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    Plenarprotokoll 11/68 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 68. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 10. März 1988 Inhalt: Tagesordnungspunkt 22: Beratung des Antrags der Abgeordneten Müntefering, Conradi, Amling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Wohnungsgemeinnützigkeit erhalten und stärken (Drucksache 11/1389) Müntefering SPD ......................4627 B Dr. -Ing. Kansy CDU/CSU................4629 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE..........4633 A Grünbeck FDP..........................4634 D Jahn (Marburg) SPD....................4636 D Dr. Schneider, Bundesminister BMBau.. 4638 D Conradi SPD ..........................4641B Schulhoff CDU/CSU ....................4643 C Mischnick FDP (Erklärung nach § 30 GO) 4645 C Conradi SPD (Erklärung nach § 30 GO). 4645 D Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 8: Gesetz zu dem Übereinkommen vom 10. April 1984 über den Beitritt der Republik Griechenland zu dem am 19. Juni 1980 in Rom zur Unterzeichnung aufgelegten Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Drucksachen 11/1611, 11/1951).............4646 A Tagesordnungspunkt 23: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Olms und der Fraktion DIE GRÜNEN: Übernahme des Berliner Document Centers für NS-Akten durch die Bundesrepublik Deutschland (Drucksache 11/1926) Frau Olms GRÜNE......................4646 B Neumann (Bremen) CDU/CSU ..........4648 A Frau Hämmerle SPD....................4650 A Lüder FDP ............................4651C Dr. Waffenschmidt, Pari. Staatssekretär BMI ................. 4652 C Tagesordnungspunkt 24: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN: Maßnahmen zur Einpassung der Einzelhandelsnutzung in das übergeordnete Gesamtsystem der städtischen Entwicklung (Drucksache 11/1645) Frau Teubner GRÜNE ..................4654 A Oswald CDU/CSU......................4655 D Scherrer SPD ..........................4657 C Grünbeck FDP..........................4659 B Dr. Riedl, Parl. Staatssekretär BMWi... 4660 C Tagesordnungspunkt 25: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein (Dieburg), Dr. Pick, Schmidt (München), Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung (§140 Abs. 1 Nr. 4 StPO) (Drucksachen 11/816, 11/1933)II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1988 b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN: Keine Zwangsverteidiger für Blinde (Drucksachen 11/624, 11/1933) Singer SPD .............. 4662 C Eylmann CDU/CSU .......... 4663 C Frau Nickels GRÜNE.......... 4663 D Kleinert (Hannover) FDP ................4664 C Engelhard, Bundesminister BMJ..........4665 A Nächste Sitzung........................4665 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten.. 4666* ADeutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1988 4627 68. Sitzung Bonn, den 10. März 1988 Beginn: 17. 30 Uhr
  • folderAnlagen
    4666* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1988 Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 11. 3. Andres 10. 3. Antretter * 10. 3. Bahr 11. 3. Becker (Nienberge) 11. 3. Dr. Blank 10. 3. Böhm (Melsungen) * * 10. 3. Frau Brahmst-Rock 11. 3. Buschhom 11. 3. Buschfort 11. 3. Dr. Dregger 10. 3. Frau Fuchs (Köln) 11. 3. Dr. Glotz 11. 3. Dr. Hauff 11. 3. Dr. Haussmann 11. 3. Frau Hensel 11. 3. Ibrügger 11. 3. Frau Karwatzki 10. 3. Frau Kelly 11. 3. Kiechle 11. 3. Klein (Dieburg) 11. 3. Klein (München) 11. 3. Koschnick * * * 11. 3. Lenzer * * 10. 3. Lintner 11. 3. Dr. Mertens (Bottrop) 10. 3. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Meyer 11. 3. Möllemann 10. 3. Müller (Schweinfurt) 11. 3. Oostergetelo 11. 3. Reddemann * 10. 3. Reimann 11. 3. Repnik 11. 3. Sauer (Salzgitter) * * * 11. 3. Seehofer 11. 3. Frau Schilling 11. 3. Schmidt (München) * * 10. 3. von Schmude 11. 3. Schreiber * * * 11. 3. Frau Simonis 11. 3. Dr. Spöri 11. 3. Frau Trenz 11. 3. Dr. Voss 10. 3. Dr. Waigel 11. 3. Wieczorek (Duisburg) 11. 3. Wilz 11. 3. Wischnewski 11. 3. Dr. de With 11. 3. Frau Wollny 11. 3. Dr. Zimmermann 11. 3. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union * * * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Erich Riedl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Fraktion der GRÜNEN wird vor allem mit den Folgen des anhaltenden Konzentrationsprozesses im Einzelhandel begründet. Auch die Bundesregierung beobachtet die Konzentrationsentwicklung im Einzelhandel mit erheblicher Sorge. Auf der einen Seite ist diese Entwicklung durch einen Abschmelzprozeß in der Zahl der Einzelhandelsunternehmen gekennzeichnet, insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel. Seine Ursache ist die geringe Wettbewerbsfähigkeit der kleinen Unternehmen.


    (Frau Vennegerts [GRÜNE]: Mangelnde Förderung!)


    Auf der anderen Seite konnten mit dem Ausscheiden zahlreicher Handelsunternehmen die Großunternehmen ihre Anteile am Gesamtumsatz stetig steigern.


    (Frau Traupe [SPD]: Das ist aber vornehm ausgedrückt!)


    Diese Entwicklung hat insgesamt erhebliche Strukturveränderungen im Einzelhandel zur Folge gehabt. Hinzu kommen sicherlich auch gesellschaftliche Auswirkungen. Diese werden in dem Antrag der GRÜNEN realtiv stark herausgestellt, ohne daß sie sich allerdings bisher ausreichend nachweisen bzw. bewerten lassen.

    Das, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Fraktion der GRÜNEN, sind Sie leider schuldig geblieben. Es drängt sich deshalb der Verdacht auf, daß die Hervorhebung in Ihrem Antrag eher der Untermauerung Ihrer politischen Thesen dient als einer wirklichkeitsgemäßen Darstellung.


    (Frau Olms [GRÜNE]: Schon wieder Sozialismus!)


    Nicht nachgewiesen — darf ich es Ihnen einmal erklären, wenn Sie mir Gelegenheit geben — werdenDeutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Marz 1988 4661

    Pari. Staatssekretär Dr. Riedl

    konnte z. B. Ihre These von einer drohenden Unterversorgung im ländlichen Raum. Sie ist, wie eine Untersuchung der Forschungsstelle für den Handel, Berlin, von 1985 ergab, selbst in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten. Danach wären, selbst wenn in den strukturschwachen ländlichen Gebieten in den nächsten fünf Jahren 20 % der Lebensmittelgeschäfte ausscheiden würden, nur weniger als 1 % der Haushalte von Versorgungsschwierigkeiten betroffen.

    Darf ich nun zu den vorgeschlagenen Maßnahmen im Bereich des Einzelhandels einige Bemerkungen machen. Eindeutig abzulehnen ist die grundsätzliche Forderung nach Steuerung des Strukturwandels im Einzelhandel durch dirigistische Eingriffe. Der Strukturwandel muß in erster Linie das Ergebnis eines dynamischen Wettbewerbsprozesses sein.


    (Frau Vennegerts [GRÜNE]: Die Deregulierung vernichtet die letzten Einzelhändler!)


    Dirigistische Eingriffe würden sich auch zu Lasten der Verbraucher und der Gesamtversorgung auswirken.


    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)


    Der vorliegende Antrag enthält darüber hinaus einen ganzen Katalog von Maßnahmen zur Verschärfung des Kartellrechts. Das Kartellgesetz ist aber kein Antikonzentrationsgesetz, mit dem bestehende Branchenstrukturen festgeschrieben werden könnten, sondern ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen zum Schutz des Wettbewerbs.

    Bei der geforderten Absenkung der Eingriffsschwelle zur Verschärfung der Fusionskontrolle wird auf einen angeblichen entsprechenden Vorschlag der Monopolkommission verwiesen. Diese hat aber eine Absenkung lediglich zur Diskussion gestellt und sie ausdrücklich davon abhängig gemacht, daß der Gesetzgeber einen Handlungsbedarf im Lebensmittelhandel bejaht; sie selbst hat einen solchen verneint.

    Hinzu kommt, daß der Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages erst im Jahre 1986 eine Abkopplung der Fusionskontrolle vom Kriterium der Marktbeherrschung unter Hinweis auf die Gefahr kartellbehördlichen Strukturdirigismus abgelehnt hat. Dies ist auch die Meinung der Bundesregierung.

    Auch gegen die vorgeschlagene Entflechtungsregelung sprechen schwerwiegende Bedenken. Eine solche Regelung wirft grundlegende wettbewerbspolitische, gesellschaftspolitische sowie Steuer- und verfassungsrechtliche Fragen auf.


    (Frau Vennegerts [GRÜNE]: Aber die Staatsknete für den Airbus nehmen Sie gern, nicht?)


    — Gnädige Frau, Sie verwechseln — wie schon oft in Ihrem Leben, so leider auch heute abend wieder — in der Tat Äpfel und Birnen.


    (Frau Vennegerts [GRÜNE]: Nein, da irren Sie sich! Wenn Sie den Staat brauchen, dann bedienen Sie sich!)


    — Da täuschen Sie sich leider ganz gewaltig. — Auch der Wirtschaftsausschuß hält sie daher für ein kaum praktikables Instrument. Frau Abgeordnete Vennegerts, das ist die Antwort auf Ihre Zwischenbemerkung.

    Im Antrag wird des weiteren gefordert, den Verkauf unter Selbstkosten — das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Verkauf unter Selbstkosten — als Regelbeispiel in das erweiterte Behinderungsverbot des § 37 a Abs. 3 GWB aufzunehmen. Eine solche Regelung würde zu einer völlig unvertretbaren Regulierung führen und kleine und mittlere Unternehmen ebenso in ihrer Kalkulationsfreiheit beeinträchtigen wie die großen. Die Forderung nach einer eigenständigen Definition der Marktbeherrschung für die Nachfragemacht würde zu einer Aufsplitterung des Kartellrechts nach einzelnen Sektoren der Wirtschaft führen. Im Bundeswirtschaftsministerium wird zur Zeit überlegt, ob durch gesetzgeberische Hinweise mit dem Ziel der Berücksichtigung auch vertikaler Aspekte das Problem der Nachfragemacht besser erfaßt werden kann.

    Weitgehend unproblematisch sind hingegen die Ausgestaltung des § 37 a Abs. 3 GWB und die gesetzliche Freistellung der Einkaufskooperationen vom Kartellrecht.

    Die Bundesregierung lehnt auch die vorgeschlagenen Maßnahmen im Bereich des Mieterschutzes ab.

    Eine Verschärfung des gesetzlichen Mieterschutzes bei Geschäftsräumen ist überflüssig. Gerade die mittelständische Wirtschaft hat immer wieder die Zurücknahme entbehrlicher staatlicher Reglementierungen gefordert. Die Bundesregierung sieht daher keinen Anlaß, Reglementierungen zu schaffen, die von den angeblich zu Schützenden selbst nicht gefordert werden. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Die angestrebte Regelung würde eine Spaltung des Mietrechts für Geschäftsräume bedeuten. Ein Sonderrecht mit besonderen Schutzbestimmungen für kleinere und mittlere Betriebe würde deren Position gegenüber den Großbetrieben auf dem Markt für Geschäftsräume verschlechtern und damit das Gegenteil dessen erreichen, was die Antragsteller wollen.

    In dem Antrag wird zudem die Aufstockung der Städtebauförderungsmittel im Jahre 1988 um 40 Millionen DM gefordert. Auch die Bundesregierung ist der Ansicht, daß Maßnahmen der Stadt- und Dorferneuerung ein wirksames Instrument sind, um kleinen Einzelhandelsunternehmen bei ihrer Existenzsicherung zu helfen. Besonders die Gemeinden sind hier aufgerufen, den Problembereich des mittelständischen Einzelhandels in ihre Sanierungskonzepte ein-zubeziehen. Die Bundesregierung hat mit der Verabschiedung des Baugesetzbuches und der Bereitstellung von Städtebauförderungsmitteln die notwendigen Rahmenbedingungen gesetzt. Die Städebauför-derungsmittel wurden für die Programmjahre 1988 bis 1990 gegenüber 1982 auf jährlich 660 Millionen DM verdreifacht.

    Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, Sie haben diese Haushaltsansätze hier im Deutschen Bundestag samt und sonders abgelehnt, und jetzt fordern Sie die Einführung solcher Mittel. Dies ist doch wirklich ein Beispiel politischer Schizophrenie, das nicht zu überbieten ist.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Zusammen mit Landes- und Gemeindemitteln stehen für die nächsten Jahre rund 2 Milliarden DM zur Verfügung. Eine Programmaufstockung mit der ge-


    Pari. Staatssekretär Dr. Riedl

    wünschten speziellen Zielsetzung ist jedoch nicht beabsichtigt.

    Der Antrag enthält schließlich Vorschläge für eine restriktivere Fassung der Baunutzungsverordnung. Die Bundesregierung nimmt zur Zeit eine Gesamtüberprüfung der Baunutzungsverordnung vor. Dabei muß jedoch vermieden werden, daß neue strukturkonservierende oder wirtschaftslenkende Vorstellungen in das Bauplanungsrecht Eingang finden.

    Im Gesamtergebnis zielen die vorgeschlagenen Maßnahmen ganz überwiegend auf eine staatliche Struktursteuerung im Handel ab. Sie werden von der Bundesregierung weder als notwendig noch als hilfreich angesehen, um den Folgen des Strukturwandels zu begegnen. Die Bundesregierung verkennt dabei keineswegs die sich aus dem Strukturwandel im Einzelhandel ergebenden Probleme, insbesondere aus der Konzentrationsentwicklung. Sie hat deshalb die Überprüfung des Kartellrechts veranlaßt. Herr Abgeordneter Grünbeck, der Bundeswirtschaftsminister wird im Laufe des Frühjahrs 1988 einen Bericht vorlegen. Danach wird die Bundesregierung über eine Kartellnovelle entscheiden. Wir bedanken uns beim Deutschen Bundestag und bitten, uns bei der Verwirklichung dieser Vorstellungen zu helfen.

    Vielen Dank.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1645.

Wir haben unterschiedliche Überweisungsvorschläge. Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP wünschen, daß der Antrag — abweichend vom Überweisungsvorschlag des Ältestenrates — wie folgt zu überweisen ist: zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Die Fraktion der GRÜNEN wünscht dagegen eine Überweisung des Antrags, wie es in der Tagesordnung ausgedruckt worden ist.

Ich muß also darüber abstimmen lassen.


(Zuruf von den GRÜNEN: Wir halten uns an die Tagesordnung!)


Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der SPD, CDU/CSU und FDP? - Wer stimmt dagegen? - Ich nehme an, daß die Fraktion DIE GRÜNEN Verständnis dafür hat, daß es sich erübrigt, nunmehr über ihren Überweisungsantrag abstimmen zu lassen.

Damit ist das also im Sinne der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein (Dieburg), Dr. Pick, Schmidt (München), Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO)

- Drucksache 11/816 -

Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)


- Drucksache 11/1933 -

Berichterstatter: Abgeordnete Eylmann Singer


(Erste Beratung 36. Sitzung)


b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN

Keine Zwangsverteidiger für Blinde

- Drucksachen 11/624, 11/1933 -

Berichterstatter: Abgeordnete Eylmann Singer

Meine Damen und Herren, nach Vereinbarung des Ältestenrats ist für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes ein Beitrag — und das unterstreiche ich jetzt — von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Wie mir mitgeteilt worden ist, ist eine gewisse Selbstbeschränkung der Redner vorgesehen. Ich darf appellieren, sich daran zu halten.

Das Wort hat der Abgeordnete Singer.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Johannes Singer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden heute die Änderung einer Gesetzesänderung herbeiführen, zu der es bei sorgfältiger Vorbereitung und Beratung des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1987 nicht hätte kommen müssen. Der Vorgang ist ein Lehrbeispiel dafür, wie einem benachteiligten Personenkreis mit übertriebener Fürsorge eine vermeintliche Wohltat erwiesen werden sollte, die von den Betroffenen tatsächlich als diskriminierend und schädlich empfunden worden ist.


    (Beifall bei der SPD und des Abg. Kleinert [Hannover] [FDP])


    Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 hat mit seiner Ergänzung des § 140 Abs. 1 der Strafprozeßordnung, also bei der Pflichtverteidigung, den blinden Beschuldigten dem Tauben oder Stummen gleichgestellt und dazu geführt, daß sich Blinde nach der jetzt geltenden Rechtslage grundsätzlich, selbst wenn sie Juristen sind oder über forensische Erfahrung verfügen, nicht mehr selbst verteidigen können. Diese Regelung wirkt sich über § 60 des Ordnungswidrigkeitengesetzes auch auf das Bußgeldverfahren aus und hat neben ihrer diskriminierenden Wirkung die Folge, daß der verurteilte Beschuldigte mit den Kosten des Verfahrens, auch mit den Kosten der Verteidigung belastet wird, selbst wenn er sich, wie ich soeben schon sagte, bei Bagatelldelikten oder auf Grund eigener juristischer Erfahrungen ohne weiteres selbst hätte verteidigen können.

    Einer der Gründe, warum es zu der von den Betroffenen abgelehnten Gesetzesänderung überhaupt gekommen ist, liegt offenbar in der unterbliebenen Anhörung der Fachverbände, die vom Rechtsausschuß und vom Bundestag seinerzeit wohl als selbstverständlich vorausgesetzt worden ist. Jetzt haben wir uns im Rechtsausschuß gar nicht mehr lange streiten


    Singer

    müssen, um zu der einmütigen Erkenntnis zu gelangen,


    (Frau Traupe [SPD]: Was sehr vernünftig ist!)


    daß die Gesetzesänderung rückgängig zu machen ist.

    In dem ganzen Vorgang sehe ich allerdings auch ein Gutes: Nicht nur den mit der Sache befaßten Parlamentariern, sondern — wie ich hoffe — auch der Öffentlichkeit ist deutlich geworden, daß blinde Mitbürger gerade in den juristischen Berufen seit Jahrzehnten mit großem Erfolg tätig sind und bemerkenswerte Karrieren, zum Teil bis in die obersten Bundesgerichte, gemacht haben.


    (Beifall bei allen Fraktionen)


    Um so unverständlicher muß es für die Betroffenen gewesen sein, daß der Gesetzgeber mit der Einführung der notwendigen Verteidigung für Blinde plötzlich Zweifel an ihren Fähigkeiten, sich selbst zu verteidigen, geweckt hat. Der Rechtsausschuß geht davon aus, daß die geltende Regelung der notwendigen Verteidigung für Blinde in ihrer Fürsorgefunktion zu weit gegangen ist. Die geltende Regelung erscheint auch deshalb nicht erforderlich, weil über die Generalklausel des § 140 Abs. 2 der Strafprozeßordnung eine sich jeweils im Einzelfall doch einmal als notwendig erweisende Verteidigung ohnehin angeordnet werden kann.

    Während der Beratungen sind wir darauf aufmerksam gemacht worden, daß auch die vom Gesetz seit eh und je vorgeschriebene notwendige Verteidigung für Gehörlose, Spätertaubte und Stumme kritisch hinterfragt werden muß. Da das Gesetz durch die in § 186 des Gerichtsverfassungsgesetzes vorgesehene Bestellung von Gebärdendolmetschern für diesen Kreis behinderter Personen auf ihre besonderen Schwierigkeiten ohnehin Rücksicht nimmt, erschien es uns in der Tat nicht einsichtig, die bisherige Regelung auch für diese Gruppen beizubehalten.

    Bevor wir allerdings den Ihnen jetzt vorliegenden Vorschlag beschlossen haben, haben wir uns vergewissert, ob auch insoweit die betroffenen Fachverbände angehört worden sind. Das konnte von der Bundesregierung bestätigt werden. Die Fachverbände sind allerdings davon unterrichtet, daß wir eine nicht unwesentliche Abweichung von der Regelung für die Blinden beschlossen haben. In § 140 Abs. 2 StPO wird folgender Satz 2 angefügt: „Dem Antrag eines tauben oder stummen Beschuldigten ist zu entsprechen. " Das heißt, es wird nicht weiter geprüft, ob das nun notwendig ist oder nicht. Wenn der Taube oder Stumme im Einzelfall beantragt: Ich möchte einen Pflichtverteidiger, dann bekommt er ihn ohne langes Beraten oder Prüfen.

    Ich meine, daß die Ihnen jetzt vorliegende einstimmige Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses eine sachgerechte Regelung enthält und auch die von der Sache her gebotene Differenzierung vorsieht.

    Ich habe mich bemüht, mich kurz zu fassen.

    Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


    (Beifall bei allen Fraktionen)