Rede von
Dr.
Hans-Jochen
Vogel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Aussprache über Ihre Regierungserklärung vom 10. November 1988, in der Sie, Herr Bundeskanzler, über Ihre Moskau-Reise berichteten, habe ich der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß zwischen der Koalition und uns hinsichtlich wichtiger Elemente der Ostpolitik künftig eine gewisse Gemeinsamkeit möglich sei. Ihre heutige Regierungserklärung läßt es als denkbar erscheinen, daß eine solche Gemeinsamkeit auch in bezug auf bestimmte Elemente der Deutschlandpolitik erreicht werden kann; dies deshalb, weil Sie inzwischen nicht nur verbal, sondern auch inhaltlich relevante Teile unserer Deutschlandpolitik, die Sie — und das darf nicht verschwiegen werden — in den 70er Jahren erbittert bekämpft haben, übernommen haben.
Auf dieser Grundlage sind in den letzten Jahren und Monaten in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, aber auch hinsichtlich der Lebensverhältnisse der Menschen in beiden Staaten, fühlbare und begrüßenswerte Verbesserungen erreicht worden. Einige davon haben Sie genannt, so etwa die erhebliche Zunahme der Besuchsreisen in beiden Richtungen, die gestiegene Zahl von Übersiedlungsgenehmigungen, die wachsende Anzahl von Städtepartnerschaften, den zunehmenden Austausch in Wissenschaft und Kultur, die Verständigung darüber, daß mit der Sanierung der Elbe unabhängig von der Regelung der Grenzfrage begonnen werden kann und die Aufnahme von Verhandlungen über die Verbesserung des Schienentransitverkehrs zwischen Westdeutschland und Berlin-West.
Dies alles ist wohlgemerkt nicht deswegen erreicht worden, weil Sie nach 1982 die von Ihnen während Ihrer Oppositionszeit proklamierte Politik der Maximalforderungen und der Konfrontation praktiziert haben, sondern deswegen, weil Sie sich auf den Boden unserer Politik gestellt und nach Ihrem Vermögen versucht haben, die von uns vorgezeichnete Linie fortzusetzen.
Es wäre nicht unredlich gewesen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie das eingeräumt und nicht mit einem in diesem Zusammenhang eher kleinkariert wirkenden Stillschweigen übergangen hätten.
Übrigens: Im Zusammenhang mit gewissen Gegenleistungen der DDR haben Sie vor kurzem die jährliche Transitpauschale um 335 Millionen DM auf 860 Millionen DM erhöht. Erinnern Sie sich noch, Herr Bundeskanzler, mit welch polemischer Kritik Sie als Opposition auf wesentlich geringere finanzielle Steigerungen zu unserer Zeit reagiert haben?
Ich will hier nicht darüber rechten, ob die jüngste Erhöhung in jeder Hinsicht angemessen war, obwohl man darüber durchaus in Ehren unterschiedlicher Meinung sein kann. Ich will an diesem besonders überzeugenden Beispiel nur deutlich machen, daß Sie auf diesem Gebiet heute genau das tun, was Sie uns früher vorgeworfen haben. Und ich sage: Erfreulicherweise tun Sie es.
Ich sagte, Sie seien auf die Linie unserer Deutschlandpolitik jedenfalls in Teilen eingeschwenkt oder bemühten sich doch darum. Diese Bemühungen sind jedoch nach wie vor mit erheblichen Unsicherheiten und Unklarheiten über Ihre Grundposition belastet. Das gilt u. a. für Ihre Haltung in der Grenzfrage.
In Moskau haben Sie beispielsweise im März 1985 in einer von Ihnen und Herrn Honecker als Staatsratsvorsitzendem der DDR gemeinsam unterzeichneten Erklärung gerade auch mit Bezug auf die DDR wörtlich erklärt:
Die Unverletzlichkeit der Grenzen
— auch gegenüber der DDR —
und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden.
Dessenungeachtet machen Sie Ihrem Generalsekretär Vorwürfe und pfeifen ihn zurück, weil er kürzlich die Wiederherstellung von Vorkriegsgrenzen — er sprach wörtlich von den Grenzen von 19xy — als illusorisch bezeichnet hat. Herr Bundeskanzler, was gilt denn nun? Worauf können und sollen sich denn in Anbetracht solcher Widersprüchlichkeiten unsere Nachbarn in Europa eigentlich verlassen können?
— Lieber Herr Kollege Waigel, ich habe nicht die Absicht, Ihre Auseinandersetzung mit Herrn Geißler hier aufzunehmen. Da müssen Sie ihn schon selber fragen.
— Natürlich gilt für jeden, der unsere Verfassung bejaht, auch die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes. Darüber brauchen wir doch hier keine Auseinandersetzung zu führen.
Die gleiche Widersprüchlichkeit ergab sich im übrigen bei der Behandlung Ihres deutschlandpolitischen Papiers. Es enthielt zunächst durchaus realistische Gedanken und unterschied sich dadurch wohltuend von früheren Papieren und früheren Aussagen. Realistisch war insbesondere auch die Feststellung, daß jede Veränderung des Status quo in Mitteleuropa eine positive Haltung unserer Nachbarn voraussetze. Wohl
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wahr! Als dagegen der rechte Flügel Ihrer Partei protestierte, mußte das Papier auf Ihr Geheiß, Herr Bundeskanzler, geändert werden und ihm außerdem ein Adenauerzitat vorangestellt werden, demzufolge die Wiedervereinigung Deutschlands das vordringlichste — also das allererste und alleroberste — Ziel Ihrer Politik sei.
Herr Bundeskanzler, Entschuldigung, das ist doch ein Märchen, mit dem Sie den rechten Rand Ihrer Partei beschwichtigen wollen. Schon für Adenauer war die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis, die auch wir seit der historischen Rede Herbert Wehners vom Juni 1960 akzeptiert haben und die wir unbeschadet der Meinungsverschiedenheiten über die richtige Strategie des Bündnisses unverändert bejahen, wichtiger als die Wiedervereinigung. Wo beides miteinander in Konflikt geriet, hat er sich für die Westintegration ausgesprochen und nicht für das, was Sie als vordringlichstes Ziel bezeichnen.
Adenauer wußte doch ganz genau, daß sich Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung gegenseitig ausschlossen. Und Sie, Herr Bundeskanzler, wissen doch ebenso genau, daß auch heute die Zugehörigkeit der beiden deutschen Staaten zu ihren jeweiligen Bündnissen mit ihrer Vereinigung oder gar mit der Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 unvereinbar ist. Das ist doch die Realität. Warum wird sie nicht ausgesprochen?
Meine Damen und Herren, es fällt mir schwer, Herrn Geißler in irgendeinem Punkt zuzustimmen. Aber er hat doch recht, wenn er eben dies klipp und klar ausspricht und damit der Meinung des Herrn Kollegen Dregger entgegentritt, es müsse und werde eine Anknüpfung an das Bismarckreich geben, und das ganze Problem reduziere sich darauf, wie sich der Anschluß der DDR an die Bundesrepublik vollziehen lasse und eines Tages vollziehen werde. Dies sind doch gegensätzliche Positionen.
Wahr ist demgegenüber: Keiner von uns weiß — und da stimme ich dem Bundeskanzler zu — , welche Antwort die Geschichte auf die Frage der deutschen Teilung bereithält. Die Präambel des Grundgesetzes — um auch den Zwischenruf von Herrn Kollegen Waigel noch einmal aufzunehmen — läßt durchaus auch eine Antwort im Rahmen einer europäischen Friedensordnung zu, einer Ordnung, die die Grenzen durchlässiger macht, Feindbilder überwindet, die individuellen und die sozialen Menschenrechte stärkt und den Deutschen ohne Rücksicht auf ihre staatliche Organisation erlaubt, sich weiterhin als Glieder ein und derselben Geschichts-, Kultur-, Sprach- und Gefühlsgemeinschaft, also einer Nation — dies sind nämlich die konstituierenden Elemente des Nationenbegriffes — , zu verstehen, innerhalb deren unterschiedliche Gesellschaftsordnungen miteinander im friedlichen Wettbewerb stehen.
Übrigens ist die Frage der Nation ja auch im Grundlagenvertrag festgehalten worden, und der Grundlagenvertrag ist als Vertrag internationaler Qualität jeder innerstaatlichen Regelung übergeordnet.
Meine Damen und Herren, die DDR kann die Nation nicht abschaffen, wir auch nicht, und wir wollen es auch nicht. Das ist der Kern dessen, was uns das Grundgesetz zu bewahren aufgibt.
Das ist zugleich eine realistische Perspektive für die Zukunft und keine irreale Flucht in die Vergangenheit. Es ist die Voraussetzung dafür, daß die Selbstbestimmung der Deutschen auch in der DDR zunimmt. Das, glaube ich, ist doch unser gemeinsames Ziel.
Das Streit- und Dialogpapier, das in einem langen und nicht einfachen Prozeß von Mitgliedern meiner Partei und Repräsentanten der SED erarbeitet worden ist, zielt in diese Richtung. Es verwischt keine Unterschiede; es verdrängt nicht die Opfer, die in den Jahren der Zwangsvereinigung und im Widerstand ge- gen den Stalinismus gerade vom Sozialdemokraten gebracht worden sind.
Aber es setzt Maßstäbe, an denen sich die Realität in beiden deutschen Staaten messen lassen muß. Es setzt etwa den Maßstab, daß die offene Diskussion über die Erfolge und Mißerfolge der unterschiedlichen Systeme innerhalb jedes Systems ebenso möglich sein muß wie die Reform der Systeme auf Grund solcher Diskussionen oder daß der umfassenden Information der Bürger in Ost und West eine wachsende Bedeutung zukommt und daß deshalb die wechselseitige Verbreitung von periodisch und von nicht periodisch erscheinenden Zeitungen und gedruckten Veröffentlichungen erleichtert werden muß.
Ich räume allerdings freimütig ein, daß bei der Formulierung dieser Sätze wohl nicht daran gedacht worden ist, daß wir dies nun auch für die Verbreitung sowjetischer Druckerzeugnisse in der DDR einfordern müssen.
Aber auch dafür erweist sich dieses Papier als ein durchaus nützlicher Beurteilungsmaßstab, bei dem wir uns auf die Unterschrift beider Seiten berufen können.
— Mein Gott, nun schlafen Sie doch so weiter, wie Sie bei der Erklärung des Bundeskanzlers geschlafen haben.
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Dr. Vogel
— Ich finde es bemerkenswert, daß Sie immer erst gegen 10 Uhr aufwachen; das ist zu spät.
— Das, was Sie gerade machen, ist nicht gut für Ihren Kreislauf. Sie sind ein seltener Gast, und da Sie so selten hier sind, regen Sie sich nicht so stark auf!
Frau Präsidentin, darf ich in meiner Rede jetzt fortfahren? —
— Jawohl, Herr Professor.
Das sind wesentliche Elemente unserer Deutschlandpolitik. Wenn es zu einer breiteren Übereinstimmung kommen soll, dann müssen Sie Ihre Grundpositionen in diesen Fragen alsbald klären. Vor allem muß deutlich werden, daß Sie den Auffassungen, die vor allem von Herrn Kollegen Dregger in diesem Zusammenhang vorgetragen werden, nicht folgen. Tun Sie das und nähern Sie sich unserem Konzept auch im Grundsätzlichen, dann sind weitere substantielle Fortschritte möglich. Dann können wir die Chancen der systemöffnenden Zusammenarbeit kraftvoll und verantwortlich nutzen, um es mit den Worten des Herrn Bundespräsidenten zu sagen.
Zu diesem Zweck sollten Sie die Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen der Volkskammer und dem Deutschen Bundestag nicht weiter hinauszögern, sondern alsbald zum Abschluß bringen.
— Nun laßt ihn doch. Ich finde es ungeheuer belebend, wie er gegen Auffassungen, die in seiner eigenen Partei ständig an Boden gewinnen, hier protestiert. Ich meine, das ist doch anschaulich.
Ich appelliere dabei besonders an die neu gewählte Bundestagspräsidentin, an Sie, sehr geehrte Frau Süssmuth. Sie sind auch deshalb mit großer Mehrheit gewählt worden, weil nicht wenige in diesem Haus von Ihnen Selbständigkeit und Eigeninitiative gerade in den Dingen erhoffen, bei denen es sich um die ureigensten Angelegenheiten des Parlaments handelt und bei denen das Parlament bei Entscheidungen nicht der Zustimmung anderer Verfassungsorgane bedarf.
Die Union sollte die Regelung der Elbegrenze nicht länger blockieren. Ich meine, man sollte auch darauf verzichten, die Existenz der Erfassungsstelle in Salzgitter zum Gesinnungsprüfstein zu machen.
Es ist auch an der Zeit, ein Luftverkehrsabkommen in Angriff zu nehmen, das den heutigen Realitäten und Verkehrsbedürfnissen im Herzen Europas entspricht. Der Zustand, daß die Flugzeuge der beiderseitigen Fluggesellschaften das Gebiet des jeweils anderen Staatds im Norden oder Süden in weitem Bogen umfliegen, ist unnatürlich und überholt.
Natürlich müssen dabei die Interessen Berlins berücksichtigt und die Rechte der Alliierten gewahrt werden. Der Weg zu solchen Verhandlungen ist inzwischen von Moskau und Ost-Berlin geöffnet worden; er sollte beschritten werden.
Notwendig ist weiter, daß beide deutsche Staaten miteinander über konkrete Abrüstungsinitiativen reden, die sie innerhalb ihrer Bündnisse in voller Loyalität zu diesen einleiten oder unterstützen können. Wir haben dafür in Gesprächen mit der DDR-Führung, über die Sie jeweils laufend unterrichtet worden sind, den Boden bereitet. Eine Begegnung zwischen Herrn Scholz und dem DDR-Verteidigungsminister Keßler wäre dafür ein weiterer nützlicher Schritt. Sie sollten ihn nicht durch Streitigkeiten darüber verzögern, an welchem Ort und in welcher Kleidung Herr Keßler an dieser Begegnung teilnimmt.
Immerhin ist ein französischer Ministerpräsident vor nicht allzu langer Zeit mit Herrn Hoffmann, dem Vorgänger von Herrn Keßler, der dabei seine Dienstkleidung trug, in Berlin, im Ostteil der Stadt, zusammengetroffen,
ohne daß dadurch der Status von Berlin irgendeinen Schaden erlitten hätte. Es ist nicht notwendig, daß wir alliierter tun als die Alliierten selber.
Was auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet geschehen sollte, ist zwischen uns im wesentlichen unstreitig; ich brauche es daher nicht im einzelnen aufzuzählen. Ich erinnere jedoch an den gemeinsamen Beschluß aller Fraktionen des Deutschen Bundestags vom 9. Dezember 1987, bei der ins Auge gefaßten Einsetzung einer gemischten Wirtschaftskommission deren Arbeit so zu gestalten, daß die bewährten Aktivitäten der Treuhandstelle für Industrie und Handel, die Berlin in vollem Umfang einschließen, nicht beeinträchtigt werden. Das gilt auch für die Wahl der Orte, an denen diese Kommission zusammentritt.
Auch auf anderen Gebieten muß Berlin voll — da stimme ich mit Ihrer entsprechenden Passage überein — in die Bemühungen um engere Kontakte in den West-Ost-Beziehungen und einen intensiveren Austausch einbezogen werden. Gerade in einer Zeit, in der die europäische Einigung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft voranschreitet und immer häufiger vom gemeinsamen europäischen Haus die Rede ist, ergeben sich unseres Erachtens für Berlin neue und ermutigende Perspektiven. Der bisherige Nachteil einer Randlage kann sich zum künftigen Vorteil einer zentralen Lage im Herzen Europas, und zwar an der Stelle wandeln, an der sich zwei europäische Teilregionen begegnen und eines Umschlagplat-
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zes, ja eines Scharniers, bedürfen. Dies ist die Perspektive für Berlin.
Aus dem Ort der Konfrontation kann so ein Ort der Begegnung, ja des Miteinanders werden, eines Miteinanders, das auf besondere Weise auch die Schutzmächte und die Sowjetunion einschließt. Der Berlin-Status braucht dem ebensowenig entgegenzustehen wie die inzwischen erfreulicherweise auch vom Berliner Senat anerkannte Tatsache, daß der Ostteil der Stadt für die DDR faktisch seit langem Hauptstadtfunktionen wahrnimmt. Die Anerkennung der Realitäten ist für jede sinnvolle Politik eine notwendige Voraussetzung. Für die Deutschlandpolitik gilt das im besonderen Maße, und zwar in jeder Hinsicht.
Zu den Realitäten gehört auch, daß sich die DDR gegenwärtig in einer für ihre Führung ungewöhnlich schwierigen Phase befindet. Daß die materiellen Lebensbedingungen trotz aller Anstrengungen und nicht zu übersehender Fortschritte in der DDR auf vielen Gebieten hinter den materiellen Lebensbedingungen in der Bundesrepublik zurückbleiben, ist der dortigen Führung ebenso seit langem bewußt wie die Tatsache, daß die meisten DDR-Bürger mehr Pluralismus, mehr individuelle Freiheit und mehr Mitwirkungsmöglichkeiten wünschen. Und die DDR-Führung weiß wohl auch um die Sogwirkung, die deshalb von der Bundesrepublik auch für solche Menschen ausgeht, die an sich gerne in ihrer angestammten Heimat bleiben würden und sich mit ihrem Staat durchaus identifizieren möchten.
Neu ist jedoch, daß auf Grund der Gorbatschowschen Reformpolitik ein Veränderungsdruck auch von der Sowjetunion ausgeht, und zwar in einem Maße, daß repressive Maßnahmen nicht mehr allein gegen westliche Medien und ihre Repräsentanten oder gegen Medien im eigenen Lande — etwa gegen Kirchenzeitungen — , sondern jetzt auch gegen sowjetische Zeitschriften und — weniger beachtet — gegen sowjetische Filme ergriffen werden — ein Vorgang, der noch vor kurzem als undenkbar erschienen wäre und der eher Unsicherheit als Selbstbewußtsein verrät.
Es ist eine Sache, diese Vorgänge zu kritisieren. Das tun wir ebenso wie — nach meinem Eindruck — alle Fraktionen dieses Hauses, und zwar da, wo es geboten ist, auch mit deutlichen Worten. Eine andere Sache ist es, sich so zu verhalten, daß die reformwilligen Kräfte im anderen deutschen Staat gestärkt werden, jene Kräfte, die wissen, daß die Bürgerinnen und Bürger eines auch technologisch entwickelten Industriestaates im Herzen Europas, die über das, was um sie herum vorgeht, genau im Bilde sind, nicht auf Dauer im Zustand einer beschränkten Mündigkeit gehalten werden können,
sondern daß diese Menschen ein höheres Maß an Selbstverantwortung und Entfaltungsmöglichkeit verlangen, und die wissen, daß die Erfüllung dieser Wünsche die Stabilität der DDR, ihr internationales
Gewicht und das Selbstbewußtsein ihrer Gesellschaft nicht mindern, sondern heben und festigen würde.
So sehr man auch gelegentlich die Versuchung spürt: Wir können eine solche Entwicklung weder durch Konfrontation noch durch Destabilisierung fördern, sondern nur durch einen Kurs, der Offenheit mit kluger Beharrlichkeit verbindet — und das auch in unserem eigenen Interesse!
Denn nicht billiger Triumph, vielmehr Rückschläge und Gefahren von schwer zu überschauender Tragweite kämen auf uns zu, wenn die Gorbatschowsche Reformpolitik scheitern oder die Situation in der DDR unkalkulierbar werden würde.
Und da hängt, meine Damen und Herren, vieles mit vielem zusammen.
Nicht laute Parolen, nicht selbstgefällige Zurechtweisungen oder gar Rückfälle in den Sprachgebrauch des Kalten Krieges
sind deshalb das Gebot der Stunde, sondern der verantwortungsbewußte Umgang mit den realen Gegebenheiten, die nur durch behutsames Herangehen, nicht durch Vergrößerung der Distanz oder gar Konfrontation und erst recht nicht durch Wunschdenken beeinflußt werden können.
Ein vernünftiges deutschlandpolitisches Zusammenwirken der Kräfte in diesem Hause wäre dafür von Nutzen.
Es wäre übrigens auch das, was die Menschen im anderen deutschen Staat dringend von uns erwarten.
Ich habe deutlich gemacht, auf welcher Grundlage wir, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, zu einer solchen Zusammenarbeit bereit sind.
Ich danke Ihnen.