Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Wer als Deutscher die wohlüberlegte individuelle Entscheidung trifft, in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln, oder als deutscher Volkszugehöriger aus seiner jetzigen Heimat in einem Staat Ost- oder Südosteuropas aussiedeln will, nimmt nicht nur ein geschütztes Recht unseres Grundgesetzes in Anspruch, sondern kann auch mit unserer Starthilfe für eine neue Existenz und unserer Solidarität rechnen."
Das ist das Wort des SPD-Vorsitzenden Dr. Vogel im Zusammenhang mit seinem Besuch in Friedland im Juli dieses Jahres.
Dem ist an sich nichts hinzuzufügen.
Das war die Position aller Bundesregierungen seit 1949, und das waren auch nach den Bekundungen und Diskussionen die Positionen aller Fraktionen hier im Hause. Um so schlimmer ist, daß Herr Lafontaine mit seinen Parolen diese Gemeinsamkeit verlassen hat und auch die hier zugesagte Unterstützung der SPD gegenüber den Aussiedlern desavouiert hat.
Herr Lafontaine, statt hier unqualifizierte Angriffe gegen die Bundesregierung und ihr Programm vorzunehmen, wäre es besser gewesen, wenn Sie Ihre unerträglichen Parolen heute zurückgenommen hätten.
Frau Kollegin Hämmerle, Sie kritisieren Probleme bei der Umsetzung. Das Programm der Bundesregierung steht. Es ist mit allen Ländern abgestimmt. Es ist eine Frage der Umsetzung, und das ist das Problem. Ich werde gerade auf die Situation im Saarland noch kurz eingehen.
Ich darf für die Bundesregierung heute feststellen: Die Deutschen in den Aussiedlungsgebieten gehören zur Schicksalsgemeinschaft unseres Volkes. Sie haben auch heute keine oder nur unvollkommene Möglichkeiten, ihre Kultur, ihre kirchlichen Traditionen, ihre Sprache zu bewahren. Die Politik der Bundesregierung bleibt darauf gerichtet, die Lage der Deutschen in den Aussiedlungsgebieten zu erleichtern. Die Bundesregierung respektiert die individuelle und
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 102. Sitzung. Bonn, Mittwoch. den 26. Oktober 1988 7011
Parl. Staatssekretär Spranger
ja auch existentielle Entscheidung jedes Deutschen, der aus den Aussiedlungsgebieten in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelt, um hier wieder frei als Deutscher unter Deutschen leben zu können. Das hat mit Deutschtümelei überhaupt nichts zu tun; das ist eine unerträgliche Diffamierung.
Die zu uns kommenden Aussiedler sind gleichberechtigte Staatsbürger. Sie genießen wie wir den Schutz des Grundgesetzes. Es ist für uns alle eine nationale und auch moralische Pflicht, den Aussiedlern nach besten K. cften dabei zu helfen, hier schnell eine neue Heimat zu finden. Bund, Länder und Gemeinden haben schließlich jeweils in ihrem Verantwortungsbereich alle Anstrengungen zu unternehmen, die bestmöglichen Voraussetzungen für die Eingliederung der Aussiedler zu schaffen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hält es für beschämend, daß Ministerpräsident Lafontaine diese Basis der Gemeinsamkeit verläßt und in arroganter wie in kaltherziger Weise den Aussiedlern die Freiheit und das Recht beschneiden will, welche ihnen das Grundgesetz einräumt.
Er kränkt mit seinen Äußerungen nicht nur die Aussiedler, die jetzt zu uns kommen, sondern er kränkt auch die Hunderttausende, ja Millionen von Landsleuten, die das Glück hatten, schon früher als Aussiedler zu uns kommen zu können. Diese Menschen können nicht verstehen, warum ihre Leidensgenossen und Schicksalsgefährten jetzt auf einmal nur „Deutschstämmige" sein sollen, bei denen man sich noch überlegen müsse, ob überhaupt und wann sie bei uns einreisen können.
Absurd ist auch sein Versuch, die Abneigung gegenüber Aussiedlern mit seiner Soge um das Asylrecht für politisch Verfolgte zu bemänteln. Ich erkläre hier mit Nachdruck: Es gibt kein Abwägen zwischen dem Recht eines deutschen Aussiedlers und dem Recht eines politisch Verfolgten. Es bleibt eine nationale Aufgabe, die deutschen Aussiedler bereitwillig aufzunehmen. Völlig unabhängig davon gilt das Asylrecht für die wirklich politisch Verfolgten.
Gerade der Saarländer Lafontaine sollte dies trotz seines relativ jungen Alters verstehen.
Es mag sein — aber nichts wird dadurch besser —, daß Lafontaine mit seinen empörenden Äußerungen versuchen möchte, sich aus seiner Verantwortung für die Aussiedler in seinem Land zu stehlen und sie auf den Bund abzuwälzen.
Ähnliches hat man ja in der letzten Woche auch von Oberbürgermeister Schmalstieg gehört.
Jedermann im Bundestag weiß, daß der Bund mit seinem Sonderprogramm zur Eingliederung der Aussiedler Mittel in Milliardenhöhe zur Verfügung stellt. Es ist ja hier auch weitgehend einvernehmlich
verabschiedet worden. Es geht jetzt darum, dieses Programm zugunsten der Aussiedler mit vereinten Kräften umzusetzen. Ich meine, daß hier auch die Phantasie, der Einfallsreichtum und die große Flexibilität des Ministerpräsidenten des Saarlandes gefragt sind,
der noch am 18. Oktober in einer Presseerklärung sein Unvermögen eingestanden hat, vorläufige Unterkünfte für die Aussiedler zu schaffen. Hier einige Zahlen: Das Saarland hat nach der Statistik des Vorjahres von den gut 80 000 Aussiedlern noch nicht einmal 400 aufgenommen.
In den ersten neun Monaten dieses Jahres waren es 705. Statt der im Bundesratsschlüssel vorgesehenen 2,5 % hat das Saarland 1987 und 1988 jeweils nur 0,5 % der Aussiedler aufgenommen.
Auf die Bevölkerung des Saarlandes gerechnet sind dies 0,4 bzw. 0,2 Promille.
Herr Lafontaine schämt sich noch nicht einmal, das auch öffentlich darzulegen und bekanntzumachen.
Ich kann nur sagen: Kommen Sie endlich Ihren politischen und menschlichen Verantwortung und Pflichten nach, statt solche unerträglichen Parolen zu verbreiten!
Meine Damen und Herren, die Aussiedler und ihre Kinder wollen endlich inmitten unseres Volkes und ihres Vaterlandes ihr Leben frei gestalten. Wir sollten sie nicht zu Bürgern minderen Rechts stempeln, sondern sie offen als gleichberechtigte Bürger auf- und annehmen. Bewahren wir die Gemeinsamkeit der Politik, die in dieser Haltung zum Ausdruck kommt!