Rede von
Florian
Gerster
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer sich wie die Union über die Ziele der längerfristigen Abrüstungspolitik nicht im klaren und nicht einig ist, von dem kann man nicht erwarten, daß er in der tagespolitischen Arbeit eine konsequente und überzeugende Politik vertreten kann. Herr Rühe hat vor wenigen Tagen formuliert, die Rolle der Nuklearwaffen in Europa müsse auf ein absolutes Mindestmaß reduziert werden, und die nukleare Artillerie müsse so weit wie möglich beseitigt werden. Wenn er ein Konzept der nuklearen Mindestabschreckung so genannt hätte, dann könnte man darüber sicherlich sprechen.
Ihr Fraktionsvorsitzender, vorhin schon zitiert, hat eindeutig gesagt — bitte nachlesen —, man könne unter Umständen auf die atomare Abschreckung in toto völlig verzichten, also ein Konzept, das sehr viel weiter geht, als das viele derzeit an der Diskussion Beteiligte äußern. Wörner und andere — das haben wir auch eben vom Kollegen Lowack gehört — möchten am liebsten sofort nachrüsten, sind also gar nicht mehr ergebnisoffen. Das ist die Konfusion der Union.
Wir haben demgegenüber ein klares Konzept, das sehr einfach lautet:
Wenn es konventionelle Stabilität in Europa gibt — das ist wohlgemerkt die Voraussetzung —, dann ist das längerfristige Ziel, auf atomare Kurzstreckenwaffen in Europa zu verzichten und hiermit auch auf landgestützte Atomwaffen auf unserem Kontinent zu verzichten. Das ist ein einfaches und klares Konzept mit einem eindeutigen Wenn-Satz.
Der Dissens in der Allianz, wie Atomwaffen zu betrachten sind, ist im Grunde genommen ein Dissens, der in die Anfänge zurückgeht.
Die Allianz hat auch in der Frage, ob Atomwaffen operative oder politische Waffen sind, immer eine recht unklare Haltung eingenommen. Auch die Flexible response ist keine eindeutige Strategie, denn Atomwaffen sind in der Flexible response auch als Kompensation für konventionelle Waffen gedacht, und das ist eben schon eine Rolle im operativen Sinn.
Aber wir kommen immer wieder an Punkte, wie chemische Abschreckung, wo wir unaufgearbeitete Konflikte von neuem lösen müssen.
Was tut der Bundeskanzler auf dem Gipfel? Er hat wörtlich gesagt, dieser Gipfel sei der krönende Schlußstein der Bündnispolitik mit den Vereinigten
Staaten in der Amtszeit von Präsident Ronald Reagan. Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Union: Haben Sie wirklich vergessen, daß dieser Präsident Ronald Reagan mit Nachweis der unsensibelste Präsident in der Nachkriegsgeschichte der Vereinigten Staaten war und ist, der das geringste Verständnis für europäische und deutsche Sicherheitsinteressen gezeigt hat? Soll ich die Geschichte der Nachrüstung von 1980 bis 1983 aufzählen,
soll ich die Projektierung von SDI aufzählen, ein Konzept, das von vornherein nicht auf europäische Sicherheitsinteressen definiert war, soll ich über FOFA, Air/ Land-Battle und anderes sprechen, alles Konzepte, die im Bündnis nie kompatibel gemacht wurden und die nie mit dem Bündnis und den Europäern abgestimmt wurden? In allen diesen Fragen haben die amerikanischen Freunde Alleingänge vorgenommen, und es ist unsere Hoffnung, daß der Nachfolger des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten hier zu einer bündnisverträglichen Politik zurückfindet.
Der NATO-Gipfel — das las man auch in intelligenten Kommentaren — war so etwas wie eine Gruppentherapie für den ängstlichen Deutschen mit seiner Paranoia. Offenbar ist von der Paranoia sogar der Unionsfraktionsvorsitzende angesteckt, denn auch er läßt sich zwischenzeitlich nahezu als Nuklearpazifist vernehmen.
Die faktische Bündnispolitik ist eine andere Frage, und da haben wir nun genug Zeugen dafür, daß die Modernisierung konkret geplant und vorbereitet wird. Wenn das Papier von Ikle so etwas wie ein Versuchsballon ist, rechtzeitig vor der Installierung des neuen Präsidenten, dann ist zu befürchten, daß es hier immer noch Kreise gibt, die die Lektion der Spannungen im Bündnis in den letzten Monaten und Jahren nicht gelernt haben.
Unser Appell: Überwinden wir den Status des Patienten in dieser bündnistherapeutischen Gruppe und vertreten wir endlich selbstbewußt deutsche und europäische Interessen!