Rede von
Dr.
Herbert
Czaja
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nicht nur eine Reihe von Fragen zum Gesamtkomplex stellen, sondern insbesondere nach den Ausführungen von Frau Hämmerle herauszufinden versuchen, wieweit ein positiver Mindestkonsens mit der SPD in diesen Dingen erzielt werden kann. Deshalb einige Fragen.
Sollten wir einerseits nicht gemeinsam den — für manche allerdings unangenehmen — Leistungswillen vieler Aussiedler als Hilfs- und Facharbeiter — beim Handwerk sehr wohl registriert — gegen bequem gewordene Wohlstandsbürger verteidigen, andererseits Aussiedlern aus Verwaltungsberufen verstärkt durch Umschulungs- und Sofortmaßnahmen helfen, damit sie die Schwierigkeiten bei der Erstaufnahme einer Arbeit überwinden? Sollten wir uns selbst und die Bevölkerung nicht mehr darüber informieren, wie schwer daheim der Alltag dieser Aussiedler war — zusätzlich zu den allgemeinen Menschenrechtsverletzungen und der Not — die Diskriminierung als Deutsche, die Entnationalisierung, unterschiedlich in der Lage in Kasachstan, in Siebenbürgen, im Banat, in Oberschlesien? Hätten vielleicht nicht erst seit einem Jahr, sondern seit zehn Jahren viele Politiker darauf drängen müssen: keine neuen wirtschaftlichen Vorteile, solange die nationalen Verfolgungen nicht eingeschränkt werden?
Hätte nicht die angeblich neue Ostpolitik schon seit 1970 nicht nur eine — bald gestoppte, bald beschleunigte — erkaufte Ausreise, sondern entschieden auch unabdingbare kulturelle, muttersprachliche Rechte in der Heimat fordern sollen, damit die Leute nicht herkommen müssen?
7016 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 102, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Oktober 1988
Dr. Czaja
Haben unsere zahlreichen in den Ostblock reisenden Politiker so wie der Staatssekretär Spranger die Deutschen in der Heimat besucht und sie dort in ihrem Selbstbewußtsein gestärkt?
Wir sind hier aber auch in der Debatte sehr ernst auch nach unserem Verhältnis gegenüber unserem Volk gefragt. Dazu stand doch auch Kurt Schumacher, und niemand, meine Damen und Herren, hat ihn der Deutschtümelei beschuldigt, auch nicht den Kardinal Höffner, als er beim Neujahrsempfang 1985 sagte, daß wir die sittliche und die religiöse Pflicht der — so wörtlich — Liebe zu Volk und Vaterland beachten müssen.
Gibt es nicht bei vielen Politikern Nachholbedarf im Bekenntnis zu den geschichtlich und natürlich gewachsenen engeren menschlichen Gemeinsamkeiten, also auch zu Volk und Staat, ohne daß das Menschsein preisgegeben wird?
Haben Sie, Herr Ministerpräsident Lafontaine, Ziffer 41 des immerhin noch nicht ganz begrabenen Godesberger Programms ganz vergessen, oder kennen Sie diese Ziffer nicht? Dürfen Sie als Verfassungsorgan — ich betone: Verfassungsorgan — das Staatsangehörigkeitsrecht — 65 % der Aussiedler haben ja die Heimat als deutsche Staatsangehörige und deren Abkömmlinge verlassen —, dürfen Sie das Bundesvertriebenengesetz, dürfen Sie die Art. 11 und 116 des Grundgesetzes zur Seite schieben? Wissen Sie, daß es den Begriff „deutschstämmig" zwar im Dritten Reich gab, aber in keinem unserer Gesetze gibt?
Bekennt man sich ebenso klar wie beim Datenschutz zur Verfassung und zu ihrer verbindlichen Auslegung in Karlsruhe, wenn es um die Pflichten für Deutschland und die Deutschen, also um die Präambel, die Art. 23, 146, 11, 116 und 16 des Grundgesetzes und die Entscheidung von Karlsruhe vom 7. Juli 1975 geht?
Besteht nicht angesichts des besonders mutigen Ringens von Kohl in Moskau um Menschenrechte vor unserer Tür, um die Zukunft unseres Volkes und Deutschlands ein für viele Aussiedler unverständlicher Nachholbedarf vieler deutscher Politiker? Wären wir in einem sachlichen Mindestkonsens in der Vertretung gesamtdeutscher Anliegen, in der Treue zu Deutschland nicht weiter, als wir heute sind? Sagen uns nicht viele Aussieder mit Recht, daß man auch auf ein zehnfaches Njet ungebeugt seine Forderungen in den Kernfragen erheben muß, um später einen Durchbruch zu erreichen? Kann und darf sich das Engagement der Opposition — nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich diese Frage stelle, und beantworten Sie sie nicht zu rasch — in dieser doch brennend werdenden gesamtdeutschen Aktualität abhängen lassen? Ich möchte das nicht.
Letzte Frage: Sollten wir die Aussiedler nicht penetrant nach ihren freundschaftlich-menschlichen Erfahrungen mit den Angehörigen der Nachbarvölker ebenso fragen wie nach dem geringen Maß der
Perestroika im Alltag, nach Täuschungen und Enttäuschungen?
Meine Damen und Herren, Fehlleistungen in den Aussagen über Aussiedler und das zeitgleiche Ringen in Moskau sollten wohl Anlaß zur aktuellen Neubesinnung im Gesamtkomplex Volk, Staat und Mindestkonsens über Deutschland und die Deutschen sein.
Ich danke Ihnen.