Rede von
Günter
Rixe
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Mühen der Berge liegen hinter uns; vor uns liegen die Mühen der Ebene. " Mit diesem Zitat von Bertolt Brecht schloß der Sprecher der Lehrlinge auf einer Freisprechungsfeier der Fachinnung für Elektrotechnik seinen Beitrag. Dieser junge Mann hat nach seiner gerade abgeschlossenen Ausbildung schon die Notwendigkeit der ständigen Weiterbildung im Blick.
Einen vielschichtigen Einblick in die Probleme vor und während der Berufsausbildung habe ich aus Äußerungen von Jugendlichen in den letzten Tagen. Die 19jährige Sabine sagt:
Mit meiner Fachoberschulreife habe ich mir eigentlich gute Chancen ausgerechnet. Ich habe mehr als 40 Bewerbungen geschrieben in den verschiedensten Berufen. Alles Absagen. Meine Eltern wollen, daß ich endlich was mache. Ich will ihnen auch nicht weiter auf der Tasche liegen wie schon in den letzten zwei Jahren.
Für eine andere Gruppe spricht die 16jährige Katja:
Ich bin schon Sonderschülerin, und uns halten die doch alle sowieso für bekloppt. Mir ist das echt peinlich, zu sagen, von welcher Schule ich komme. Mit meinem Schulabschluß kann ich froh sein, wenn ich überhaupt einen Ausbildungsplatz bekomme. Am liebsten würde ich Friseuse werden. Aber die nehmen mich sowieso nicht. Ich habe mich bei der Arbeitsverwaltung wieder eintragen lassen, um im nächsten Jahr einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Von der Industrie- und Handelskammer Ost-Westfalen zu Bielefeld, meiner Heimatstadt, wird z. B. gesagt, das Mädchenproblem werde deshalb noch geraume Zeit andauern, weil es dafür keine durchgreifenden Lösungsmöglichkeiten gebe.
Wenn der Bundesbildungsminister auch vor diesem Hintergrund sagt: „Es muß uns deshalb allen gemeinsam darum gehen, die Trends zu stabilisieren" — das kann man ja nachlesen, Herr Möllemann —, dann müssen wir Sozialdemokraten ihm erneut entgegenhalten: Auch das, was ich soeben vorgetragen habe, sind Trends: Trends zur ständigen Ausgrenzung und Verweigerung von Lebenschancen für erhebliche Gruppen innerhalb der Jugendlichen. Diesen Trends wollen wir Sozialdemokraten ganz entschieden entgegentreten.
Unter der Überschrift „Neue Normalität und altes Dilemma" beschrieb die „Süddeutsche Zeitung" am 10. Februar nach der Unterüberschrift „Jugend und Betriebe zwischen Arbeitslosigkeit und Nachwuchsmangel" zusammenfassend so:
Doch im Einzelfall gibt es noch immer zu viele Schulabgänger/innen ohne berufliche Perspektive, zu viele „schwarze Schafe" im Ausbildungsbereich, zu viele Lücken, Brüche, fehlende Koordination im dualen System, oft kaum zu überwindende Hindernisse an der berüchtigten Schwelle zwischen Ausbildung und dementsprechend qualifizierter Beschäftigung.
Der Deutsche Bundestag hat bereits am 25. Juni 1987 den Berufsbildungsbericht 1987 mit allen seinen statistischen Daten und seinen bildungspolitischen Schlußfolgerungen diskutiert. Die alltäglichen Erlebnisse und Erfahrungen der Betroffenen vor Ort sind dazu durchaus Beleg für die vom Deutschen Gewerkschaftsbund vorgelegte Berufsbildungsbilanz 1987 und die Berufsbildungsprognose 1988; man sollte sie einmal genau lesen. Danach wird es weiterhin 364 000 Jugendliche in nicht voll qualifizierten Ausbildungsmaßnahmen geben; voraussichtlich ohne Ausbildung werden auch 1988 etwa 225 000 Jugendliche bleiben — alles nachzulesen im Minderheitenvotum des Berichts des Hauptausschusses beim BIB. Das sind die Zahlen, und nicht nur die 36 000, von denen Herr Möllemann eben gesprochen hat, die keinen Ausbildungsplatz fanden; es sind die vielen Altbewerber, die noch warten, heute schon 20, 21 Jahre sind und in den letzten Jahren noch keine Chance hatten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.