deshalb wollen wir ja auch am Begriff der Nation festhalten. Aber warum müssen wir immer wieder die Frage der Einheit von Staat und Nation, die vor der deutschen Geschichte nicht geglückt ist, in den Mittelpunkt unserer Diskussionen stellen?
— Aus der Geschichte lernen, Herr Kollege Lintner.
Dann habe ich etwas anderes gesagt: Muß man die fortdauernde Zweitstaatlichkeit Deutschlands eigentlich immer nur in Sonntagsreden und dann auch ohne Folgen beklagen? Liegt in dieser Zweistaatlichkeit nicht auch eine konkrete Chance, die wir heute ergreifen können, und zwar dann, wenn man sich klarmacht, was eigentlich der Kern der Teilung ist: Der Kern der Teilung ist nicht die nationale Abspaltung eines Staates von einem anderen, sondern die Teilung ist uns als Folge des Ost-West-Konfliktes auf gezwungen worden, ist allerdings auch Folge des eigenen
Verschuldens, das darin liegt, daß wir den Zweiten Weltkrieg begonnen haben.
Wer die Teilung überwinden will, muß den Antagonismus zweier Systeme und zweier Bündnisse überwinden. Das geht nur von beiden Seiten. Die Aufgabe muß von beiden Seiten in Angriff genommen werden: von uns aus als Bundesrepublik Deutschland in unserem Bündnis, in unserer freiheitlichen Ordnung, und von der DDR aus in ihrem Bündnis. Wenn die beiden deutschen Staaten in diesem Sinne zusammenwirken, dann ist es nicht nur ein Nachteil, daß es diese beiden Staaten gibt, dann kann das auch ein Vorteil werden, weil so ein Teil der Ursache der Teilung überwunden werden kann.
Das Europäische Haus, von dem jetzt gesprochen wird, muß ja irgendwo anfangen. Es muß vor allen Dingen an der Stelle anfangen, wo die beiden Systeme aufeinandertreffen. Das heißt, die Deutschen haben eine besondere Verantwortung, übrigens, Frau Bundesminister Wilms, auch in Fragen der Sicherheitspolitik, genau aus dieser Lage heraus.
Darum sollten wir lieber darüber sprechen, was die beiden deutschen Staaten zusammen tun können, um diese europäische Teilung zu überwinden, als immer wieder ein Ziel an die Wand zu malen, das nicht realistisch ist — der Herr Bundeskanzler hat es heute hier ausgeführt — , das vielleicht die Geschichte uns eines Tages wiedergibt, das aber jedenfalls keine Frage der gegenwärtigen Politik sein kann.
Nun möchte ich noch etwas zum Regierenden Bürgermeister sagen, der aber offenbar so viel mit seinen Problemen in Berlin zu tun hat, daß er leider nicht mehr hierbleiben konnte. Der Herr Regierende Bürgermeister hat hier eine schöne Rede gehalten.
— Ich füge hinzu: Es war auch eine gute Rede. — Ich sage das mit der schönen Rede ganz ohne Ironie. Er hat nämlich sehr nachdenklich, einfühlsam und auch ohne falsche Anklagen von außen über die innere Lage der DDR gesprochen und auch über die Menschen dort.
Ich frage mich bloß: Ist er nicht in Gefahr, wenn er so fortfährt, selbst zu glauben, er und seine Partei habe die Vertragspolitik erfunden? Was hätte wohl ein Parteifreund von ihm gesagt, wenn ein Sozialdemokrat in den 60er oder 70er Jahren in Berlin diese Rede gehalten hätte?
„Nützlicher Idiot" wäre wohl noch der harmloseste Vorwurf gewesen.
Wenn der Regierende Bürgermeister nicht selber ehrlich zugibt, daß er auf den Fundamenten steht, die wir Sozialdemokraten gebaut haben,
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dann denkt man natürlich immer, wenn man solche Reden hört, sie haben die Funktion abzulenken, abzulenken z. B. von Verfassungsschutzfragen, vom Bausumpf, von inneren Problemen.
Hier in Bonn werden die schönen Reden gehalten, und er geht ein bißchen auf Distanz zu dem, was in Berlin selber passiert.
Wenn aber der Regierende Bürgermeister bekennen würde, welches Fundament er hat, auf dem er aufbaut und auf dem er seine Politik jetzt formuliert, dann wäre natürlich ein größeres Maß an Gemeinsamkeit in der ganz wichtigen Frage der Berlin-Politik und der Deutschland-Politik möglich.
Nun zu ein paar konkreten Punkten. In den Ausschüssen — federführend im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen — beraten wir immer noch den Antrag „Die Zukunft Berlins zwischen Ost und West", den die SPD-Bundestagsfraktion als erste vor gut einem Jahr in den Bundestag eingebracht hat. Ursprünglich hatten die Fraktionen die Absicht, soweit möglich, mit einer gemeinsamen Beschlußempfehlung noch vor Ende dieses Jahres wieder in das Plenum zu kommen. Das ist jetzt allerdings nicht mehr so sicher wie vorher.
Es ist nicht mehr so sicher, ob es überhaupt eine gemeinsame Beschlußempfehlung geben wird; denn auf nichtssagende Allgemeinplätze, wie etwa am Beispiel des Luftverkehrs oder der Ausübung alliierter Rechte in Berlin, die die wirklichen Probleme und Konflikte nur verkleistern, werden wir Sozialdemokraten uns nicht einlassen. Aber — auch das verspreche ich — , wir werden alle Anstrengungen unternehmen, in der Sache vertretbare Kompromisse einzugehen, wenn wir zu dem Schluß kommen, daß das Berlin nutzt.
Gemeinsamkeiten aller Fraktionen hier im Bundestag haben Berlin schon oft genutzt. Ich erinnere nur an den Bau einer neuen Eisenbahntrasse für Hochgeschwindigkeitszüge, über den inzwischen mit der DDR verhandelt wird und der wegen seiner gesamteuropäischen Bedeutung immer mehr zu einem europäischen Renommierstück wird, über das sich trefflich auch in Paris, Warschau und Moskau reden läßt. Auch dies war ursprünglich und zuerst ein SPD-Antrag.
Weil wir Sozialdemokraten auch jetzt wieder ein Ergebnis wollen, sind wir einverstanden, unseren Berlin-Antrag aus dem Berliner Wahlkampf herauszuhalten und erst im Februar und März weiter zu behandeln.
— Das ist unbestreitbar; ich gebe das auch zu. Ich
habe deshalb auch gesagt: Wir haben den Antrag als
erste eingebracht. Wir wollen uns hier nicht darüber streiten, Herr Kollege Schulze.
Herr Kollege Schulze, wichtiger ist, daß wir die Zeit bis dahin gut nutzen. Nutzen wir sie nicht, läuft z. B. im Luftverkehr nichts automatisch zugunsten von Berlin , sondern alles dagegen. Hier verfolgt, wie nicht anders zu erwarten, jeder seine eigenen Interessen: Die Sowjetunion will ihre alten Rechtspositionen zum Korridorverkehr wieder ins Spiel bringen. Die DDR möchte mehr Lufthoheit über ihrem Territorium; ich sage einmal in Klammern: Verstehen kann man es ja. Lufthansa und Interflug wollen so schnell wie möglich, d. h. notfalls auch ohne Luftverkehrsabkommen, gegenseitige Überflug- und Landerechte, die Berlin-Tegel genauso wie Berlin-Schönefeld wegen der damit verbundenen komplizierten Rechts- und Machtfragen ausklammern.
Die Bundesregierung ist von diesem Standpunkt ja wohl nicht so weit entfernt.
Die Airbus-Industrie will weiterhin Flugzeuge in den RGW-Wirtschaftsraum verkaufen. Die amerikanischen Luftverkehrsgesellschaften liefern sich untereinander und den anderen Berlin-Tegel anfliegenden Gesellschaften einen harten Verdrängungswettbewerb, um ihr Berliner Standbein in Europa in Hinblick auf Europa 1992 kräftig auszubauen.
Man braucht nur diese Interessenkonstellation realistisch einzuschätzen, um zu begreifen, daß die Berlin-Initiative des amerikanischen Präsidenten, die in Form eines Aide-Mémoire auch von Frankreich und Großbritannien übernommen wurde, jedenfalls was den Luftverkehr von und nach Berlin angeht, mausetot ist, wenn sie überhaupt je auf etwas anderes abzielte, als noch mehr amerikanische Fluggesellschaften in den europäischen Binnenflugverkehr hineinzubringen.
In dieser richtigen Einschätzung haben Air France und Lufthansa durch Euroberlin France schnell vollendete Tatsachen geschaffen, um den Berlin-Luftverkehr nicht allein den anderen zu überlassen. Wie das gemacht wurde, ist angesichts der komplizierten Lage nicht ohne Pfiffigkeit und Kühnheit, so daß man seinen Respekt nur schwer verbergen kann.
Die kritische Frage ist nur: Was haben die Bürger in Berlin eigentlich davon? Ich behaupte, außer noch mehr Flugzeugen, noch mehr Lärm und noch mehr Luftverunreinigungen nichts, absolut nichts. Auch der Konkurrenzkampf und die Billigtarife hier und dort werden wieder neuen Absprachen weichen, wenn erst einmal feststeht, welche Fluggesellschaften in dem Verdrängungswettbewerb, der jetzt gerade stattfindet, die Sieger sein werden.
Dies aber spricht der Herr Regierende Bürgermeister nicht klar aus; vielleicht, weil er nicht einem unserer alliierten Freunde etwas weh tun will. Auch zur Alternative dazu sagt er nicht allzu viel, sondern überläßt das den Sozialdemokraten. Wir wollen das gern übernehmen. Deshalb sage ich noch einmal klar, welches unsere Positionen dazu sind.
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Erstens. Berlin kann als Ost-West-Zentrum des Handels und der Dienstleistungen nur bestehen, wenn seine Verkehrsverbindungen ausgebaut werden. Das darf aber nicht im Widerspruch zu den Notwendigkeiten des Umweltschutzes geschehen. Deshalb hat der Eisenbahnverkehr Vorrang.
Zweitens. Im Luftverkehr muß Berlin-Tegel wie bisher seine Rolle als ein durch die Luftkorridore gesicherter Zugang von und nach Berlin spielen. Ein weiterer Ausbau zu einem internationalen Großflughafen kann jedoch wegen seiner Stadtlage aus Gründen des Lärmschutzes, der Luftverunreinigungen und der Sicherheit nicht in Frage kommen.
Drittens. Statt der Erweiterung von Flugkapazitäten in Berlin-Tegel muß eine enge Kooperation mit Berlin-Schönefeld vertraglich vereinbart werden. Passagiere aus Berlin , aus dem Bundesgebiet oder dem Ausland müssen Berlin-Schönefeld ohne zeitraubende Paßformalitäten auf die schnellste, bequemste und internationalen Maßstäben entsprechende Weise benutzen können. Der Euro-Airport Basel/Mülhausen, der grenzüberschreitend von den Bürgern der gesamten dortigen Region benutzt wird, ist ein Beispiel. Es ist absoluter Unsinn, das bisher bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen Tegel und Schönefeld weiter kultivieren zu wollen.
Viertens. Die Berlin-Initiative der drei Mächte und die Antwort der Sowjetunion haben klargemacht, daß es Verbesserungen im Luftverkehr in und um Berlin nur gemeinsam mit der DDR geben wird oder nicht geben wird. Die Interessen von Berlin können deshalb nur wirksam im Zusammenhang mit einem deutsch-deutschen Luftverkehrsabkommen eingebracht werden. Dabei müssen die Vier Mächte in Ausübung ihrer jeweiligen Rechte und Verantwortlichkeiten mitwirken.
Fünftens. Aus diesen Gründen ist es nun an der Zeit, daß die Bundesregierung die Initiative für Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen mit der DDR ergreift, das auf der Grundlage der Lufthoheit der beiden deutschen Staaten gegenseitige Lande- und Überflugrechte von Lufthansa und Interflug regelt, ohne den alliierten Luftverkehr in den Luftkorridoren nach Berlin zu berühren. Dabei müssen Lufthansa und Interflug zukünftig genauso wie die alliierten Luftverkehrsgesellschaften, allerdings außerhalb der Luftkorridore, das Recht haben, die deutsch-deutsche Grenze zu überfliegen, auch muß die Lufthansa künftig Berlin-Tegel anfliegen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt kaum ein besseres Beispiel als den Luftverkehr von und nach Berlin, um deutlich zu machen, wie verschachtelt das Interessen- und Machtgeflecht ist, das über Berlin lagert. Berlin-Politik ist deshalb immer ein Spiel mit mindestens sechs Bällen, und man muß schon aufpassen, daß man jeweils nach dem richtigen Ball greift, wenn man nicht alle sechs verlieren will. Das ist nicht prinzipiell neu, sondern war schon so, als es Anfang der 70er Jahre galt, auf der Basis des Status von Berlin im Viermächteabkommen die Spielregeln neu zu definieren.
Status und Viermächteabkommen bleiben die Grundlage, solange es eine bessere nicht gibt. Aber auf dieser Grundlage verschieben sich die politischen Gewichte der einzelnen bewegenden Faktoren ständig. So wächst den Deutschen in beiden Staaten und in Berlin unaufhörlich eine immer größere eigene Verantwortung für die Gestaltung der Ost-West-Beziehungen in Mitteleuropa zu. Wenn sich die Frage der Souveränität nicht eines Tages explosiv und dann schädlich stellen soll, dann dürfen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die Deutschen immer weniger daran hindern, die Organisation ihres friedlichen Zusammenlebens zunehmend selbst zu regeln.
Die Epoche, in der Berlin seine Sicherheit und Integrität nicht mehr im Ost-West-Konflikt, sondern in der Ost-West-Kooperation finden wird, hat schon begonnen.