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    Plenarprotokoll 11/90 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 90. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 7. September 1988 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989: (Haushaltsgesetz 1989) (Drucksache 11/2700) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1988 bis 1992 (Drucksache 11/2701) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung): Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1988: (Nachtragshaushaltsgesetz 1988) (Drucksache 11/2650) Dr. Vogel SPD 6113 B Dr. Waigel CDU/CSU 6124 C Frau Vennegerts GRÜNE 6133 B Dr. Bangemann FDP 6136B Dr. Kohl, Bundeskanzler 6141 B Dr. Ehmke (Bonn) SPD 6152 B Rühe CDU/CSU 6160A Genscher, Bundesminister AA 6165 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 6168 C Wimmer (Neuss) CDU/CSU 6170D Kühbacher SPD 6174 A Frau Seiler-Albring FDP 6179A Frau Beer GRÜNE 6181 C Dr. Scholz, Bundesminister BMVg 6183 D Gerster (Worms) SPD 6188 C Dr. Friedmann CDU/CSU 6190 B Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 6193 D Dr. Hauchler SPD 6197 B Hoppe FDP 6201 A Volmer GRÜNE 6202 B Nächste Sitzung 6205 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 6207* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. September 1988 6113 90. Sitzung Bonn, den 7. September 1988 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 9. 9. Andres 7. 9. Dr. Becker (Frankfurt) 9. 9. Böhm (Melsungen)* 9. 9. Brandt 7. 9. Büchner (Speyer) 7. 9. Dr. von Bülow 8. 9. Clemens 7. 9. Frau Dr. Däubler-Gmelin 7. 9. Gallus 8. 9. Dr. Glotz 7. 9. Dr. Hauff 9. 9. Hiller (Lübeck) 9. 9. Höpfinger 9. 9. Frau Hoffmann (Soltau) 9. 9. Ibrügger** 9. 9. Dr.-Ing. Kansy** 9. 9. Frau Karwatzki 9. 9. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Kelly 8. 9. Kuhlwein 9. 9. Dr. Kunz (Weiden)** 9. 9. Lutz 7. 9. Dr. Meyer zu Bentrup 8. 9. Niegel* 9. 9. Oostergetelo 9. 9. Frau Pack* 7. 9. Dr. Probst 9. 9. Rappe (Hildesheim) 9. 9. Dr. Riedl (München) 7. 9. Seidenthal 7. 9. Frau Steinhauer 9. 9. Frau Terborg 7. 9. Tietjen 9. 9. Toetemeyer 8. 9. Frau Weiler 9. 9. Westphal 9. 9. Frau Wilms-Kegel 9. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hildegard Hamm-Brücher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Glauben Sie nicht, daß es sogar die Aufgabe des Parlaments und von Abgeordneten auch der Regierungsfraktionen ist, einen solchen Prozeß dann eben zu befördern? Das haben wir in unserer Koalition früher doch auch gemacht.


Rede von Dr. Horst Ehmke
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Also, gnädige Frau, ich wäre ja dankbar, wenn sich Herr Rühe Ihnen, die Sie das ja manchmal tun, anschließen würde und unseren Anträgen manchmal zustimmte. Dann wären wir in der Bundesrepublik ein ganzes Stück weiter.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Rühe [CDU/CSU]: Das geht zu weit!)

Aber unsere Sorgen hören bei diesen Unklarheiten und Widersprüchen nicht auf. Denn wir haben ja gleichzeitig eine Diskussion, von General Galvin angefangen, dann von Herrn Strauß in Washington fortgeführt, und natürlich hat Herr Scholz ins gleiche Horn geblasen, daß wir nämlich eine Modernisierung der Nuklearwaffen brauchten. Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, in der letzten Woche haben drei Abgeordnete der SPD-Fraktion, auf amerikanisches Material gestützt, dazu Fragen an die Bundesregierung gestellt. Ich habe meine Antworten heute bekommen; ich weiß nicht, ob die anderen Kollegen sie auch bekommen haben. Ich sage Ihnen: Mit den Antworten kommen Sie bei uns nicht durch. Das Material der Anhörungen und die Aussagen der führenden amerikanischen Militärs im Kongreß sagen das Gegenteil von dem, was uns da in sehr lockerer Form geantwortet worden ist. Ich kann Ihnen nur raten, bei der zweiten Fassung, wenn wir fragen, sorgfältiger zu antworten.



Dr. Ehmke (Bonn)

Und dann möchte ich vor allen Dingen eins sagen: Laufen Sie doch um Gottes willen hier nicht mit amerikanischen Interessen mit, die sich nun ausnahmsweise nicht mit unseren decken! Das kommt ja auch zwischen Freunden und Verbündeten vor, und die Amerikaner verstehen es sehr gut, wenn man eigene Interessen wahrnimmt. Hier wird wieder einmal nicht Politik gemacht, sondern an der Rüstungsschraube gedreht, obgleich doch der Rückblick zeigt, wie falsch das ist.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Ich verstehe ja, daß Sie nun immer wieder sagen, wie Sie das INF-Abkommen gemacht haben. Aber, Herr Bundeskanzler, daß wir — trotz aller Fehler, die wir gemacht haben; wir auch, ich sage das jetzt gar nicht parteipolitisch — am Ende beim INF-Abkommen gelandet sind, das ist zu 90 die Folge der Tatsache, daß mit Herrn Gorbatschow ein Wechsel in der sowjetischen Führung und in der sowjetischen Politik eingetreten ist.

    (Rühe [CDU/CSU]: Das ist eben ein großer Irrtum!)

    Wenn Sie das nun wirklich für sich in Anspruch nehmen wollen, dann müßten Sie dem Hohen Hause darlegen, wie Sie Herrn Gorbatschow in Ihrer historischen Allmacht zum Generalsekretär der KPdSU befördert haben. Aber ich weiß — ich sage das noch einmal —, auch wir haben Fehler gemacht.

    (Rühe [CDU/CSU]: Können Sie den Fehler einmal genauer bezeichnen?)

    Das habe ich hier von dieser Stelle aus schon gesagt. Aber nun so zu tun, das sei da alles glatt gelaufen — ohne Gorbatschow wäre gar nichts gelaufen.
    Ich möchte noch einmal wiederholen, was ich in der letzten Plenardebatte vor den Ferien hier gesagt habe: Eine Auf- oder Nachrüstung im Bereich nuklearer Raketen oder Flugkörper nach dem INF-Vertrag ist mit der SPD nicht zu machen.

    (Beifall bei der SPD)

    Eine solche Modernisierung, wie Herr Scholz sie nicht nur empfiehlt, sondern wie sie von der Hardthöhe auch vorbereitet wird, würde einen breit angelegten Rüstungswettlauf im Bereich der Raketen, übrigens aber auch im Bereich der Anti-Raketen-Raketen auslösen. Damit wäre die zweite Phase der Entspannungspolitik insgesamt gefährdet — ich glaube, der Außenminister teilt da unsere Meinung, wenn ich seine Potsdamer Rede richtig verstehe — , weil die mit dem Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozeß untrennbar verbunden ist. Dafür, Herr Bundeskanzler, darf die Regierung die Verantwortung nicht übernehmen, auch nicht durch Nichtstun.
    Es ist an der Zeit, Klarheit zu schaffen. Ihr Versäumnis käme den deutschen Interessen, käme uns allen teuer zu stehen. Die Linie des Weiterlaufenlassens, des Taktierens — erst einmal amerikanische Wahlen abwarten, am liebsten dann noch die Bundestagswahl 1990 aussitzen — kann nur zu politischem Schiffbruch führen. Darum sage ich noch einmal, Herr Bundeskanzler: Sie sollten diese Unklarheiten ausräumen. Es ist nicht gut für uns, wenn die stehenbleiben. Es ist auch nicht gut für unser Verhältnis zu den Alliierten,
    die, wie wir alle wissen, in diesen Fragen zum Teil anderer Meinung sind.
    Noch eines, Herr Bundeskanzler. Ich finde, es wäre gut gewesen, wenn Sie sich in irgendeiner Form vor den Bundesaußenminister gestellt hätten, als dieser in einem ausländischen Zeitungsartikel, dessen Inspiratoren unschwer zu erraten sind, ich kann nur sagen: im Stil der McCarthy-Zeit angegriffen worden ist.

    (Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!)

    Wir finden das peinlich und sind Frau Dönhoff dankbar, daß sie in ihrer Zeitung das richtige Wort zu diesem Angriff gefunden hat.

    (Beifall der Abg. Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP])

    Wir sagen Ihnen noch eines. Wir sind nicht darauf aus, einen Raketen-Wahlkampf zu führen. Wir haben im Bereich der Finanz- und der Gesellschaftspolitik usw. genug zu streiten. Aber wenn in der Frage der Modernisierung keine Klarheit geschaffen wird, werden wir dieser Auseinandersetzung nicht ausweichen. Sie können sicher sein: Wir werden dabei in dieser Republik nicht allein sein.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

    Nach unserer Meinung — ich wiederhole das, gerade weil der Bundeskanzler heute in einem eher werbenden Ton gesprochen hat — wäre es sehr vernünftig, gerade in dieser schwierigen Situation in der eigenen Allianz die deutschen Interessen gemeinsam wahrzunehmen. Unsere Vorschläge dazu sind auf dem Tisch:
    Zunächst: Baldiger Beginn von Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa. Ziel muß die Schaffung konventioneller Stabilität vom Atlantik bis zum Ural bei Herstellung beiderseitiger Angriffsunfähigkeit sein. Ich glaube, das ist konsensfähig.

    (Rühe [CDU/CSU]: Klar!)

    Dann: Baldige Aufnahme von Verhandlungen über den Abbau auch der nuklearen Kurzstreckenwaffen bis hinunter zu den nuklearen Gefechtsfeldwaffen. Diese Verhandlungen können parallel zu den KRK-Verhandlungen laufen, in denen die doppelverwendungsfähigen Trägersysteme mit verhandelt werden müssen. Sie haben heute unter Bezugnahme, glaube ich, auf das NATO-Kommuniqué von Reykjavik gesagt: Es ist verabredet worden, daß die einbezogen werden. Der Bundesaußenminister sagt das seit langem. Kollege Rühe dagegen sagt — nun muß ich ihn strafend ansehen — in seinem Interview von gestern oder vorgestern: Na ja, das hat Zeit; wir wollen erst einmal ein Ergebnis im konventionellen Bereich haben, dann würden wir auch darüber reden. Nein, Herr Rühe, Sie haben uns ja vor vier Monaten noch erzählt, wie furchtbar es sei, daß die Sowjets 1 400 Kurzstrekkenraketen haben und wir nur 88. Was ist denn in diesen vier Monaten passiert, das Sie zu der Einschätzung kommen läßt, man könne das ganze Zeug ja ruhig noch jahrelang stehen lassen, bis man ein erstes Ergebnis im konventionellen Bereich erzielt hat?

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Wir wollen sowjetische Abrüstung! — Rühe [CDU/CSU]: Wer hindert die denn, das einseitig wegzunehmen?)




    Dr. Ehmke (Bonn)

    — Augenblick! Wenn Sie sagen, Sie wollen anfangen, das Zeug einseitig wegzunehmen, haben Sie unseren Zuspruch. Aber bis jetzt ist die Position der Bundesregierung, daß zwar der Kanzler heute sagt, er wird verhandeln, daß aber keinerlei Vorschläge oder Schritte unternommen worden sind, auf das Verhandlungsangebot der Sowjets eine konkrete Antwort zu geben. Bitte bringen Sie das in Ordnung! So kann man doch nicht Politik machen! Sie glauben doch nicht, daß Sie die Alliierten umstimmen, indem Sie verschweigen, was eigentlich unsere Interessen sind, die Sie ja doch beim Thema „Fire-break" eher mit etwas jugendlicher Übertreibung dargestellt haben.

    (Rühe [CDU/CSU]: Sehr präzise!)

    Wenn das sehr präzise war, dann verstehe ich um so weniger, Herr Kollege Rühe, daß Sie sich jetzt jahrelang Zeit lassen wollen.

    (Koschnick [SPD]: Sehr wahr!)

    Schließlich: Weltweite Ächtung und Abschaffung chemischer Waffen. Darin sind wir uns wieder einig.
    Eines möchte ich hier klarmachen, Herr Kollege Rühe, auch in Ihrem Interesse, weil unser Beschluß vom Parteitag in Münster zum Beispiel von der FAZ teilweise dahin mißverstanden worden ist, als ob wir, weil wir genauso wie Herr Rühe einen einseitigen Anfang für möglich halten, generell eine einseitige Abrüstung wollten. Das ist nicht der Fall. Wir wollen eine insgesamt gleichgewichtige und keine einseitige Abrüstung. Aber in diesem Rahmen kann es durchaus — ich freue mich, daß ich da mit dem Kollegen Rühe übereinstimme — einseitige Schritte geben, z. B. in Fortsetzung von Montebello im Bereich der taktischen Gefechtsfeldwaffen.
    Ich glaube, das ist ein praktikables Programm. Herr Bundeskanzler, ich glaube, daß nur ein solcher Fortschritt im Abrüstungs- und Rüstungskontrollbereich den Weg für die Fortsetzung des politischen Prozesses von Entspannung und vertiefter Zusammenarbeit zwischen Ost und West öffnen kann. Und darum geht es im Kern.
    Lassen Sie uns den Primat der Politik vor der militärischen Rüstung wieder herstellen! Wie nie zuvor brauchen wir im Ost-West-Bereich eine Politik, die über den Tellerrand verzerrter Bedrohungswahrnehmungen die großen Gemeinschaftsaufgaben der Zukunft sieht und gemeinsam in Angriff zu nehmen versucht.
    In diesem Sinne, Herr Bundeskanzler, würden wir gern auch Ihren Moskau-Besuch sehen. An verschiedensten Andeutungen und Vorwegbelobigungen hat es ja nicht gefehlt. Von einer neuen Seite in den deutsch-sowjetischen Beziehungen ist da die Rede, von einem historischen Markstein. Niemand würde das mehr begrüßen als die deutschen Sozialdemokraten, die mit dem Moskauer Vertrag von 1970 ja die Grundlage des neuen Verhältnisses zwischen Bundesrepublik und Sowjetunion geschaffen und durchgesetzt haben, gegen Ihren Widerstand. Aber noch ist der Verdacht nicht ausgeräumt, daß hier einmal mehr,
    Herr Außenminister, wie gegenüber Polen ein verbaler Rauchvorhang gelegt wird, hinter dem man dann die Dinge mehr oder minder sich selbst überläßt.
    Selbst ein Sympathien für das sowjetische System so unverdächtiger Zeuge wie Präsident Reagan hat neulich festgestellt, daß wir am Beginn einer neuen Ära der Geschichte, einer Zeit anhaltenden Wandels in der Sowjetunion stehen. Ich sage Ihnen: Wenn wir Westeuropäer und, Herr Bundeskanzler, wenn wir Deutschen die Chancen zu Entspannung und Abrüstung, zu Stabilität und einer neuen Qualität des Friedens, die der Reformkurs Gorbatschows bietet, nicht entschlossen für unsere politischen Belange nutzen, dann werden wir uns eines schweren historischen Versäumnisses schuldig machen.

    (Beifall bei der SPD)

    Lassen Sie uns also Gorbatschows Abrüstungsangebote und nicht neue Raketen testen. Lassen Sie uns neue Wege der Ost-West-Zusammenarbeit beschreiten und nicht Hindernisse von der Art immer raffinierterer COCOM-Regelungen errichten.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Ich sehe heute im „Bonner Behördenspiegel" eine Anzeige, Herr Bundeskanzler: „Neue COCOM-Liste — Alles was nicht exportiert werden darf, zumindest nicht in bestimmte Länder" usw. — soundso viele Seiten —, „31,30 DM + MWSt und Porto". — Sie können sich vorstellen, wie dick das ist. Das darf nicht dicker werden. Es ist Unsinn, zu meinen, daß der Westen etwas gewinnt, wenn wir den Osten in diesem Bereich möglichst drosseln. Das war falsch. Darum waren auch Ihre SDI-Abkommen falsch. Wir müssen vielmehr auf eine Sowjetunion setzen, die, unter dem Druck ihrer eigenen Nöte und gezogen von der Möglichkeit der friedlichen Zusammenarbeit mit uns, ihre Aggressivität, ihre Geheimnistuerei, ihren Totalitarismus ablegt und so ein viel berechenbarerer Partner für eine Friedenspolitik in Europa wird.
    Lassen Sie uns auf eine solche Friedensordnung in Europa hinarbeiten, in der die sinnlosen Waffenberge abgebaut werden, in der Menschenrechte gewährleistet sind und in der gemeinsame Aufgaben gemeinsam in Angriff genommen werden! Die unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Systeme in Ost und West müssen in einem friedlichen Wettbewerb ihre positiven statt — wie im Kalten Krieg — ihre negativen Möglichkeiten entwickeln. Das sind die Maßstäbe, Herr Bundeskanzler, an denen wir auch Vorbereitung und Verlauf Ihrer Moskaureise messen werden.
    Ich füge eines hinzu — ich sage das heute mit größerer Dringlichkeit als vorher; ich wundere mich etwas über den Stand der Dinge, weil ich weiß, Herr Bundeskanzler, daß Sie persönlich an der polnischen Problematik besonders interessiert sind — : Über diesen Besuch in Moskau darf der Gesamtzusammenhang unserer Ost-West-Politik, dürfen vor allen Dingen unsere Beziehungen zu Polen nicht vergessen werden, sie dürfen nicht ins Hintertreffen geraten. Was sich jetzt abzeichnet — daß Sie nach Moskau fahren, noch bevor der Termin für Ihren Besuch in Polen feststeht — , ist ungefähr das Schlimmste, was sich



    Dr. Ehmke (Bonn)

    deutsche Außenpolitik in falscher Psychologie leisten kann.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE] — Zurufe von der CDU/CSU)

    — Dann fragen Sie einmal Ihre Kollegen, die dankenswerterweise jetzt immer häufiger nach Polen fahren. Die werden Ihnen meine Einschätzung bestätigen.
    Daß uns die Vergangenheit für die Pflege und den Ausbau des Verhältnisses zu Polen besondere Verantwortung auferlegt, ist gemeinsame Überzeugung in diesem Haus. Gerade deshalb, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, sind wir besorgt über den gegenwärtigen Stillstand der Beziehungen. Die Erwartungen, die der Außenminister mit seinem Besuch in Warschau zu Anfang dieses Jahres geweckt hat, sind in keiner Weise erfüllt worden. Die Arbeit der Anfang des Jahres eingesetzten drei Kommissionen stockt, und wie ich jetzt höre, wird nun auch noch mangels Masse der Besuch des polnischen Außenministers weiter hinausgeschoben.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU)

    — Wenn das nicht so ist, dann sagen Sie das hier. Wir würden dann auch gerne wissen, wann der Kanzler und wann der Bundespräsident der Einladung nach Polen folgen werden.
    Wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung, vielleicht mehr der Finanzminister als der Außenminister, es an Ideen und Initiativen fehlen läßt, um den Versuch zu machen, im Rahmen des uns Möglichen Polen aus seinen ernsten Schwierigkeiten zu helfen. Indessen geht das Land in diesen Tagen durch eine weitere schwere innere Belastungsprobe.
    Wir Sozialdemokraten machen keinen Hehl aus unserer Auffassung und haben keinen Hehl daraus gemacht, daß diese Krise nur bewältigt werden kann, wenn die Reformkräfte in Regierung und Gesellschaft auf breiter Basis zusammenwirken. Es scheint, daß dieser Kurs nun eingeschlagen wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Für unser Verhältnis zu Polen, ein Kernstück sozialdemokratischer Ostpolitik in den 70er Jahren, gilt in besonderer Weise der Satz, daß verbale Beteuerungen nur so viel wert sind wie die sie begleitenden konkreten wirtschaftlichen und politischen Taten. Ich befürchte, Herr Bundeskanzler, daß die Bundesregierung einmal mehr eine Chance ausläßt, indem sie sich gegenüber Polen und seinen Schwierigkeiten auf eine Haltung des Abwartens zurückzieht.
    Wenn ich jetzt die verehrten Herren des Kabinetts für einen Augenblick um besondere Aufmerksamkeit bitten darf: Ich höre, daß es eine Initiative geben soll, Polen, das demnächst sein Verhältnis zur EG regeln wird, aus den Überschüssen der EG zu helfen. Die Regierung würde unsere Unterstützung haben, wenn sie sich einer solchen EG-Initiative anschlösse. Das wäre schon einmal ein erster Schritt.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ich kriege viele Leserbriefe oder Zuschriften in die- I sen Tagen

    (Zuruf des Abg. Erler [SPD])

    — ja, ja, Leserbriefe an Zeitungen und Zuschriften an mich selbst; das ist schon so gemeint, Gernot — , in denen ich gefragt werde: Wie können Sie dafür eintreten, daß Polen noch Schulden erlassen werden und es Geld kriegen soll, nach all dem, was ihm zu Giereks Zeiten schon gegeben worden ist und was nicht geklappt hat usw.? Ich nehme diese Einwände ernst. Aber ich möchte den Menschen, die das fragen, in Erinnerung rufen, was Willy Brandt im November 1985 anläßlich des 15. Jahrestages des Warschauer Vertrages im Warschauer Königsschloß gesagt hat:
    Ohne Stabilität Polens kann es keine Stabilität Europas geben.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

    Bei allem was wir mit der Sowjetunion und mit der DDR machen, sollten wir die Wahrheit dieses Satzes nicht vergessen. Das heißt auch: Ohne Erleichterung seiner wirtschaftlichen Lage wird Polen es nicht schaffen, die notwendigen politischen und gesellschaftlichen Reformen in Angriff zu nehmen und mit Erfolg durchzuführen. Hier hat die Bundesregierung ihre Pflicht noch nicht erfüllt.
    Ich füge etwas pointiert hinzu: Es liegt nicht an den deutschen Banken, daß es z. B. bisher nicht gelungen ist, für Polens drängendes Schuldenproblem konstruktive Lösungen zu finden.
    Ich sage allen: Man braucht sich ja nur das, was in Polen vorgeht, und die Hunderttausende von Menschen, die aus Polen zu uns gekommen sind, anzusehen, um sich zu fragen: Welches Polen und welches Osteuropa wollen wir? Eines, das wirtschaftlich stabil im gesamteuropäischen Rahmen mit uns zusammenarbeiten kann, oder ein Polen und ein Osteuropa, das ein Armenhaus in Europa wird und uns dann viel mehr Probleme schaffen wird, als wenn wir jetzt versuchen, Polen wieder auf die Beine zu helfen?

    (Beifall bei der SPD)

    Damit komme ich noch einmal auf die Finanzpolitik zurück. Herr Bundeskanzler, Ihre Regierung scheint für alles Geld zu haben: für neue Waffen, für die Förderung eines Rüstungskonzerns, der mit der Wettbewerbsordnung in unaufhebbarem Widerspruch steht, für die weitere Auffüllung des Milliardengrabs Schneller Brüter, obwohl das Projekt energie- wie sicherheitspolitisch nicht mehr zu verantworten ist,

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Haben Sie angefangen!)

    für ständig steigende Subventionen einer nicht nur verfehlten, sondern geradezu absurden Agrarpolitik. Für alles das haben Sie Geld. Aber für die Förderung des Zusammenwachsens Europas — und das könnte einer der großen deutschen Beiträge in Richtung Gesamteuropa sein — haben Sie so wenig Geld wie für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich muß sagen: Hier verbindet sich finanzpolitisches Versagen mit



    Dr. Ehmke (Bonn)

    außenpolitischen Versäumnissen zu einem Strickmuster beängstigender politischer Inkompetenz.

    (Beifall bei der SPD)

    Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zur deutsch-französischen Zusammenarbeit sagen. Mit diesem Thema wird sich, sobald Sie Ihre Streitigkeiten mit der Bundesbank ausgeräumt haben, das Haus noch ausführlich zu befassen haben, wenn die im Januar unterzeichneten Zusatzprotokolle zum ElyséeVertrag hier zur Ratifizierung vorgelegt werden. Ratifizierung ist ja vereinbart worden. In diesem Zusammenhang werden wir dann im breiteren Rahmen über unsere politische Zusammenarbeit mit dem französischen Partner zu sprechen haben, von dem die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheitspolitik und Abrüstungspolitik nur ein Teil ist.

    (Sehr richtig! bei der SPD)

    Wir Sozialdemokraten haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß für uns eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit auch in der Friedens-, Sicherheits- und Abrüstungspolitik hohe Priorität hat. Nicht zufällig ist die Vertiefung gerade der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Frankreich noch unter Helmut Schmidt eingeleitet worden.
    Wenn nun aber — ich danke Ihnen für Ihren Brief, Herr Außenminister, auf meine Fragen in bezug auf die Protokolle — im Protokoll über die Schaffung eines deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats vom 22. Januar 1988 festgelegt werden soll, daß sich die beiderseitige Abschreckungs- und Verteidigungs-Strategie „weiterhin auf eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte" stützen müsse, so wird hier unseres Erachtens ein falscher Weg beschritten. Eine solche Festschreibung der Strategie der nuklearen Abschreckung kommt für uns nicht in Betracht,

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    zumal wir die Festschreibung einer Strategie in einem Vertrag generell für politisch unklug halten. Das hat es auch noch nicht gegeben. Überlegen Sie sich das bitte noch einmal.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Wir haben nicht vor — um das ganz klar zu sagen —, die bisherige Abschreckungsstrategie der gesicherten gegenseitigen nuklearen Vernichtung nun statt mit Amerika mit Frankreich fortzusetzen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir wollen sie durch eine Politik und Strategie der gemeinsamen Sicherheit ablösen.

    (Lamers [CDU/CSU]: Mit Ihnen gibt es keine deutsch-französische Zusammenarbeit!)

    Politisch entscheidend ist nach unserer Auffassung etwas ganz anderes als diese Protokolle. Wir müssen endlich ernst machen mit der Kernbestimmung des Elysée-Vertrages von 1963, die zur Abstimmung der außen- und sicherheitspolitischen Konzepte aufruft. Das heißt, wir müssen mit Frankreich gemeinsam die zweite Phase der Entspannungspolitik einschließlich der dazugehörigen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik konstruktiv gestalten. Hier stellt sich
    dann vor allen Dingen die Frage der militärischen Zusammenarbeit mit Frankreich im konventionellen Bereich, um hier auf dem Kontinent eine ausreichende konventionelle Verteidigungs- und Abhaltungskraft bei beiderseitiger Angriffsunfähigkeit zu schaffen. Das ist das zentrale militärische Problem, das wir mit Frankreich zu erörtern haben.
    Herr Lamers, Sie haben korrekt gesagt, die Franzosen sehen das etwas anders. Ich muß hinzufügen: Manche meiner französischen Genossen sehen es in besonderem Maße anders.

    (Lamers [CDU/CSU]: Das kann man wohl sagen!)

    Aber bevor wir in den Diskussionsprozeß gehen — es ist ein Prozeß, der auch schon Fortschritte gebracht hat —, ist es sehr gut, die eigene Position zu umreißen, statt ohne dies mit Leuten, die eine Position haben, ein Gespräch zu beginnen, sich langziehen zu lassen und dann bei etwas zu landen, was hinterher keiner gewollt hat. Wir haben unsere Position klargemacht — machen Sie das bitte auch —, bevor wir dort weiter verhandeln.

    (Beifall bei der SPD)

    Wie unklar Ihre Positionen bisher sind, habe ich gerade dargelegt, Herr Lamers.
    In dem Ziel, durch ein Optimum an deutsch-französischer Zusammenarbeit die politische Handlungsfähigkeit Westeuropas dauerhaft zu stärken, sind wir uns einig, jedenfalls im großen und ganzen. Was diese Bundesregierung jedoch an praktischen Schritten unternimmt, Herr Bundeskanzler und Herr Verteidigungsminister, hat eher symbolischen als praktischen Charakter. Ich fürchte, gerade dieser symbolische Charakter, so gut er gemeint ist — ich unterstelle keine schlechten Motive — , wird auf die Dauer eine engere Zusammenarbeit erschweren. Das gilt auch für die geplante deutsch-französische Brigade, für die ich überhaupt keine Zukunft auf höherer Truppenebene sehe.
    Aber auch angesichts dieser Unterschiede wäre es gut, wenn wir uns im deutsch-französischen Verhältnis über drei Dinge klar und einig sein würden. Nämlich erstens daß wir keine Großmachtrolle Westeuropas anstreben. Zweitens daß wir keine andere Westeuropäer ausschließende Militärachse Bonn/Paris anstreben, weil das zu einer Schwächung Westeuropas führen würde. Und drittens daß eine solche Schwächung Westeuropas die Erfüllung der Ost und West gleichermaßen gestellten Aufgabe erschweren würde, in Kooperation wie in Wettbewerb miteinander eine stabile Friedensordnung für ganz Europa zu schaffen.
    Eine gemeinsame Politik, um diese drei Ziele — nicht irgendeinen waffentechnischen Kleinkram der Verteidigungsministerien — zu erreichen, das ist die große Aufgabe, auf die wir uns in unserem Verhältnis zu Frankreich gemeinsam konzentrieren sollten.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FDP)