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    Plenarprotokoll 11/113 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 113. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abg Frau Hoffmann (Soltau) 8093 A Erweiterung der Tagesordnung 8093 A Begrüßung des Botschafters der Französischen Republik, Boidevaix sowie des Koordinators für die deutsch-französische Zusammenarbeit, Dr. Barzel 8140 D Tagesordnungspunkt 3: Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland Dr. Kohl, Bundeskanzler 8094 A Dr. Vogel SPD 8100 A Lintner CDU/CSU 8103 D Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 8106D Hoppe FDP 8109 A Diepgen, Regierender Bürgermeister des Landes Berlin 8110 C Büchler (Hof) SPD 8112 D Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . 8116 C Heimann SPD 8118 D Werner (Ulm) CDU/CSU 8121 C Frau Hensel GRÜNE 8124 A Ronneburger FDP 8126 C Hiller (Lübeck) SPD 8128 C Dr. Czaja CDU/CSU 8130 D Frau Terborg SPD 8133 A Tagesordnungspunkt 4: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte (Drucksache 11/3253) b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 40 Titel 681 05 — Haushaltsjahr 1988 (Drucksache 11/3173) c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 14 05 Titel 525 21 — Aus- und Fortbildung, Umschulung (Drucksache 11/3193) d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 646 02 — Erstattung der Aufwendungen für die Krankenhilfe an Heimkehrer und durch Gesetz gleichgestellte Personengruppen (Drucksache 11/3268) 8135 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Abgeordneten Carstensen (Nordstrand), Eigen und Genossen und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Bredehorn, Richter, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes (Drucksache 11/3596) 8135 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München, Dachauer Straße, gemäß § 64 Abs. 2 BHO (Drucksache 11/3567) 8135 C II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Abgeordneten Conradi, Müntefering, Erler, Großmann, Menzel, Dr. Niese, Oesinghaus, Reschke, Scherrer, Tietjen, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Weiterentwicklung und Verbesserung der nach 1950 erbauten Großsiedlungen (Drucksache 11/2241) 8135 C Tagesordnungspunkt 5: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Dezember 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Kuwait zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Belebung der wirtschaftlichen Beziehungen (Drucksachen 11/2553, 11/3559) 8135D Tagesordnungspunkt 6: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. November 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela zur Vermeidung der Doppelbesteuerung der Unternehmen der Luftfahrt und der Seeschiffahrt (Drucksachen 11/3091, 11/ 3600) 8136A Tagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung eines Vorrechts für Umlagen auf die Erzeugung von Kohle und Stahl (EGKS- UmVG) (Drucksachen 11/353, 11/3197) 8136 A Tagesordnungspunkt 8: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fischwirtschaftsgesetzes (Drucksachen 11/2852, 11/3252) . . . 8136B Zusatztagesordnungspunkt 5: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksachen 11/2688, 11/3566) 8136B Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Wahlkreiskommission für die 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages gemäß § 3 Bundeswahlgesetz (Drucksachen 11/2870, 11/3170) . 8136B Tagesordnungspunkt 9: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 14 02 Titel 698 01 — Abgeltung von Schadensersatzansprüchen Dritter (Drucksachen 11/3051, 11/3296) 8136 C Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 89 zu Petitionen (Drucksache 11/3467) 8136 C Tagesordnungspunkt 11: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 22. Januar 1988 zum Vertrag vom 22. Januar 1963 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit (Drucksachen 11/3258, 11/3265, 11/3410, 11/3610, 11/3611) Dr. Dregger CDU/CSU 8137 D Voigt (Frankfurt) SPD 8140 D Dr. Feldmann FDP 8143 D Dr. Mechtersheimer GRÜNE 8145 B Genscher, Bundesminister AA 8147 A Dr. Wieczorek SPD 8148 D Lamers CDU/CSU 8150 C Ebermann GRÜNE 8152 A Dr. Ehmke (Bonn) SPD (Erklärung nach § 31 GO) 8152D Dr. Stercken CDU/CSU 8154 A Namentliche Abstimmung 8154 C Ergebnis 8158 D Tagesordnungspunkt 12: a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung (Drucksachen 11/14, 11/3608) b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten und zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung (Drucksachen 11/2503, 11/3604, 11/3618, 11/3624) Scharrenbroich CDU/CSU 8155 B Andres SPD 8160 B Heinrich FDP 8164 A Hoss GRÜNE 8166 C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 III Dr. Blüm, Bundesminister BMA 8168 C Urbaniak SPD 8172B Dr. Warrikoff CDU/CSU 8173 D Stratmann GRÜNE 8176D Peter (Kassel) SPD 8178A Frau Unruh GRÜNE (Erklärung nach § 30 GO) 8179C Dr. Warrikoff CDU/CSU (Erklärung nach § 30 GO) 8179D Dreßler SPD (Erklärung nach § 31 GO) . 8180A Namentliche Abstimmung 8180 D Ergebnis 8181 B Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags der Abgeordneten Fuchs (Verl), Dr. Böhme (Unna), Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Rücktritt der Bundesrepublik Deutschland von dem Entwicklungsvorhaben „Europäisches Jagdflugzeug/ Jagdflugzeug 90" (Drucksache 11/3018) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Ausscheiden der Bundesrepublik Deutschland aus dem Entwicklungsvorhaben Jagdflugzeug 90 (Drucksache 11/3592) Frau Fuchs (Verl) SPD 8183B Francke (Hamburg) CDU/CSU 8186B Frau Schilling GRÜNE 8187D Ronneburger FDP 8189 B Würzbach, Parl. Staatssekretär BMVg . . 8191A Ronneburger FDP (Erklärung nach § 30 GO) 8192 C Horn SPD (Erklärung nach § 30 GO) . . . 8193 A Vizepräsident Westphal 8187D, 8189B Tagesordnungspunkt 13: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 88 zu Petitionen (Drucksache 11/3291) Dr. Emmerlich SPD 8193 C Jung (Limburg) CDU/CSU 8194 A Häfner GRÜNE 8195 A Frau Dr. Segall FDP 8195 D Tagesordnungspunkt 14: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wiederkehrerlaubnis für in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsene Ausländer (Drucksache 11/ 1931) b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bundesausländergesetz (Drucksache 11/2598) Schröer (Mülheim) SPD 8197 B Dr. Zimmermann, Bundesminister BMI . 8198D Frau Olms GRÜNE 8200 A Dr. Hirsch FDP 8201 A Wartenberg (Berlin) SPD 8202 B Dr. Kappes CDU/CSU 8204 A Tagesordnungspunkt 15: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Schmidt-Bott und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ursachen, Prävention und Behandlung der Unfruchtbarkeit, Entwicklung und Auswirkungen von Fortpflanzungstechniken und Embryonenforschung (Drucksachen 11/747, 11/2238) Frau Schmidt-Bott GRÜNE 8206 A Dr. Voigt (Northeim) CDU/CSU 8207 C Frau Becker-Inglau SPD 8208 C Frau Würfel FDP 8209 D Pfeifer, Parl. Staatssekretär BMA . . . 8211B Tagesordnungspunkt 16: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss (München), Dr. Daniels (Regensburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verhalten der Bundesregierung gegenüber dem österreichischen Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie in bezug auf die geplante atomare Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf (Drucksache 11/2873) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss (München), Dr. Daniels (Regensburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Erörterungstermin in Wackersdorf (Drucksache 11/2894) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Keine Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf (Drucksache 11/3597) Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE . . . . 8213 A Dr. Friedrich CDU/CSU 8214 D Schütz SPD 8217 A Frau Dr. Segall FDP 8218 B Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . . 8220B Tagesordnungspunkt 17: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kuhlwein, Dr. Penner, Odendahl, weiterer Abgeordneter und der IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 Fraktion der SPD: Entwicklungsstand und Perspektiven der Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen 11/2211, 11/2603) Kuhlwein SPD 8222 B Daweke CDU/CSU 8226 A Wetzel GRÜNE 8228 B Neuhausen FDP 8230 A Möllemann, Bundesminister BMBW . . 8231 A Tagesordnungspunkt 18: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Volkszählung 1987 (Drucksache 11/1762) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Übernahme der Kosten der Volkszählung am 25. Mai 1987 durch den Bund (Drucksache 11/3584) Kleinert (Marburg) GRÜNE (zur GO) . . 8234 B Bohl CDU/CSU (zur GO) 8235 C Gerster (Mainz) CDU/CSU 8236 C Wartenberg (Berlin) SPD 8237 C Lüder FDP 8238 B Frau Schmidt-Bott GRÜNE 8239 A Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär BMI 8240 D Nächste Sitzung 8241 D Berichtigungen 8242 Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 8243* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8093 113. Sitzung Bonn, den 1. Dezember 1988 Beginn: 9.00 Uhr
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    8242 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 Berichtigungen Nachtrag zum Plenarprotokoll 11/111, Seite 8034 D, Nr. 53: Im ersten Absatz der Erklärung der Abg. Frau Folz-Steinacker ist statt „109. Sitzung am 23. November 1988" zu lesen: „110. Sitzung am 24. November 1988". Auf Seite 7938 ist bei Nr. 42, Drucks. 11/3441, einzufügen: „Zweiter Spiegelstrich". Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* * 2. 12. Antretter 1. 12. Bindig * 2. 12. Frau Brahmst-Rock 2. 12. Büchner (Speyer)* * 2. 12. Buschbom 2. 12. Catenhusen 1. 12. Cronenberg (Arnsberg) 2. 12. Dr. Francke 2. 12. Dr. Geißler 1. 12. Dr. Glotz 1. 12. Dr. Hauff 2. 12. Irmer * 1. 12. Dr. Jenninger 2. 12. Frau Krieger 2. 12. Kühbacher 1. 12. Maaß 1. 12. Dr. Mahlo 2. 12. Mitzscherling 1. 12. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Müller 1. 12. Dr. Müller * * 1. 12. Niegel * 2. 12. Frau Pack 1. 12. Dr. Pick 2. 12. Paintner 2. 12. Rappe (Hildesheim) 2. 12. Roth 1. 12. Dr. Scheer 2. 12. Scherrer 1. 12. von Schmude 1. 12. Schulhoff 1. 12. Frau Trenz 2. 12. Tietjen 2. 12. Toetemeyer 2. 12. Vosen 1. 12. Weisskirchen (Wiesloch) 2. 12. Wieczorek 1. 12. Zeitler 2. 12. Zierer* 1. 12. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch vor wenigen Jahren kennzeichnete Stagnation das Ost-West-Verhältnis. Das galt auch für die innerdeutschen Beziehungen, und es galt für den Einigungsprozeß im freien Teil Europas. Heute sind wir auf beiden Feldern Zeugen einer neuen Dynamik, die vor wenigen Jahren von den wenigsten für möglich gehalten wurde.
    Im vergangenen Jahr erstattete die Bundesregierung den Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland kurz nach dem Besuch von Generalsekretär Honecker in Bonn. Dieser Besuch fand vor dem Hintergrund positiver Entwicklungen in den innerdeutschen Beziehungen statt. Er hatte bei den Menschen hüben und drüben vielfältige und zum Teil auch zwiespältige Empfindungen ausgelöst, bei den meisten Hoffnungen, bei manchen aber auch Befürchtungen.
    Heute darf ich mit Befriedigung feststellen: Die damals geführten Gespräche haben weiterführende Anstöße gegeben. Insbesondere der Reiseverkehr hat sich weiterhin positiv entwickelt. In vielen anderen Bereichen konnten ebenfalls substantielle Fortschritte erzielt werden.
    Zu einer vollständigen Bilanz, meine Damen und Herren, gehört indessen auch, daß ich offen ausspreche: Manche Hoffnungen von damals haben sich nicht erfüllt. In die Erleichterung mischt sich das Gefühl von Bedrücktheit. Das gilt vor allem für das Klima in der DDR. Hier kommt einiges zusammen. Am stärksten fallen die enttäuschten Erwartungen der Menschen ins Gewicht.
    In der DDR selbst hat sich die neue Dynamik in den Ost-West-Beziehungen bisher kaum ausgewirkt. Während in der Sowjetunion und in den meisten Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas versucht wird, Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft herbeizuführen, bietet sich unseren Landsleuten in der DDR ein Bild der Stagnation, die sie zunehmend als Rückschritt empfinden. Schlimmer noch: Partei- und Staatsführung reagierten auf Diskussionen und Anstöße zu Veränderungen mit Repression. Die Folge sind Enttäuschung und Spannungen innerhalb der DDR. Aber auch vielen Beobachtern erscheint die DDR heute in einem kritischeren Licht als noch vor einem Jahr.
    Meine Damen und Herren, diese Entwicklung läßt das Verhältnis zwischen den beiden Staaten in
    Deutschland nicht unberührt. Gleichwohl wird die Bundesregierung daran festhalten, durch eine sachbezogene, nüchterne Politik die Beziehungen in einer Weise auszubauen, daß ohne Aufgabe von Grundsatzpositionen weitere Fortschritte zum Wohl der Menschen in Deutschland möglich sind.
    Verglichen mit dem Stand früherer Jahre ist das, was wir bisher für die Menschen in unserem geteilten Vaterland erreicht haben, nicht wenig. Aber es bedarf auch immer wieder neuer Anstrengungen, um es zu erhalten und um weiter darauf aufzubauen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es geht uns dabei immer auch um die Schärfung des Bewußtseins für die Einheit der Nation. Wir finden uns mit der Teilung unseres Vaterlandes nicht ab.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wer dies behauptet, hat nicht begriffen, daß eine verantwortungsvolle Deutschlandpolitik immer zwei Ziele gleichzeitig im Auge behalten muß: die Teilung zu überwinden und bis dahin den Zusammenhalt der Nation zu bewahren.
    Wir haben freilich nach wie vor keinen Grund zu der Annahme, daß eine Lösung der deutschen Frage nahegerückt ist. Ich kann vor solchen, gelegentlich bei uns zu hörenden Illusionen nur warnen. Bei meinem Besuch in der Sowjetunion vor fünf Wochen ist einmal mehr für jedermann zu erkennen gewesen, daß gerade auch in dieser Frage die prinzipiellen Gegensätze fortbestehen.
    Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns jedoch darin einig, daß Unterschiede im Grundsätzlichen nicht den Weg zu vernünftigen, praktischen Lösungen im Interesse der Menschen versperren dürfen.
    Meine Damen und Herren, es ist meine feste Überzeugung, daß auf lange Sicht die Zeit nicht gegen, sondern für die Deutschen arbeitet.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Im Blick auf unser ungelöstes nationales Problem schreibt Generalsekretär Gorbatschow in seinem Buch „Perestroika" : Was in hundert Jahren sein werde, das solle die Geschichte entscheiden. — Mit dieser Aussage, meine Damen und Herren, erkennt er die historische Vorläufigkeit des Status quo an; doch ebenso unmißverständlich bringt er damit zum Ausdruck, daß nach seiner Meinung noch eine lange Wegstrecke vor uns liegt.
    Die gegenwärtige Lage der Nation — wie überhaupt die fortbestehende Spaltung unseres Kontinents — hängt untrennbar mit dem Ost-West-Konflikt zusammen, einem Konflikt, bei dem es im Kern um Freiheit und um nationale Selbstbestimmung geht.
    Solange der Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit die Überwindung der Teilung Europas und damit Deutschlands verhindert, ist es unsere Aufgabe, das heute Mögliche und Verantwortbare zu tun, um den Ost-West-Konflikt in Deutschland und in Europa zu mildern und auf seine Überwindung hinzuwirken.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8095
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Nicht historische Zwangsläufigkeiten sind es, die den Lauf der Geschichte bestimmen. Auf menschliches Wollen und Tun kommt es letztlich an. Dieses Wissen ruft uns in die Verantwortung. Es mahnt uns, hier und heute ins Werk zu setzen, was der Einheit der Nation und der Freiheit ihrer Menschen dient.
    Angesichts der leidvollen Erfahrungen dieses Jahrhunderts steht dabei unumstößlich fest, daß Androhung oder Anwendung von Gewalt für uns keine Mittel der Politik sind. „Nie wieder Krieg — alles für die Freiheit", so hatte es sich nach 1945 die überwältigende Mehrheit der Deutschen geschworen. Dieser Schwur gilt weiter.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Bundesregierung bekräftigt hier vor dem Deutschen Bundestag die geschichtlichen, rechtlichen und politischen Grundlagen ihrer Deutschlandpolitik, die sie in den früheren Berichten zur Lage der Nation im geteilten Deutschland sowie in den Regierungserklärungen vom 4. Mai 1983 und vom 18. März 1987 erläutert hat. Wir halten insbesondere fest am Auftrag des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dieser Auftrag verpflichtet und berechtigt uns, Freiheit und Selbstbestimmung für alle Deutschen einzufordern. Er entspricht dem Wunsch und dem Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in unserem geteilten Vaterland.
    Niemand kann von den Deutschen verlangen, ihr Selbstbestimmungsrecht aufzugeben. Wir streben die Einheit um der Freiheit der Menschen willen an. Deshalb kann die Freiheit auch niemals der Preis der Einheit sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, unsere Deutschlandpolitik ist immer auch Bekenntnis zur Kontinuität der langen, wechselvollen und eben auch fortdauernden Geschichte aller Deutschen. Diese Geschichte ist unteilbar. Sie verbindet uns im Guten wie im Bösen. Es wäre unaufrichtig und moralisch nicht zu vertreten, sich aus der deutschen Geschichte nur die genehmen Teile herauszusuchen. Wir stehen hier gemeinsam in der Pflicht. Dieser Pflicht darf sich keiner entziehen.
    Ich habe es daher in meiner Ansprache bei der zentralen Gedenkveranstaltung in Frankfurt zum 50. Jahrestag der Pogromnacht des 9. November 1938 ausdrücklich begrüßt, daß die Regierung der DDR in jüngster Zeit Bereitschaft angedeutet hat, sich wenigstens durch symbolische Gesten zu der Verantwortung zu bekennen, die uns Deutschen insgesamt durch unsere gemeinsame Geschichte auferlegt ist.
    In diesem Sinne möchte ich auch den Entschluß der Regierung der DDR würdigen, die Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin wiederaufzubauen. Die Bundesregierung wird dafür einen erheblichen finanziellen Beitrag zur Verfügung stellen. Dies ist für sie ein Ausdruck nationaler Verpflichtung.
    Ich will allerdings auch ganz nüchtern feststellen: Das Bekenntnis der DDR zu der uns Deutschen insgesamt auferlegten Verantwortung kommt sehr spät: Symbolische Gesten allein genügen nicht. Es kommt hier vor allem auch auf die Solidarität mit den Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsinteressen Israels an.
    Ich darf hier an die historische Erklärung erinnern, die Konrad Adenauer am 27. September 1951 zur Frage der Wiedergutmachung vor dem Deutschen Bundestag abgegeben hat. Darin bezeichnete es die Bundesregierung in feierlicher Form als „vornehmste Pflicht des deutschen Volkes", im Verhältnis zum Staate Israel und zum Judentum den „Geist wahrer Menschlichkeit wieder lebendig und fruchtbar werden" zu lassen. Der stenographische Bericht jener Sitzung verzeichnet wörtlich: „Lebhafter Beifall im ganzen Hause außer bei der KPD und auf der äußersten Rechten. " Bei diesem Konsens aller demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland ist es seither geblieben.
    Zu dieser Verantwortung gehört es auch, das Wissen um die Ursachen und die Bedingungen der Teilung Deutschlands und Europas wachzuhalten und zu vertiefen.
    In der Bundesrepublik Deutschland ist das Bedürfnis nach Informationen über die Lage der Menschen im geteilten Deutschland erfreulicherweise spürbar gestiegen. Es gibt auch ein wachsendes Interesse an Informationen über die deutsche Frage als Teil des Ost-West-Gegensatzes, über die Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR und über Perspektiven einer europäischen Friedensordnung, die auch eine Antwort auf die ungelöste deutsche Frage geben muß. All dies stellt hohe Anforderungen an die Bildungs- und Informationsarbeit, die wir als eine besonders wichtige Aufgabe unserer Deutschlandpolitik begreifen müssen.
    Es geht dabei um eine Darstellung, die alle Facetten erfaßt, die historischen und zeitgeschichtlichen Aspekte ebenso wie die rechtlichen Fragen sowie die kulturelle und nicht zuletzt die menschliche Dimension. Auf diese Weise schärfen wir das Bewußtsein für die fortbestehende Einheit der Nation, vor allem bei der nachwachsenden Generation.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Gerade für diese Generation gilt jedoch auch: Das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit kann auf Dauer nur dort entstehen, erhalten bleiben oder wachsen, wo Menschen einander begegnen. Politik für den Zusammenhalt der Nation erfordert daher, daß Deutsche von hüben und drüben so oft wie möglich zusammenkommen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

    Unsere durch eine gleichermaßen von Grundsatztreue wie vom Willen zur praktischen Zusammenarbeit geprägte Deutschlandpolitik konnte vieles in dieser Richtung bewegen, und die große Zahl menschlicher Begegnungen hat zum nationalen Zusammenhalt mehr beigetragen als viele große Worte.
    Jede Begegnung zwischen Menschen beiderseits der innerdeutschen Grenze macht diese Trennungslinie durchlässiger. Sie gibt unseren Landsleuten aus
    8096 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    der DDR die Möglichkeit, sich aus erster Hand einen Eindruck vom Leben hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen, und sie fördert bei Reisen in der DDR die Erkenntnis, daß wir gerade auch im Interesse der Menschen an der Einheit der Nation festhalten und jeden möglichen Zugewinn an Freiheit für unsere Landsleute in der DDR anstreben müssen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Deshalb hat der Reiseverkehr zentrale Bedeutung. In den letzten beiden Jahren haben mehr Deutsche aus der DDR zu uns reisen können als jemals zuvor seit dem Bau der Mauer.
    Konnten früher fast nur Menschen im Rentenalter in den Westen reisen und jüngere nur ausnahmsweise, so ist 1987 fast jeder fünfte Bewohner der DDR, darunter über eine Million jüngerer Menschen, im Westen zu Besuch gewesen. Diese Zahlen werden in diesem Jahr, so wie sich die Dinge darstellen, wahrscheinlich noch übertroffen werden. Dies ist für mich der wichtigste Erfolg unserer aktiven Politik für den Zusammenhalt der Nation.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wenn wir auch im Reiseverkehr von unserem Ziel „Freizügigkeit für alle Deutschen" noch weit entfernt bleiben und noch viele Wünsche offen sind — ich denke insbesondere an das Problem des Mindestumtausches und an die Verweigerung der Einreise bestimmter Personengruppen in die DDR — , so ist doch die Entwicklung der vergangenen Jahre von kaum zu überschätzender Bedeutung.
    Durch den Reiseverkehr werden menschliche Kontakte über die innerdeutsche Grenze hinweg belebt und neu geknüpft. Es werden Erfahrungen und Eindrücke vermittelt und ausgetauscht. Damit bietet sich auch die Chance, die politische Legitimation und die innere Akzeptanz unserer freiheitlichen politischen Ordnung vor Augen zu führen und unter Beweis zu stellen. Wir brauchen den Wettbewerb auch auf diesem Gebiet wahrlich nicht zu scheuen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Vor allem aber, meine Damen und Herren, entspricht die Zunahme des Reiseverkehrs den Wünschen der Menschen, die im Mittelpunkt all unserer Anstrengungen stehen. Die Menschen in Deutschland wollen ganz einfach zusammenkommen können, sie wollen Verbindung zueinander halten und Gemeinsamkeiten bewahren.
    Generalsekretär Honecker hat gegenüber Bundesminister Schäuble erklärt, daß die Entwicklung im Reiseverkehr fortgesetzt werde. Auch die DDR weiß, welche Bedeutung der Reiseverkehr für unsere Beziehungen hat.
    Die Bundesregierung ist darüber unterrichtet, daß in der DDR jetzt eine allgemeine Regelung für Besuchsreisen eingeführt wird. Wenn dies dazu führt, daß für den einzelnen die Genehmigung einer Reise berechenbarer wird und ein ablehnender Bescheid auch überprüft werden kann, dann ist das ein wichtiger, ein begrüßenswerter Schritt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Praxis bei Besuchsreisen könnte so besser durchschaubar und auf Dauer verläßlich werden. Wir wollen hier eine stetige Entwicklung, die schließlich zu Freizügigkeit in Deutschland führt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    In diesen Zusammenhang gehört, daß auch der Jugendaustausch ausgebaut werden konnte. Die Städtepartnerschaften — inzwischen eine ansehnliche Zahl — müssen weiter mit Leben erfüllt werden. Auch hier eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten zur Begegnung, zum Austausch und zur Zusammenarbeit.
    Ein Feld, auf dem es noch großer gemeinsamer Anstrengungen bedarf, ist der Tourismus in beide Richtungen. Auch unsere Landsleute aus der DDR wollen einmal als Touristen in den Westen reisen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dieses Ziel wird sich nur schrittweise und mit Anstrengungen beider Seiten erreichen lassen. Einstweilen müssen wir tun, was bei uns möglich ist, um unseren Landsleuten aus der DDR einen Besuch zu erleichtern. Hierzu hat die Bundesregierung 1987 durch die Erhöhung des Besuchergeldes und durch Tarifvergünstigungen auf Strecken der Deutschen Bundesbahn für Reisende aus der DDR einen wichtigen Beitrag geleistet.
    Die neu festgelegte Transitpauschale schafft eine stabile Grundlage für einen reibungslosen Transitverkehr von und nach Berlin für die Zeit von 1990 bis 1999. Dabei konnte der langgehegte Wunsch Berlins nach einem neuen Übergang im Süden der Stadt durchgesetzt werden. Außerdem wird die DDR in den nächsten Jahren weitere Teilstücke der Transitautobahn grunderneuern.
    Das Einverständnis hierüber wird nach Auffassung beider Seiten die weitere Entwicklung der Gesamtbeziehungen und auch die Lösung anderer anstehender Fragen günstig beeinflussen. Die DDR weiß, daß eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Beziehungen auch davon abhängt, daß es ein ausgewogenes Geben und Nehmen gibt.
    Eine erfreuliche Entwicklung gibt es bei der kulturellen Zusammenarbeit. Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Kulturabkommens kann festgestellt werden, daß sich der Austausch auf den Gebieten von Kultur und Kunst, von Wissenschaft und Bildung spürbar belebt hat. Auf beiden Seiten ist der Wunsch nach Intensivierung und weiterem Ausbau der Zusammenarbeit groß. Dies zeigt, wie lange und wie schmerzlich solche Kontakte vermißt wurden.
    Kunst und Wissenschaft sind in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu Vorreitern grenzüberschreitender Kontakte geworden. Das kulturelle Erbe eines Volkes will eben nicht nur festgehalten, es muß auch gepflegt werden. Dies ist auch ein Werk des Friedens; denn Kultur verlangt den Geist der Versöhnung. Hierauf habe ich im März dieses Jahres sehr nachdrücklich hingewiesen: Damals gedachten wir der Geburt
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8097
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Joseph von Eichendorffs vor 200 Jahren in Oberschlesien.
    Natürlich gibt es bei der Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes zwischen uns und der DDR auch einen Wettbewerb um Werte der gemeinsamen Vergangenheit. Doch niemand von uns hat ein Monopol auf Luther oder Bach, auf Lessing, Goethe oder Heine — um nur diese wenigen Namen zu nennen. Solche Ansprüche sind ebenso unglaubwürdig wie der Versuch, sich aus der gemeinsamen Verantwortung für die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte davonzustehlen. Die Wahrheit ist: Alle Zeugen und alle Zeugnisse der gemeinsamen Herkunft wirken über die staatliche Teilung hinaus in allen Teilen unseres Vaterlandes bis heute fort.
    Meine Damen und Herren, eine gemeinsame Verantwortung beider Staaten in Deutschland gibt es nicht nur in bezug auf die Vergangenheit. Auf der Tagesordnung unserer Zusammenarbeit steht auch — und in wachsendem Maße — die Vorsorge für das Wohl künftiger Generationen. Dabei kommt den Fragen des Umweltschutzes eine ganz besondere Bedeutung zu. Der verschwenderische Umgang mit knappen Ressourcen, die gedankenlose Inanspruchnahme von Gütern wie reiner Luft und sauberem Wasser, dies alles geschieht unter dem Vorzeichen marktwirtschaftlicher Ordnung ebenso wie im sogenannten „real existierenden Sozialismus".
    Inzwischen hat sich in der Bevölkerung der DDR ebenfalls ein Umweltbewußtsein entwickelt, das sich endlich auch auf politische Entscheidungsprozesse auszuwirken beginnt. Die bei dem Besuch von Generalsekretär Honecker abgeschlossenen Verträge über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, Umweltschutz und Strahlenschutz sind inzwischen mit Leben erfüllt werden, auch wenn wir insbesondere beim Umweltschutz erst am Anfang einer dringend notwendigen Zusammenarbeit stehen.
    Auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik wurden nach dem Abschluß des Abkommens über die Zusammenarbeit zahlreiche Forschungsprojekte zwischen Projektpartnern beider Seiten eingeleitet. Die Projektfelder umfassen für die Menschen so wichtige Bereiche wie medizinische Forschung, Luftreinhaltung, Reaktorsicherheit oder Bausubstanzerhaltung. Auf der Basis des Strahlenschutzabkommens werden Expertengespräche mit der DDR geführt; es geht hier um einen umfassenden Informations- und Erfahrungsaustausch. Auch dies liegt im gemeinsamen Interesse aller Deutschen.
    Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklich, daß die DDR ihren bisherigen Widerstand aufgegeben und sich kürzlich bereit erklärt hat, zu Beginn des nächsten Jahres mit uns Gespräche über die Reinhaltung der Elbe zu führen. Lösungen für dieses so überaus drängende Problem zu finden, ist eine gemeinsame Aufgabe. Gerade hier zeigt sich, daß trotz unterschiedlicher Positionen in Grundsatzfragen konkrete Zusammenarbeit zum Nutzen beider Seiten möglich ist.
    Für das, was in der konkreten Zusammenarbeit mit der DDR in beharrlicher Arbeit erreicht worden ist, will ich ausdrücklich all denen danken, die geholfen haben. Ich nenne hier aus gutem Grund Frau Bundesministerin Wilms und Herrn Bundesminister Schäuble, die sich mit besonderem Engagement — oft auch im Stillen — darum bemüht haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, bei allen Fortschritten, die es in den vergangenen Jahren in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland gegeben hat, können und wollen wir nicht übersehen, daß es nach wie vor auch erhebliche Belastungen im Verhältnis beider Staaten gibt. Ich denke dabei insbesondere an die zahlreichen Einreiseverweigerungen, vor allem für ehemalige Bewohner der DDR, die ihre Angehörigen und Freunde besuchen möchten. Ich denke an Zwischenfälle an der innerdeutschen Grenze; dort wird immer noch geschossen, und wir haben Opfer zu beklagen. Und ich denke — diese Aufzählung ist keineswegs vollständig — an Behinderungen von Informationen und das Vorgehen von DDR-Behörden gegen die Arbeit westlicher Journalisten.
    All diese Belastungen sind vor allem auch Ausdruck innerer Schwierigkeiten des politischen Systems in der DDR, von Schwierigkeiten, die aus fehlender Reformwilligkeit und fehlender Reformfähigkeit erwachsen. Dem stehen die Erwartungen der Menschen der DDR gegenüber. Sie werden geweckt durch die in der Sowjetunion stattfindende Diskussion über Reformen im Zeichen von „Umgestaltung", „Offenheit" und „Demokratisierung", gewiß aber auch durch eine größere Öffnung der DDR nach außen.
    Staats- und Parteiführung der DDR scheinen zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber nicht bereit zu sein, darauf einzugehen. Das führt dazu, daß die Unzufriedenheit der Menschen zunimmt; sie äußert sich in vernehmbaren Diskussionen, in öffentlich bekundetem Unmut und nicht zuletzt in dem anhaltenden Ausreisedruck.
    Wir, meine Damen und Herren, beobachten diese Entwicklung mit Sorge. Wir haben kein Interesse daran, daß die inneren Schwierigkeiten in der DDR weiter zunehmen. Wir streben nicht an, daß immer mehr Landsleute nur noch den Wunsch haben, die DDR zu verlassen. Wir wollen, daß sich das berechtigte Verlangen der Menschen nach umfassenden Reformen endlich erfüllt. Zensur und Verbot von Kirchenzeitungen, Behinderungen und Gewalt gegen westliche Berichterstattung, Einfuhrverbote für Zeitungen und Zeitschriften aus dem Westen — neuerdings sogar aus dem Osten —,

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU) dies alles löst die Probleme nicht.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Wir können und wollen dazu nicht schweigen, und ich denke, daß sich die DDR-Führung dem Trend zu Veränderungen auf Dauer nicht wird entziehen können, der ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa erfaßt hat.
    In wenigen Tagen, meine Damen und Herren, jährt sich zum 40. Mal die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Dort heißt es, die Anerkennung der unveräußerlichen Rechte des Menschen bilde „die Grundlage der Freiheit, der Ge-
    8098 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    rechtigkeit und des Friedens in der Welt". Den gleichen Gedanken formuliert auch die KSZE-Schlußakte von Helsinki. In dieser großartigen Vision einer Welt „frei von Furcht und Not" sind die Menschenrechte nicht etwa Wohltaten, die der Staat nach Gutdünken gewähren oder versagen kann. Sie sind vielmehr aller staatlichen Gewalt vorgegeben und setzen ihr Grenzen, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dies sollten wir nie aus dem Blick verlieren, wenn wir über menschliche Erleichterungen für unsere Landsleute in der DDR sprechen. So wichtig all diese von uns gewollten Fortschritte auch sind, sie bleiben immer noch hinter dem zurück, was die Vereinten Nationen zu unveräußerlichen Ansprüchen des Individuums erklärten. Die Achtung vor der unbedingten und absoluten Würde des Menschen in allen Bereichen seines Lebens ist grundlegende Voraussetzung des Friedens. Vertrauen in den zwischenstaatlichen Beziehungen setzt auf Dauer voraus, daß die grundlegenden Rechte der Menschen geachtet werden. Und weil Friede in den Herzen der Menschen beginnt, darf nichts und niemand sie daran hindern, in Freiheit zusammenzukommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wir Deutschen haben in Jahrhunderten gelernt, daß gerade die Glaubens- und Gewissensfreiheit zum Kernbestand der Menschenrechte und zu den grundlegenden Voraussetzungen des inneren Friedens gehört. Mauer und Stacheldraht werden nicht auf Dauer Bestand haben. Denn sie stehen gegen jene historische Grundströmung, die weite Teile Europas schon seit langem erfaßt hat und die jetzt auch im östlichen Teil unseres Kontinents auf Umgestaltung drängt. Innerhalb der EG verschwinden die Barrieren, die Zäune und Schranken. Und wenn, meine Damen und Herren, das Wort vom „gemeinsamen Haus Europa" einen Sinn hat, dann doch wohl den, daß man sich innerhalb dieses Hauses frei bewegen kann; und zum Hausfrieden gehört, daß Bewohnern nicht Gewalt angetan wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, dies gilt auch gerade angesichts der großen Fortschritte, die wir 1988 im Prozeß der europäischen Einigung erzielen konnten. Es ist gelegentlich der Verdacht geäußert worden, die Bundesregierung ordne ihre deutschlandpolitischen Ziele europapolitischen Plänen unter. Meine Damen und Herren, solche Kritik verkennt den Sinn der Westintegration.
    Die europäische Dimension der deutschen Frage bedeutet für uns nicht die Scheinalternative nationale Einheit der Deutschen oder europäische Einigung. Das Grundgesetz verpflichtet uns vielmehr auf beides: auf die Einheit Deutschlands und auf ein vereintes Europa. Wir streben beide Ziele an. Für uns liegt die Zukunft Deutschlands in einer übergreifenden Friedensordnung, die die Menschen und Völker unseres Kontinents in gemeinsamer Freiheit zusammenführt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die EG ist ebensowenig das ganze Europa wie die Bundesrepublik Deutschland unser ganzes Vaterland ist. Auch Warschau und Prag, Kiew und Budapest — um nur wenige Städte zu nennen — gehören zu Europa, und ganz selbstverständlich Leipzig, Dresden und Rostock.
    Wenn wir die europäische Einigung vorantreiben, dann nicht, weil wir unsere Landsleute in der DDR oder unsere europäischen Nachbarn in Mittel-, Ost-und Südosteuropa abgeschrieben hätten. Im Gegenteil: Wir vertrauen auf die große Anziehungskraft des europäischen Einigungswerks. Indem wir uns in der Europäischen Gemeinschaft immer enger zusammenschließen, handeln wir auch im Interesse der Menschen im anderen Teil unseres Kontinents und in der Hoffnung, daß sie eines Tages in freier Selbstbestimmung dieses Werk des Friedens mitgestalten können.
    Der Fortschritt im europäischen Einigungsprozeß ist ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung der Ost-West-Beziehungen. Schon heute ist deutlich festzustellen, daß die sichtbaren Erfolge auf dem Weg zur europäischen Einigung — insbesondere die für 1992 vereinbarte Vollendung des europäischen Binnenmarktes — gerade auch bei unseren östlichen Nachbarn mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden.

    (Dr. Knabe [GRÜNE]: Und Sorge!)

    Ich möchte an dieser Stelle erneut bekräftigen, daß aus unserer Sicht der europäische Binnenmarkt keine „Festung Europa" werden darf. Und dies heißt auch, daß sich nichts am System des innerdeutschen Handels ändern wird.
    Die Idee des freien und geeinten Europa hat eine Ausstrahlung weit über den Bereich der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft hinaus. Der europäische Einigungsprozeß ist Beispiel und Hoffnung, er bezeugt die Dynamik und politische Kraft freier Völker, die Zukunft in Frieden und Freiheit zu gestalten.
    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, diese stetige und berechenbare Politik der Bundesrepublik Deutschland ist ein wesentliches Element der europäischen Stabilität: sowohl bei den Anstrengungen für eine europäische Einigung als auch bei der Zusammenarbeit über die Trennungslinie hinweg, durch die Deutschland und Europa geteilt werden.
    Voraussetzung für die erfolgreiche Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR und der Sowjetunion ist und bleibt die feste und unzweifelhafte Verankerung der Bundesrepublik Deutschland im Atlantischen Bündnis und in der Wertegemeinschaft der freien Völker des Westens. Nur auf dieser Grundlage hat unser Wort Gewicht, und nur von dieser Position aus können wir erwarten, Fortschritte im Interesse der Menschen zu erreichen.
    Die positiven Veränderungen im West-Ost-Verhältnis müssen und werden wir weiterhin nutzen, um durch konkrete Fortschritte Verbesserungen auch für die Menschen in Deutschland zu erreichen.
    Durch diese Politik tragen wir gleichzeitig dazu bei, daß von den Beziehungen der beiden Staaten in Deutschland keine zusätzlichen Spannungen in Eu-
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8099
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    ropa ausgehen. Vielmehr kann durch die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen ein besonderer Beitrag zur Zusammenarbeit zwischen West und Ost geleistet werden.
    Im Kommuniqué aus Anlaß des Bonn-Besuchs von Generalsekretär Honecker im September 1987 haben wir dazu gemeinsam festgestellt, daß das Verhältnis der beiden Staaten zueinander ein stabilisierender Faktor für konstruktive West-Ost-Beziehungen bleiben muß, von dem positive Impulse für friedliche Zusammenarbeit und Dialog ausgehen sollen.
    Meine Damen und Herren, die deutsche Frage hat nie nur die Deutschen allein betroffen. Sie beschäftigt bis heute immer auch die anderen europäischen Völker. Die Lage und das politische Gewicht Deutschlands in der Mitte Europas verknüpfen unsere nationale Frage mit den Interessen nicht nur unserer unmittelbaren Nachbarn, sondern aller europäischen Völker.
    Wir brauchen für die Verwirklichung des Rechts unseres Volkes auf Selbstbestimmung das Verständnis und die Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde, wofür im Rahmen einer aktiven Deutschlandpolitik stets geworben werden muß. Beides werden wir erreichen, wenn die Lösung der deutschen Frage in einen europäischen Rahmen eingebettet ist.
    Bei den Menschen in Osteuropa ist neue Hoffnung entstanden, die mit großen Erwartungen an die verantwortlichen Politiker verbunden ist. Diese Erwartungen dürfen nicht enttäuscht werden.
    Zugleich müssen wir redlicherweise vor übertriebenen Hoffnungen warnen. Das Bemühen in Ost und West muß auf eine stetige, evolutionäre Entwicklung gerichtet sein, um der Gefahr von Rückschlägen entgegenzuwirken.
    Die Sowjetunion hat unter Generalsekretär Gorbatschow ein Programm tiefgreifender Umgestaltung und Öffnung nach innen und außen eingeleitet. Ich habe dazu während meines Moskau-Besuchs erklärt: Wenn diese Politik, die mit den Begriffen „Perestroika", „Glasnost" und „Demokratisierung" charakterisiert wird, mehr Chancen zu Verständigung und Zusammenarbeit bietet, findet sie unsere Zustimmung und Sympathie, ja unsere Unterstützung.
    Die Veränderungen in Osteuropa, insbesondere in der Sowjetunion, haben auch für viele Deutsche, die seit langem den Wunsch hegen, in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen, positive Auswirkungen gehabt. Diese Menschen, die oft einen besonders schweren Lebensweg hinter sich haben, können jetzt nach langen Jahren des Wartens, der Benachteiligung und oft auch der Verfolgung bei uns als Deutsche unter Deutschen leben.
    Ich habe in den vergangenen Wochen wiederholt deutlich gemacht, daß sich die von mir geführte Bundesregierung in besonderer Weise den Aussiedlern verpflichtet fühlt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich wiederhole auch heute von dieser Stelle aus meinen Appell an uns alle: Empfangen wir unsere Landsleute mit offenen Armen und der Bereitschaft zu mitmenschlicher Hilfe. Beweisen wir unsere Fähigkeit zur Solidarität, und werden wir unserer Verantwortung gerecht, die aus gemeinsamer Geschichte und landsmannschaftlicher Verbundenheit erwächst.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Neben viel Zustimmung erreichen mich in diesem Zusammenhang auch manche kritischen Briefe, die mir zeigen, wie notwendig es ist, vor allem junge Menschen mit der ostdeutschen Geschichte und Kultur sowie der Geschichte und Kultur der deutschen Siedlungsgebiete in den Staaten Ost- und Südosteuropas vertraut zu machen.
    Meine Damen und Herren, den eindrucksvollsten Anschauungsunterricht für die Notwendigkeit, das Bewußtsein für die Einheit der Nation zu wahren, bietet immer wieder Berlin. Die Mauer, die den einen Teil der Stadt vom anderen und von ihrem natürlichen Umland trennt und die den Menschen in Berlin buchstäblich im Wege steht, macht für jedermann deutlich, daß die Teilung der Stadt — ebenso wie die Teilung Deutschlands und Europas — nicht das letzte Wort der Geschichte sein kann.
    Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung ist deshalb immer auch Politik für Berlin. Es bleibt eine wesentliche Aufgabe, die Freiheit und Lebensfähigkeit des westlichen Teils der Stadt zu wahren und seine Anziehungs- und Ausstrahlungskraft zu fördern — in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht. Neben dem Engagement der drei Schutzmächte bedarf es dazu einer dynamischen Entwicklung der Bindungen zwischen Berlin und dem Bund. Berlin muß selbstverständlich in die Entwicklung des WestOst-Verhältnisses und insbesondere in die innerdeutschen Beziehungen voll einbezogen werden. Eine Deutschlandpolitik ohne Berlin oder um Berlin herum kann und wird es nicht geben. Ebensowenig darf es Beziehungen der DDR zu Berlin um Bonn herum geben. Nur die für Berlin lebensnotwendigen Bindungen an den Bund gewährleisten, daß die Stadt an der Entwicklung des freien Teils Deutschlands und des freien Europa wie in den vergangenen Jahren voll teilhat.
    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, unsere Deutschlandpolitik will Freiheit für alle Deutschen erreichen. Diese Politik braucht Geduld, langen Atem und Beharrlichkeit. Sie braucht aber auch die Begeisterung, die von der Idee der Freiheit ausgeht. Augenmaß und Leidenschaft schließen einander nicht aus. Wir sollten uns ein Beispiel an den Männern und Frauen nehmen, die vor 40 Jahren im Parlamentarischen Rat über unsere Verfassung, das Grundgesetz, berieten — dieses Dokument des Freiheitswillens aller Deutschen, auch jener Deutschen, „denen mitzuwirken versagt war".
    Die Gründergeneration unserer Bundesrepublik Deutschland konnte uns den Wert und die Würde verantworteter Freiheit zurückgewinnen, weil sie die Kraft aufbrachte, die Last der Geschichte anzunehmen. Sie hat uns damit den Weg in eine Zukunft eröffnet, in der — dessen bin ich sicher — alle Deutschen und alle Europäer eines Tages in gemeinsamer Freiheit vereint sein werden. Es ist unsere Pflicht, meine Damen und Herren, auf diesem Wege und für dieses
    8100 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Ziel gemeinsam zu arbeiten. Es ist ein Werk des Friedens.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Aussprache über Ihre Regierungserklärung vom 10. November 1988, in der Sie, Herr Bundeskanzler, über Ihre Moskau-Reise berichteten, habe ich der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß zwischen der Koalition und uns hinsichtlich wichtiger Elemente der Ostpolitik künftig eine gewisse Gemeinsamkeit möglich sei. Ihre heutige Regierungserklärung läßt es als denkbar erscheinen, daß eine solche Gemeinsamkeit auch in bezug auf bestimmte Elemente der Deutschlandpolitik erreicht werden kann; dies deshalb, weil Sie inzwischen nicht nur verbal, sondern auch inhaltlich relevante Teile unserer Deutschlandpolitik, die Sie — und das darf nicht verschwiegen werden — in den 70er Jahren erbittert bekämpft haben, übernommen haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Auf dieser Grundlage sind in den letzten Jahren und Monaten in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, aber auch hinsichtlich der Lebensverhältnisse der Menschen in beiden Staaten, fühlbare und begrüßenswerte Verbesserungen erreicht worden. Einige davon haben Sie genannt, so etwa die erhebliche Zunahme der Besuchsreisen in beiden Richtungen, die gestiegene Zahl von Übersiedlungsgenehmigungen, die wachsende Anzahl von Städtepartnerschaften, den zunehmenden Austausch in Wissenschaft und Kultur, die Verständigung darüber, daß mit der Sanierung der Elbe unabhängig von der Regelung der Grenzfrage begonnen werden kann und die Aufnahme von Verhandlungen über die Verbesserung des Schienentransitverkehrs zwischen Westdeutschland und Berlin-West.
    Dies alles ist wohlgemerkt nicht deswegen erreicht worden, weil Sie nach 1982 die von Ihnen während Ihrer Oppositionszeit proklamierte Politik der Maximalforderungen und der Konfrontation praktiziert haben, sondern deswegen, weil Sie sich auf den Boden unserer Politik gestellt und nach Ihrem Vermögen versucht haben, die von uns vorgezeichnete Linie fortzusetzen.

    (Beifall bei der SPD)

    Es wäre nicht unredlich gewesen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie das eingeräumt und nicht mit einem in diesem Zusammenhang eher kleinkariert wirkenden Stillschweigen übergangen hätten.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU — Bohl [CDU/CSU]: Wer ist hier kleinkariert?)

    Übrigens: Im Zusammenhang mit gewissen Gegenleistungen der DDR haben Sie vor kurzem die jährliche Transitpauschale um 335 Millionen DM auf 860 Millionen DM erhöht. Erinnern Sie sich noch, Herr Bundeskanzler, mit welch polemischer Kritik Sie als Opposition auf wesentlich geringere finanzielle Steigerungen zu unserer Zeit reagiert haben?

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ich will hier nicht darüber rechten, ob die jüngste Erhöhung in jeder Hinsicht angemessen war, obwohl man darüber durchaus in Ehren unterschiedlicher Meinung sein kann. Ich will an diesem besonders überzeugenden Beispiel nur deutlich machen, daß Sie auf diesem Gebiet heute genau das tun, was Sie uns früher vorgeworfen haben. Und ich sage: Erfreulicherweise tun Sie es.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich sagte, Sie seien auf die Linie unserer Deutschlandpolitik jedenfalls in Teilen eingeschwenkt oder bemühten sich doch darum. Diese Bemühungen sind jedoch nach wie vor mit erheblichen Unsicherheiten und Unklarheiten über Ihre Grundposition belastet. Das gilt u. a. für Ihre Haltung in der Grenzfrage.
    In Moskau haben Sie beispielsweise im März 1985 in einer von Ihnen und Herrn Honecker als Staatsratsvorsitzendem der DDR gemeinsam unterzeichneten Erklärung gerade auch mit Bezug auf die DDR wörtlich erklärt:
    Die Unverletzlichkeit der Grenzen
    — auch gegenüber der DDR —
    und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden.
    Dessenungeachtet machen Sie Ihrem Generalsekretär Vorwürfe und pfeifen ihn zurück, weil er kürzlich die Wiederherstellung von Vorkriegsgrenzen — er sprach wörtlich von den Grenzen von 19xy — als illusorisch bezeichnet hat. Herr Bundeskanzler, was gilt denn nun? Worauf können und sollen sich denn in Anbetracht solcher Widersprüchlichkeiten unsere Nachbarn in Europa eigentlich verlassen können?

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Gilt für Sie das Bundesverfassungsgerichtsurteil?)

    — Lieber Herr Kollege Waigel, ich habe nicht die Absicht, Ihre Auseinandersetzung mit Herrn Geißler hier aufzunehmen. Da müssen Sie ihn schon selber fragen.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Ich habe Sie gefragt, ob für Sie das Bundesverfassungsgerichtsurteil gilt!)

    — Natürlich gilt für jeden, der unsere Verfassung bejaht, auch die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes. Darüber brauchen wir doch hier keine Auseinandersetzung zu führen.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sehr gut! Dann nehmen Sie es bitte zur Kenntnis!)

    Die gleiche Widersprüchlichkeit ergab sich im übrigen bei der Behandlung Ihres deutschlandpolitischen Papiers. Es enthielt zunächst durchaus realistische Gedanken und unterschied sich dadurch wohltuend von früheren Papieren und früheren Aussagen. Realistisch war insbesondere auch die Feststellung, daß jede Veränderung des Status quo in Mitteleuropa eine positive Haltung unserer Nachbarn voraussetze. Wohl
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8101
    Dr. Vogel
    wahr! Als dagegen der rechte Flügel Ihrer Partei protestierte, mußte das Papier auf Ihr Geheiß, Herr Bundeskanzler, geändert werden und ihm außerdem ein Adenauerzitat vorangestellt werden, demzufolge die Wiedervereinigung Deutschlands das vordringlichste — also das allererste und alleroberste — Ziel Ihrer Politik sei.
    Herr Bundeskanzler, Entschuldigung, das ist doch ein Märchen, mit dem Sie den rechten Rand Ihrer Partei beschwichtigen wollen. Schon für Adenauer war die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis, die auch wir seit der historischen Rede Herbert Wehners vom Juni 1960 akzeptiert haben und die wir unbeschadet der Meinungsverschiedenheiten über die richtige Strategie des Bündnisses unverändert bejahen, wichtiger als die Wiedervereinigung. Wo beides miteinander in Konflikt geriet, hat er sich für die Westintegration ausgesprochen und nicht für das, was Sie als vordringlichstes Ziel bezeichnen.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist doch dasselbe!)

    Adenauer wußte doch ganz genau, daß sich Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung gegenseitig ausschlossen. Und Sie, Herr Bundeskanzler, wissen doch ebenso genau, daß auch heute die Zugehörigkeit der beiden deutschen Staaten zu ihren jeweiligen Bündnissen mit ihrer Vereinigung oder gar mit der Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 unvereinbar ist. Das ist doch die Realität. Warum wird sie nicht ausgesprochen?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Dafür haben wir Sie doch!)

    Meine Damen und Herren, es fällt mir schwer, Herrn Geißler in irgendeinem Punkt zuzustimmen. Aber er hat doch recht, wenn er eben dies klipp und klar ausspricht und damit der Meinung des Herrn Kollegen Dregger entgegentritt, es müsse und werde eine Anknüpfung an das Bismarckreich geben, und das ganze Problem reduziere sich darauf, wie sich der Anschluß der DDR an die Bundesrepublik vollziehen lasse und eines Tages vollziehen werde. Dies sind doch gegensätzliche Positionen.

    (Bohl [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn!)

    Wahr ist demgegenüber: Keiner von uns weiß — und da stimme ich dem Bundeskanzler zu — , welche Antwort die Geschichte auf die Frage der deutschen Teilung bereithält. Die Präambel des Grundgesetzes — um auch den Zwischenruf von Herrn Kollegen Waigel noch einmal aufzunehmen — läßt durchaus auch eine Antwort im Rahmen einer europäischen Friedensordnung zu, einer Ordnung, die die Grenzen durchlässiger macht, Feindbilder überwindet, die individuellen und die sozialen Menschenrechte stärkt und den Deutschen ohne Rücksicht auf ihre staatliche Organisation erlaubt, sich weiterhin als Glieder ein und derselben Geschichts-, Kultur-, Sprach- und Gefühlsgemeinschaft, also einer Nation — dies sind nämlich die konstituierenden Elemente des Nationenbegriffes — , zu verstehen, innerhalb deren unterschiedliche Gesellschaftsordnungen miteinander im friedlichen Wettbewerb stehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Übrigens ist die Frage der Nation ja auch im Grundlagenvertrag festgehalten worden, und der Grundlagenvertrag ist als Vertrag internationaler Qualität jeder innerstaatlichen Regelung übergeordnet.
    Meine Damen und Herren, die DDR kann die Nation nicht abschaffen, wir auch nicht, und wir wollen es auch nicht. Das ist der Kern dessen, was uns das Grundgesetz zu bewahren aufgibt.

    (Jäger [CDU/CSU]: Sie verkürzen das Grundgesetz!)

    Das ist zugleich eine realistische Perspektive für die Zukunft und keine irreale Flucht in die Vergangenheit. Es ist die Voraussetzung dafür, daß die Selbstbestimmung der Deutschen auch in der DDR zunimmt. Das, glaube ich, ist doch unser gemeinsames Ziel.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das Streit- und Dialogpapier, das in einem langen und nicht einfachen Prozeß von Mitgliedern meiner Partei und Repräsentanten der SED erarbeitet worden ist, zielt in diese Richtung. Es verwischt keine Unterschiede; es verdrängt nicht die Opfer, die in den Jahren der Zwangsvereinigung und im Widerstand ge- gen den Stalinismus gerade vom Sozialdemokraten gebracht worden sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Aber es setzt Maßstäbe, an denen sich die Realität in beiden deutschen Staaten messen lassen muß. Es setzt etwa den Maßstab, daß die offene Diskussion über die Erfolge und Mißerfolge der unterschiedlichen Systeme innerhalb jedes Systems ebenso möglich sein muß wie die Reform der Systeme auf Grund solcher Diskussionen oder daß der umfassenden Information der Bürger in Ost und West eine wachsende Bedeutung zukommt und daß deshalb die wechselseitige Verbreitung von periodisch und von nicht periodisch erscheinenden Zeitungen und gedruckten Veröffentlichungen erleichtert werden muß.
    Ich räume allerdings freimütig ein, daß bei der Formulierung dieser Sätze wohl nicht daran gedacht worden ist, daß wir dies nun auch für die Verbreitung sowjetischer Druckerzeugnisse in der DDR einfordern müssen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Aber auch dafür erweist sich dieses Papier als ein durchaus nützlicher Beurteilungsmaßstab, bei dem wir uns auf die Unterschrift beider Seiten berufen können.

    (Jäger [CDU/CSU]: Das Papier sollten Sie vergessen!)

    — Mein Gott, nun schlafen Sie doch so weiter, wie Sie bei der Erklärung des Bundeskanzlers geschlafen haben.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die neue Linkskoalition!)

    8102 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988
    Dr. Vogel
    — Ich finde es bemerkenswert, daß Sie immer erst gegen 10 Uhr aufwachen; das ist zu spät.

    (Jäger [CDU/CSU]: Das ist eine Frechheit! Unverschämtheit! — Seiters [CDU/CSU]: Das ist ziemlich billig, Herr Vogel! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Das, was Sie gerade machen, ist nicht gut für Ihren Kreislauf. Sie sind ein seltener Gast, und da Sie so selten hier sind, regen Sie sich nicht so stark auf!

    (Jäger [CDU/CSU]: Das ist lächerlich!)

    Frau Präsidentin, darf ich in meiner Rede jetzt fortfahren? —

    (Jäger [CDU/CSU] : Oberlehrermanieren sind das!)

    — Jawohl, Herr Professor.
    Das sind wesentliche Elemente unserer Deutschlandpolitik. Wenn es zu einer breiteren Übereinstimmung kommen soll, dann müssen Sie Ihre Grundpositionen in diesen Fragen alsbald klären. Vor allem muß deutlich werden, daß Sie den Auffassungen, die vor allem von Herrn Kollegen Dregger in diesem Zusammenhang vorgetragen werden, nicht folgen. Tun Sie das und nähern Sie sich unserem Konzept auch im Grundsätzlichen, dann sind weitere substantielle Fortschritte möglich. Dann können wir die Chancen der systemöffnenden Zusammenarbeit kraftvoll und verantwortlich nutzen, um es mit den Worten des Herrn Bundespräsidenten zu sagen.
    Zu diesem Zweck sollten Sie die Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen der Volkskammer und dem Deutschen Bundestag nicht weiter hinauszögern, sondern alsbald zum Abschluß bringen.

    (Beifall bei der SPD — Jäger [CDU/CSU]: Das bringt überhaupt nichts! — Frau Dr. Timm [SPD]: Bringt den da drüben doch mal zum Schweigen!)

    — Nun laßt ihn doch. Ich finde es ungeheuer belebend, wie er gegen Auffassungen, die in seiner eigenen Partei ständig an Boden gewinnen, hier protestiert. Ich meine, das ist doch anschaulich.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich appelliere dabei besonders an die neu gewählte Bundestagspräsidentin, an Sie, sehr geehrte Frau Süssmuth. Sie sind auch deshalb mit großer Mehrheit gewählt worden, weil nicht wenige in diesem Haus von Ihnen Selbständigkeit und Eigeninitiative gerade in den Dingen erhoffen, bei denen es sich um die ureigensten Angelegenheiten des Parlaments handelt und bei denen das Parlament bei Entscheidungen nicht der Zustimmung anderer Verfassungsorgane bedarf.
    Die Union sollte die Regelung der Elbegrenze nicht länger blockieren. Ich meine, man sollte auch darauf verzichten, die Existenz der Erfassungsstelle in Salzgitter zum Gesinnungsprüfstein zu machen.
    Es ist auch an der Zeit, ein Luftverkehrsabkommen in Angriff zu nehmen, das den heutigen Realitäten und Verkehrsbedürfnissen im Herzen Europas entspricht. Der Zustand, daß die Flugzeuge der beiderseitigen Fluggesellschaften das Gebiet des jeweils anderen Staatds im Norden oder Süden in weitem Bogen umfliegen, ist unnatürlich und überholt.

    (Beifall bei der SPD)

    Natürlich müssen dabei die Interessen Berlins berücksichtigt und die Rechte der Alliierten gewahrt werden. Der Weg zu solchen Verhandlungen ist inzwischen von Moskau und Ost-Berlin geöffnet worden; er sollte beschritten werden.
    Notwendig ist weiter, daß beide deutsche Staaten miteinander über konkrete Abrüstungsinitiativen reden, die sie innerhalb ihrer Bündnisse in voller Loyalität zu diesen einleiten oder unterstützen können. Wir haben dafür in Gesprächen mit der DDR-Führung, über die Sie jeweils laufend unterrichtet worden sind, den Boden bereitet. Eine Begegnung zwischen Herrn Scholz und dem DDR-Verteidigungsminister Keßler wäre dafür ein weiterer nützlicher Schritt. Sie sollten ihn nicht durch Streitigkeiten darüber verzögern, an welchem Ort und in welcher Kleidung Herr Keßler an dieser Begegnung teilnimmt.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Immerhin ist ein französischer Ministerpräsident vor nicht allzu langer Zeit mit Herrn Hoffmann, dem Vorgänger von Herrn Keßler, der dabei seine Dienstkleidung trug, in Berlin, im Ostteil der Stadt, zusammengetroffen,

    (Kittelmann [CDU/CSU]: Sie meinen, einmal rechtswidrig, immer rechtswidrig?)

    ohne daß dadurch der Status von Berlin irgendeinen Schaden erlitten hätte. Es ist nicht notwendig, daß wir alliierter tun als die Alliierten selber.

    (Beifall bei der SPD)

    Was auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet geschehen sollte, ist zwischen uns im wesentlichen unstreitig; ich brauche es daher nicht im einzelnen aufzuzählen. Ich erinnere jedoch an den gemeinsamen Beschluß aller Fraktionen des Deutschen Bundestags vom 9. Dezember 1987, bei der ins Auge gefaßten Einsetzung einer gemischten Wirtschaftskommission deren Arbeit so zu gestalten, daß die bewährten Aktivitäten der Treuhandstelle für Industrie und Handel, die Berlin (West) in vollem Umfang einschließen, nicht beeinträchtigt werden. Das gilt auch für die Wahl der Orte, an denen diese Kommission zusammentritt.
    Auch auf anderen Gebieten muß Berlin voll — da stimme ich mit Ihrer entsprechenden Passage überein — in die Bemühungen um engere Kontakte in den West-Ost-Beziehungen und einen intensiveren Austausch einbezogen werden. Gerade in einer Zeit, in der die europäische Einigung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft voranschreitet und immer häufiger vom gemeinsamen europäischen Haus die Rede ist, ergeben sich unseres Erachtens für Berlin neue und ermutigende Perspektiven. Der bisherige Nachteil einer Randlage kann sich zum künftigen Vorteil einer zentralen Lage im Herzen Europas, und zwar an der Stelle wandeln, an der sich zwei europäische Teilregionen begegnen und eines Umschlagplat-
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8103
    Dr. Vogel
    zes, ja eines Scharniers, bedürfen. Dies ist die Perspektive für Berlin.

    (Beifall bei der SPD)

    Aus dem Ort der Konfrontation kann so ein Ort der Begegnung, ja des Miteinanders werden, eines Miteinanders, das auf besondere Weise auch die Schutzmächte und die Sowjetunion einschließt. Der Berlin-Status braucht dem ebensowenig entgegenzustehen wie die inzwischen erfreulicherweise auch vom Berliner Senat anerkannte Tatsache, daß der Ostteil der Stadt für die DDR faktisch seit langem Hauptstadtfunktionen wahrnimmt. Die Anerkennung der Realitäten ist für jede sinnvolle Politik eine notwendige Voraussetzung. Für die Deutschlandpolitik gilt das im besonderen Maße, und zwar in jeder Hinsicht.
    Zu den Realitäten gehört auch, daß sich die DDR gegenwärtig in einer für ihre Führung ungewöhnlich schwierigen Phase befindet. Daß die materiellen Lebensbedingungen trotz aller Anstrengungen und nicht zu übersehender Fortschritte in der DDR auf vielen Gebieten hinter den materiellen Lebensbedingungen in der Bundesrepublik zurückbleiben, ist der dortigen Führung ebenso seit langem bewußt wie die Tatsache, daß die meisten DDR-Bürger mehr Pluralismus, mehr individuelle Freiheit und mehr Mitwirkungsmöglichkeiten wünschen. Und die DDR-Führung weiß wohl auch um die Sogwirkung, die deshalb von der Bundesrepublik auch für solche Menschen ausgeht, die an sich gerne in ihrer angestammten Heimat bleiben würden und sich mit ihrem Staat durchaus identifizieren möchten.
    Neu ist jedoch, daß auf Grund der Gorbatschowschen Reformpolitik ein Veränderungsdruck auch von der Sowjetunion ausgeht, und zwar in einem Maße, daß repressive Maßnahmen nicht mehr allein gegen westliche Medien und ihre Repräsentanten oder gegen Medien im eigenen Lande — etwa gegen Kirchenzeitungen — , sondern jetzt auch gegen sowjetische Zeitschriften und — weniger beachtet — gegen sowjetische Filme ergriffen werden — ein Vorgang, der noch vor kurzem als undenkbar erschienen wäre und der eher Unsicherheit als Selbstbewußtsein verrät.

    (Beifall bei der SPD)

    Es ist eine Sache, diese Vorgänge zu kritisieren. Das tun wir ebenso wie — nach meinem Eindruck — alle Fraktionen dieses Hauses, und zwar da, wo es geboten ist, auch mit deutlichen Worten. Eine andere Sache ist es, sich so zu verhalten, daß die reformwilligen Kräfte im anderen deutschen Staat gestärkt werden, jene Kräfte, die wissen, daß die Bürgerinnen und Bürger eines auch technologisch entwickelten Industriestaates im Herzen Europas, die über das, was um sie herum vorgeht, genau im Bilde sind, nicht auf Dauer im Zustand einer beschränkten Mündigkeit gehalten werden können,

    (Zustimmung bei der SPD)

    sondern daß diese Menschen ein höheres Maß an Selbstverantwortung und Entfaltungsmöglichkeit verlangen, und die wissen, daß die Erfüllung dieser Wünsche die Stabilität der DDR, ihr internationales
    Gewicht und das Selbstbewußtsein ihrer Gesellschaft nicht mindern, sondern heben und festigen würde.

    (Beifall bei der SPD)

    So sehr man auch gelegentlich die Versuchung spürt: Wir können eine solche Entwicklung weder durch Konfrontation noch durch Destabilisierung fördern, sondern nur durch einen Kurs, der Offenheit mit kluger Beharrlichkeit verbindet — und das auch in unserem eigenen Interesse!

    (Jäger [CDU/CSU]: Nichts anderes tun wir! Nicht anderes tun der Bundeskanzler und seine Regierung!)

    Denn nicht billiger Triumph, vielmehr Rückschläge und Gefahren von schwer zu überschauender Tragweite kämen auf uns zu, wenn die Gorbatschowsche Reformpolitik scheitern oder die Situation in der DDR unkalkulierbar werden würde.

    (Beifall bei der SPD)

    Und da hängt, meine Damen und Herren, vieles mit vielem zusammen.

    (Feilcke [CDU/CSU]: Hoffentlich hört der Gorbatschow zu!)

    Nicht laute Parolen, nicht selbstgefällige Zurechtweisungen oder gar Rückfälle in den Sprachgebrauch des Kalten Krieges

    (Kittelmann [CDU/CSU]: Seien Sie nicht zu selbstkritisch! — Feilcke [CDU/CSU]: So ist er nun einmal!)

    sind deshalb das Gebot der Stunde, sondern der verantwortungsbewußte Umgang mit den realen Gegebenheiten, die nur durch behutsames Herangehen, nicht durch Vergrößerung der Distanz oder gar Konfrontation und erst recht nicht durch Wunschdenken beeinflußt werden können.

    (Lintner [CDU/CSU]: Genau das macht die Bundesregierung!)

    Ein vernünftiges deutschlandpolitisches Zusammenwirken der Kräfte in diesem Hause wäre dafür von Nutzen.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Ja, allerdings!)

    Es wäre übrigens auch das, was die Menschen im anderen deutschen Staat dringend von uns erwarten.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Da haben Sie auch recht!)

    Ich habe deutlich gemacht, auf welcher Grundlage wir, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, zu einer solchen Zusammenarbeit bereit sind.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)