Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im nächsten Jahr sollen nach dem Willen der Bundesregierung landauf,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8107
Dr. Lippelt
landab 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland gefeiert werden. Die DDR wird Ähnliches tun. Heute aber debattieren wir über die Lage der Nation. Welcher Nation eigentlich?
Staatsnation BRD, Staatsnation DDR, Kulturnation Deutschland — man unterscheidet gelegentlich zwischen Staatsnation und Kulturnation — oder jene historische Nation, die 1945 endete?
Nationen sind keine Naturtatsachen. Sie definieren sich nicht über gemeinsame Sprache, wie Völker es tun. Sie definieren sich über gemeinsame Geschichte. Sie sind auf komplizierte Art und Weise historisch entstanden, und sie können historisch auch wieder verwirkt werden. Was zählt also?
Die gemeinsame Geschichte endet in zwölf Jahren Faschismus, in der Zerstörung Europas, insbesondere in der Zerstörung jenes gemischt-völkischen Zusammenlebens, das einstmals Osteuropa war. Oder zählen die 40 Jahre paralleler Geschichte, hier als Bundesrepublik, dort als DDR? Über die Lage der Nation zu sprechen heißt deshalb auch, über eine historische Fiktion zu sprechen.
Und doch sind natürlich die beiden Staaten, die sich jetzt anschicken, je den 40. Geburtstag zu feiern, auf vielfältige Art aufeinander bezogen. Nur, sie haben ihren eigenen Weg gemacht, sie haben ihre eigenen Gesellschaften ausgeformt. Zu debattieren ist deshalb erstens über die Lage der Bundesrepublik, zweitens über die der DDR und drittens über die Beziehungen dieser beiden Staaten zueinander.
Erstens. Die Lage der Bundesrepublik definiert sich heute weit mehr aus ihren Beziehungen zu den Staaten Westeuropas, insbesondere zu Frankreich, als eben aus den Beziehungen zur DDR. Wir werden in einigen Stunden über den Versuch debattieren, den deutsch-französischen Beziehungen eine neue Qualität zu geben. Bemerkenswert ist es schon, daß gerade diejenigen, die immer so schnell das Wort von der Wiedervereinigung im Munde führen, so gedankenlos die Westintegration betreiben. Wie erklären Sie diesen Widerspruch eigentlich? Stehen Sie damit nicht in derselben Kontinuität des Irrtums, die auf Adenauer zurückgeht, der meinte, über die Westintegration die Frage der Wiedervereinigung lösen zu können?
Oder ist es nicht vielleicht auch eine Kontinuität der Augenwischerei, weil Sie es im Grunde genauso wissen, wie es damals Adenauer wußte, daß sich beides ausschließt? Es sei denn, Sie setzen auf eine Abenteuerpolitik, auf die Politik, über die Stärke im Westen die Wiedervereinigung erzwingen zu können oder sie jetzt über ökonomische Stärke aus einer eventuellen Konkursmasse herausholen zu können.
Zweitens. Über die Lage der DDR ist in der Tat im Kontext der Lage in den sogenannten realsozialistischen Staaten zu sprechen. Da erleben wir doch gegenwärtig eine Phase des Aufbruchs in der Sowjetunion. Gorbatschows Politik hat Kräfte freigesetzt, die auf eine ehrliche Bilanz und einen fundamentalen Neubeginn setzen. Trotz aller Skepsis wegen der autoritären Züge von Gorbatschows Reform von oben wünschen wir alle, daß dieses Reformwerk gelingen möge.
Angesichts der Auseinandersetzungen in der Sowjetunion sind auch die Widersprüche zwischen den Staaten des RGW in Osteuropa und innerhalb dieser Länder schroffer zutage getreten. Während Ungarn sich um tiefgehende Reformpolitik bemüht, die CSSR und Bulgarien sich auf wirtschaftliche Reformen beschränken wollen und alles tun, um Kräfte, die auch auf politische Reformen drängen, zu isolieren, während in Polen Rakowski die anstehende Legalisierung der „Solidarnosc" immer wieder neu zu umgehen versucht, hat sich die DDR mehr und mehr zu einem Kurs der Abschottung von den aus der Sowjetunion kommenden Reformen entschlossen. Da wird die Zeitschrift „Sputnik" genauso verboten wie die Aufführung sowjetischer Filme und die „Budapester Rundschau".
Die Abschottung von Reformeinflüssen aus dem eigenen Lager geht notwendigerweise mit einer Verschärfung der Kontrolle der Gesellschaft einher: Kirchliche Zeitschriften werden zensiert, da werden — ähnlich wie schon einmal im Februar — Leute, die sich für die Zustände im Lande, das sie als ihre Heimat begreifen, engagieren, gegen ihren Willen in die Bundesrepublik abgeschoben. Da werden Schüler, die sich gegen Militarismus aussprechen, wegen pazifistischer Grundhaltung relegiert.
Die Politik der Perestroika in der Sowjetunion, in Polen, in Ungarn geht nicht nur um die Fragen der Reorganisation der Wirtschaft, sie geht im Kern um das Rearrangement der gesellschaftlichen Kräfte, sie geht um Verfassungsreformen. Wir haben es längst aufgegeben, unsere Gesellschaft kontrollieren zu wollen, sagte ein polnischer Parteifunktionär. Genau auf diese gesellschaftliche Kontrolle aber meint die Regierung der DDR nicht verzichten zu können. Kräfte politischer Reformen werden innerhalb von Regierung und Partei auch nicht erkennbar. Das ist ähnlich wie in der CSSR.
In beiden Fällen hat das seine Gründe nicht nur in der Altersstruktur der Führung. Die Tschechoslowakei hat das Trauma des Prager Frühlings aufzuarbeiten, die DDR aber lebt aus der antifaschistischen Gründung. Sie hat — anders als die Bundesrepublik — gemeint, in bewußter und konsequenter Abkehr von einer faschistischen nationalen Vergangenheit neu anzufangen. Deshalb geht die Stalinismus-Diskussion, so wie „Sputnik" sie jetzt zugänglich macht, so sehr an die Wurzeln ihrer staatlichen Legitimation.
Das ist nichts, worüber wir Schadenfreude empfinden könnten; denn in der Tat: Die Bundesrepublik hat sich nie einer so radikalen Aufarbeitung der Vergangenheit gestellt, wie die sowjetische Gesellschaft es tut.
Aber natürlich muß gesehen werden, daß die DDR und beispielsweise Polen sich genau an dem Punkte unterscheiden, daß in der DDR das Tiefenbewußtsein einer nationalen Geschichte, auf das sich Polen auch in der schwersten wirtschaftlichen Krise immer noch
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stützen kann, fehlt. Die Freigabe der Gesellschaft vom Staat, von der Partei, nötig für eine wirksam durchgreifende Perestroika, ist ein Problem, mit dem die Herrschenden nicht fertig werden. Die Tragik ist, daß sie sich gerade gegen jene Kräfte wenden, die sich für eine lebenswertere Perspektive in dieser DDR einsetzen.
Drittens. Erst hiernach, erst nach einer solchen Analyse, können wir nun über die deutsch-deutschen Beziehungen sprechen. Vordergründig betrachtet kann die Bundesregierung zu Recht auf mehr Besuchsreisen — der Herr Bundeskanzler hat es getan — und auf einen Ausbau der kulturellen Beziehungen hinweisen. Aber die Kernfrage lautet doch: Wie verhält sie sich eigentlich zu der sich zuspitzenden Situation in der DDR und zu den Differenzierungsprozessen in Osteuropa unter dem Reformdruck der Sowjetunion?
Es war ja richtig, daß sie mit dem Honecker-Besuch die Politik der sozialliberalen Koalition aufgenommen und fortgeführt hat; darauf hat Herr Vogel richtig hingewiesen, und daran gibt es auch nichts zu deuteln. Nur stellt sich natürlich angesichts der dramatischen Vorgänge in Osteuropa die Frage — sie stellt sich dann an beide Seiten — , ob die programmatischen Grundlagen dieser Deutschlandpolitik noch ausreichen oder ob sie die bundesdeutschen Handlungsmöglichkeiten nicht immer weiter einschränken.
Für die Bundesregierung stellt sich faktisch doch nur folgende Alternative: entweder Beziehungen zu Bedingungen, die faktisch auf eine Stabilisierung der reformfeindlichen Kräfte in der DDR hinauslaufen, oder eine Politik, die langfristig auf den Zusammenbruch der DDR spekuliert und darin eine Chance für die Wiedervereinigung sieht. Die Variante Schäuble unterscheidet sich um keinen Deut von früherer SPD-Politik. So, wie Helmut Schmidt in Güstrow bei Honecker saß, als der Kriegszustand gegen die „ Solidarnosc " ausgerufen wurde, gratulieren sich jetzt Herr Schäuble und Herr Honecker zur Verbesserung der Beziehungen, während gleichzeitig die Schüler von den Schulen geworfen werden.
Die andere Alternative — nennen wir sie einmal die Alternative Hennig oder noch besser die Alternative Maetzke von der „FAZ", die die Regierung in diesem Punkte ja sehr kritisiert — setzt auf Konfrontation. Sie ist aber gefährliches Abenteurertum, das nicht nur die Menschen in der DDR auszubaden hätten, sondern das auch den gesamten KSZE-Prozeß und die außenpolitische Öffnung der Sowjetunion faktisch bedroht. — Ich kann diese Alternative natürlich auch „Variante Lintner" nennen.
Nun schöpfen aber beide Alternativen ihre Legitimation aus dem Offenhalten der Wiedervereinigungsoption. Das Festhalten an der Wiedervereinigung schafft ein Strukturmuster, das jede Bundesregierung entweder zu Passivität und Reaktivität verdammt oder, wenn es operativ verstanden wird, zum Sprengsatz für den europäischen Entspannungsprozeß wird.
Genau hier verbindet sich die deutschlandpolitische Diskussion mit der allgemeinen außenpolitischen. Wenn der Bundeskanzler, wenn die Kollegen Lamers und Rühe immer wieder den Zusammenhang zwischen der Schaffung einer europäischen Friedensordnung und der Wiedervereinigung betonen, so müssen sie erklären, wie sie dies ohne Hintergedanken und ohne Spekulationen auf einen Zerfallsprozeß in Osteuropa erreichen wollen.
Ist es nicht ehrlicher, zu akzeptieren, daß 40 Jahre Bundesrepublik, 40 Jahre DDR, 50 Jahre seit dem Kriegsausbruch, seit dem Überfall auf Polen, und die Verwirkung nationaler Einheit zusammengehen? Dann und nur dann sind wir frei zu einer entschlossenen Politik der Verwirklichung einer europäischen Friedensordnung.
Im Rahmen dieser Politik werden und müssen wir von der DDR genauso wie von den anderen Staaten Osteuropas fordern, daß sie ihre Gesellschaften aus dem Griff von Partei und Staat entlassen. Nur dann sind wir frei, von der DDR-Führung die Aufgabe der Repressionen gegenüber ihrer Gesellschaft zu verlangen, wenn keinerlei Spekulation auf eine Destabilisierung der DDR dahintersteht.
Da die Bundesregierung aber genau diese Konsequenz des Denkens scheut, stabilisiert sie die reformfeindlichen Kräfte der DDR in ihren jetzigen Herrschaftszuständen. Sie stimmt einer Erhöhung der Transitpauschale zu, sie setzt sich weiter für privilegierte Wirtschaftsbeziehungen ein, ein Punkt, an dem sie mit der Verwirklichung des Binnenmarktes früher oder später in Konflikt mit der Westintegration geraten wird. Sie ermöglicht über diese privilegierenden Wirtschaftsbeziehungen zu einem guten Teil auch, daß die DDR-Führung versuchen kann, sich aus der Reformpolitik ihrer Nachbarstaaten herauszuhalten; denn diese Reformpolitik ist natürlich auch von ökonomischen Notwendigkeiten bedingt, die sich in der DDR in diesem Maße noch nicht zur Geltung bringen.
Wir GRÜNEN fordern die Aufgabe der Wiedervereinigungspolitik, weil dieser Verzicht uns jetzt für eine notwendige Europapolitik handlungsfähig macht, die über die Verkürzung des Begriffs „Europa" auf „Westeuropa" hinausgeht. Herr Bundeskanzler, Sie haben die Differenz heute sehr deutlich gemacht. Sie haben die alte Formel wieder aufgenommen und wiederholt: Einheit nicht auf Kosten der Freiheit. Die Formel ist sehr alt.
Die Frage ist, ob nicht inzwischen umgekehrt ein Schuh daraus wird: Können Freiheit und offene Systeme nicht auch auf Kosten der Einheit herbeigeführt werden? Denn wenn ehrlich über Europa geredet wird, über eine Friedensordnung eines Europa in Freiheit, dann muß das Europa, das Ihnen vorschwebt, doch ein Europa der Regionen, ein Europa offener Grenzen und ein Europa mit offenen Systemen sein.
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Wenn Sie dies erreichen wollen und zwar schnell, wenn Sie handlungsfähig werden wollen, wenn Sie den KSZE-Prozeß zu einem Friedensprozeß machen wollen, dann, Herr Bundeskanzler, werden Sie über diesen Punkt noch einmal sehr gründlich nachdenken müssen. Sie werden auch darüber nachdenken müssen, was es eigentlich kostet, wenn diese illusionäre Wiedervereinigungspolitik aufgegeben wird, und was es politisch an Handlungsfähigkeit bringt.