Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die jährliche Debatte über die Lage der Nation ist immer mehr gewesen als eine normale deutschlandpolitische Diskussion. Sie ist vielmehr — oder sollte es doch sein — eine ernsthafte Zustandsbeschreibung unserer geteilten Nation.
Wir reden über die innerdeutschen Beziehungen. Dazu haben wir auch allen Grund. Die Bundesregierung, insbesondere das Kanzleramt und der Bundeskanzler persönlich, hat dankenswerterweise — auch heute wieder — nie einen Zweifel daran gelassen, daß Berlin in alle Fortschritte der Ost-West-Politik und der innerdeutschen Politik voll einzubeziehen ist.
Gerade aus Berliner Sicht ist dieses Jahr 1988 in der Deutschlandpolitik seit vielen Jahren, vielleicht seit dem Viermächteabkommen, das erfolgreichste Jahr überhaupt. Ich erinnere nur an die jetzt gegebene Übernachtungsmöglichkeit im Rahmen der Tagesbesuche für Berliner, an die gemeinsame Erklärung zwischen Europäischer Gemeinschaft und RGW, an den Abschluß des Gebietsaustauschs in Berlin, an die Einigung über den Stromverbund, an die Aufnahme der Eisenbahnverhandlungen sowie an die Neuvereinbarung der Transitpauschale und damit verbunden, die Einigung über einen neuen Südübergang und praktische Verbesserungen auf den Transitstrecken. Ich erinnere an die Aufnahme von Kontakten Berliner Bezirke zu Nachbargemeinden in der DDR und an den wirklich bemerkenswerten kulturellen Austausch in diesem Jahr, insbesondere auch in Berlin.
Das alles verdient besondere Beachtung.
Andererseits müssen wir aber in all diesen Debatten genauso über die Befindlichkeiten in der DDR — nicht nur der DDR — reden. Ich will mich deshalb in meinem Debattenbeitrag vorwiegend mit der Lage in der DDR, mit den Menschen in der DDR, mit der Lage dieses Teils unserer gemeinsamen deutschen Nation beschäftigen.
So verstehe ich auch die Aufgabe von Berlin aus. Wir Berliner sind den Deutschen in der DDR geographisch am nächsten und auch menschlich am nächsten. Wir wollen ganz ohne jede Bevormundung ihre Hoffnungen und Erwartungen im Westen Deutschlands deutlich machen und verstärken. Berlin hat insofern auch eine pädagogische Funktion nach Westen. Wir wollen klarmachen, daß die deutsche Nation mehr ist als die Bundesrepublik Deutschland, daß ein
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8111
Regierender Bürgermeister Diepgen
Leipziger oder ein Rostocker genauso Deutscher ist wie ein Kölner und ein Stuttgarter.
Wie also sieht die Lage in der DDR heute aus? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Glatte Analysen etwa über die Ablehnung von Perestroika, über Verbote und Repressionen greifen da doch zu kurz.
Wir haben es mit sehr widersprüchlichen Entwicklungen zu tun. Einerseits gewinnt man den Eindruck, daß polizeiliche Zwangsmaßnahmen überhandnehmen. Andererseits spricht die DDR-Führung selbst von notwendigen Wandlungen — sie benutzt diesen Begriff — und bereitet so in einem sensiblen Feld wie dem der Rechtspolitik neue Schritte vor. Das betrifft z. B. mehr Rechte für Strafverteidiger und die offenbar bevorstehende Einführung einer Art von Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Einerseits kann man in DDR-Theatern bisher nie erlaubte kritische Stücke sehen; andererseits nehmen kleinkarierte Zensurmaßnahmen auch im kulturellen Bereich zu. Generalsekretär Honecker spricht davon, daß die Gesellschaft der DDR das Gütezeichen einer Gesellschaft trägt, in der ein Mensch ein Mensch sein kann — so formuliert er das — , und gleichzeitig — davon war hier bereits die Rede — werden Schulkinder wegen harmloser Forderungen brutal von der Schule verwiesen.
Luther, Friedrich der Große und Bismarck werden differenziert gewürdigt; aber die jüngste Geschichte — z. B. Fragen nach dem Stalinismus, nach dem Hitler-Stalin-Pakt und den Ursachen der Teilung — wird immer noch tabuisiert oder verdreht. Westfernsehen wird dagegen nicht mehr tabuisiert. Fernsehkooperation mit öffentlich-rechtlichen Anstalten aus der Bundesrepublik Deutschland wird verabredet; aber sowjetische Filme werden verboten. Der Dialog nach außen wird gefordert und geführt, Friedenspolitik wird angemahnt; aber nach innen praktiziert die DDR-Führung Friedlosigkeit; der Dialog nach innen wird verweigert. Die DDR beklagt sich über einseitige westliche Berichterstattung. Gleichzeitig aber macht sie eine Politik, die diese Berichterstattung geradezu hervorruft und herausfordert. Das alles paßt nicht zusammen.
Die Ursachen für diese unklare Lage liegen tiefer als nur in einer abwartenden und zögerlichen Haltung gegenüber einem vielleicht neuen oder dem neuen sowjetischen Kurs. Ich will ein paar dieser tieferliegenden Ursachen hier nennen.
Erstens. In der DDR vollzieht sich — später als bei uns — ein Generationswechsel. Die Mehrheit der Deutschen in der DDR kennt nur das bisherige System, in dem sie aufgewachsen ist. Die jahrelange sozialistische Erziehung hat wider Willen nicht Zustimmung, sondern Sensibilität und Kritikfähigkeit bewirkt. Die jüngere Generation in der DDR ist eine im guten Sinne unerzogene Generation.
Zweitens. Trotz hartnäckiger Versuche ist es den DDR-Ideologen nicht gelungen, eine nationale Identität der DDR zu begründen. Das überrascht uns natürlich nicht. Aber das reduziert die Legitimitätsfrage der Menschen nach wie vor und immer stärker auf die Frage nach der Akzeptanz des Sozialismus.
Drittens. In der DDR wächst der Mut, den Bruch zwischen der rechtfertigenden Ideologie und der harten Realität wahrzunehmen und vor allen Dingen auch auszusprechen. Die Menschen lassen sich nicht mehr so ohne weiteres ein X für ein U vormachen. Die Reaktionen auf das Leugnen von Problemen durch die DDR-Führung sind Widerspruch und Engagement, aber auch Zynismus und Resignation. Hier liegt vielleicht eine der wesentlichen Ursachen für die hohen Ausreisezahlen. Das Schlimme daran ist: Im Grunde wollen vielleicht gerade die Besten keine Ausreise; sie begehren im Gegenteil Einlaß, Mitsprache und Mitgestaltung. Viele, die keinen Ausreiseantrag stellen, reisen nach innen aus, sie verweigern sich. Die DDR ist dabei, ihre besten Köpfe zu verlieren, und zwar durch Emigration nach außen oder nach innen. Der tägliche Kampf um die Bewältigung des Alltags, um Wohnungen, um Waren, um Reisen, um menschliche Wärme, um Akzeptanz des Menschen zermürbt die Menschen.
Darauf reagiert die Führung der DDR mit Nervositat; auf gesellschaftliche Kritik reagiert sie mit Nervosität. Sie selbst treibt beispielsweise die Kirche in eine Rolle der Sammlung von Kritik — eine Rolle, die die Kirche am allerwenigsten gewollt hat. Die DDR-Führung sperrt sich gegen einen Wandel, der doch unausweichlich ist. Sie sperrt sich, statt ihn selbst zu bestimmen. Sie baut neue Mauern nach Osten auf und will eine Glocke des Schweigens auf die Gesellschaft stülpen.
Was sie tut, entmutigt die, die gerade zum Bleiben ermutigen wollen. Das ist einer der schlimmen Fakten der gegenwärtigen Entwicklung in der DDR.
Es sind also nicht die westlichen Medien oder westliche Politiker, die die Lage in der DDR verschärfen. Es ist die Führung der DDR selbst, die sich vor hausgemachte Probleme gestellt sieht.
Was können wir im freien Teil dieses Landes in dieser Lage tun?
Lassen Sie mich dazu vorweg sagen — das richtet sich vor allem an unsere Landsleute in der DDR — : Wir können, so bitter das ist, nicht so viel tun, wie die Deutschen in der DDR von uns erwarten. Das müssen wir sehen. Das darf aber kein Alibi für Nichtstun werden.
Ich will in meinem Beitrag an dieser Stelle die staatliche Ebene außen vor lassen und nur dazu etwas sagen, was wir Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland tun können, was jeder Bürger bei uns tun kann. Wir alle können dazu beitragen, die Einheit der Nation trotz der Teilung erlebbar zu machen.
Vergeßt uns nicht! Das ist ein Satz, den jeder sogenannte Westdeutsche, der mit Deutschen aus der DDR spricht, immer wieder hört. Diese Mahnung müssen nicht nur wir Politiker, sondern müssen alle viel, viel ernster nehmen.
Wir müssen ganz einfach menschliche Solidarität zeigen, Überheblichkeiten gegenüber den Deutschen in
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der DDR abbauen, besser hinsehen, ein Ohr auch für Zwischentöne entwickeln, zuhören lernen und menschliche Brücken bauen. Als Christ sage ich: Wir müssen die Deutschen in der DDR als unsere Nächsten ansehen und ernst nehmen.
Was ich hier vorschlage, was meine Forderung ist, das ist das Gegenteil von dem, was manche bei uns selbstgerecht und sehr überheblich als Deutschtümelei abtun.
Wer so mit der Sprache, mit dem Problem umgeht, hat wirklich nichts verstanden.
In der DDR wächst jeder Mensch sozusagen mit der Bundesrepublik Deutschland auf. Das ist eine Folge auch der Medien, der Kommunikation, übrigens auch der Kommunikation auf der Grundlage der Folgen der Politik dieser Bundesregierung. Es wächst also jeder Mensch sozusagen mit der Bundesrepublik Deutschland auf. Und bei uns sollte das umgekehrt auch wieder so werden.
Neben dem menschlichen Klima und neben der Verhärtung in der DDR, was die Lage unserer geteilten Nation angeht, ist es der Zustand der Umwelt, der Anlaß zu großer Sorge gibt. Das hat der Bundeskanzler hier bereits herausgestellt.
Die Führung der DDR beginnt, dies zu erkennen. Der Erfolg der Bundesregierung in der Elbe-Frage ist dafür ein Anzeichen. Aber die Fortschritte in der innerdeutschen Umweltpolitik sind zu langsam — zu langsam angesichts des Tempos der Umweltzerstörung.
Uns darf und kann dies nicht egal sein; zum einen aus sachlichen Gründen: Die Luft macht vor Grenzen und Systemen keinen Halt; aber auch aus nationalen Gründen: Wenn wir die Einheit der Nation ernst nehmen, dann ist das Sterben des Thüringer Waldes auch unser Problem.
Der eine darf den anderen nicht belasten. Wir Deutschen leben nicht nur in einer Verantwortungsgemeinschaft vor der Welt für die Geschichte, wir leben genauso in einer Verantwortungsgemeinschaft für die Zukunft unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Unsere Kinder und Enkel werden uns daran erinnern.
Umweltschutz in Deutschland, das ist deshalb eine deutsche Gemeinschaftsaufgabe. Umweltschutz in Deutschland, das muß das große Thema der innerdeutschen Politik des kommenden Jahrzehnts werden.
Genauso wie der Rhein oder die Nordsee Gegenstand gemeinsamer Bemühungen der betroffenen Staaten sind, müssen Luft- und Gewässerschutz in Deutschland Gegenstand gemeinsamer Bemühungen über die innerdeutsche Grenze hinweg sein. Konkret heißt das: Die Deutschen in West und Ost müssen gemeinsam die Umwelt in Deutschland wieder in Ordnung
bringen. Erforderlich ist, daß sich dazu beide Seiten zusammensetzen und nach dem Abschluß des Umweltabkommens ein langfristiges Programm, ein Zehn-Jahres-Programm, für eine saubere Umwelt erarbeiten. An den Kosten müssen sich dabei beide Seiten beteiligen, weil auch beide Seiten — d. h. die Deutschen in beiden Staaten — etwas davon haben. Aber das bedeutet eben auch, daß wir gefordert sind, finanziell von seiten der Kenntnisse, die wir einbringen, von seiten des Gesamtengagements.
Meine Damen und Herren, es wird immer wieder davon gesprochen, daß es an Konzeptionen und Visionen in der Deutschlandpolitik fehle. Ich halte das für falsch. Es fehlt nicht an Konzepten, es fehlt auch nicht an Visionen, an Hoffnungen zur Überwindung der Grenzen, der Teilung dieses Kontinents und dieses Landes. Was wir brauchen, ist der Mut, wirklich das zu tun, was wir für wichtig halten und was wir auch in Reden immer wieder verkünden. Was wir brauchen, ist eine große Bürgerinitiative menschlicher Solidarität für die gelebte und erfahrbare Einheit der Nation und eine gemeinsame große Aktion für den Umweltschutz in Deutschland.
Wenn wir dies anpacken, dann dienen wir den Menschen dieses geteilten Landes am besten und genauso auch unserem Ziel, der Vision, der realen Utopie, dem Ziel, das wir möglichst kurzfristig anstreben, nämlich dem Ziel der Einheit in Freiheit.