Rede von
Dr.
Helmut
Lippelt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beiträge meiner Vorrednerin und meiner Vorredner haben mir schmerzhaft bewußt gemacht, wie schwer es für einen hier neu eingetretenen Abgeordneten ist, persönliche Erfahrung durch eine Durchdringung des Problems auf Grund von Lektüre zu ersetzen. Insofern stelle ich mich in die Tradition meiner Fraktion, die von Anfang an den Krieg der Sowjetunion gegen die Völker Afghanistans verurteilt hat und deren Mitglieder Milan Horacek und Uli Fischer zu den wenigen gehörten, die sich auch persönlich einen Eindruck vom Leiden der afghanischen Völker verschafft haben.
Der Auswärtige Ausschuß des Bundestages hat ein Hearing durchgeführt, das uns allen, auch denen, die es nachlesen, für das ganze Ausmaß des Sterbens und der Verwüstung in Afghanistan die Augen geöffnet hat.
Als jemand, der nicht so tief damit vertraut ist, mag man den Hoffnungsschimmer vielleicht etwas deutlicher sehen, so daß man sagt: Vielleicht deutet sich nach so vielen Toten und so vielen Millionen Flüchtlingen inzwischen eine Änderung der Lage an.
Herr Todenhöfer, ich meine, das Problem der sowjetischen Intervention ist auch ein Problem der großen militärischen Apparate und vielleicht nicht ganz in diesem Sinn auf den neuen Generalsekretär zu personalisieren, obwohl er die Verantwortung hat, denn es geschieht unter ihm; das ist ganz klar.
Trotzdem möchte man die Nachrichten aufgreifen, die zeigen, daß die Sowjetunion vielleicht auch hier — und sei es nur im Sinn einer Kosten-Nutzen-Analyse — eine neue Rechnung aufgemacht hat. Der von dem UN-Vermittler Diego Cordovez in indirekten Gesprächen zwischen Pakistan und dem Regime in Kabul ausgehandelte 35seitige Rückzugsvertrag jedenfalls ist bis auf die zwei entscheidenden Punkte fertig: die Zusammensetzung einer Interimsregierung und den Terminplan für den Rückzug der Sowjettruppen.
Die ursprüngliche Forderung nach erst einigen Jahren, dann 16 Monaten Zeit ist inzwischen auf 12 Monate reduziert worden Vor einigen Wochen hat der Pressesprecher Gerassimov durchblicken lassen, die Sowjetunion könne auch noch tiefer gehen. Das ist allerdings von Gorbatschow jetzt nicht bestätigt worden. Pakistan hat sich auf acht Monate angenähert. Die Forderungen können also nicht mehr so weit auseinanderliegen.
Was die Interimsregierung angeht: Der Versuch Nadjibullahs, eine Regierung der nationalen Versöhnung zu bilden, ist gescheitert. Die Sowjetunion wird ihrem Satrapen klarzumachen haben, daß in einer Interimsregierung die kommunistische Partei nicht mehr die führende Rolle spielen kann.
Was kann in einem solchen Moment der Deutsche Bundestag sinnvollerweise sagen?
Erstens. Er hat auf einem sofortigen Rückzug der sowjetischen Truppen ohne Wenn und Aber zu bestehen und diesen nachdrücklich zu fordern.
Zweitens. Er sollte darüber hinaus die internationale Anerkennung des afghanischen Widerstands fordern.
Daraus folgt, drittens, die für den gegenwärtigen Augenblick vielleicht zentrale Forderung nach direkten Gesprächen zwischen den direkten Kontrahenten, nämlich der Sowjetunion und dem afghanischen Widerstand. Diese Forderung hilft vielleicht aus einigen Sackgassen heraus.
Für diese dritte Forderung sprechen zwei gute Gründe und eine wichtige indirekte Wirkung. Erstens. Letztlich können nur die direkten Kontrahenten einander die für eine Wendung der Lage zum Besseren notwendigen Garantien, über die wir gerade gesprochen haben, geben.
Zweitens würde hierdurch der nur lose assoziierte und vor allem durch den gemeinsamen Gegner zusammengehaltene Widerstand in die Pflicht gemeinsamer Zukunftsgestaltung genommen werden.
Die günstige indirekte Wirkung wäre, daß Pakistan seine Rolle als Frontstaat verlieren würde, die das Regime des Präsidenten Zia ul-Haq doch sehr stark stabilisiert und ihm jede demokratische Konzession erspart hat.
Doch zurück zu Afghanistan. Hier sind aus unserer Sicht vor allem noch drei Problemfelder zu bedenken.
Erstens. Acht Jahre Krieg haben die Sozialstruktur des Landes zerstört. Die Flüchtlingsbewegung aus Afghanistan ist die größte, wenn wir einmal von der direkten Nachkriegszeit absehen. Millionen haben sich in die relative Sicherheit Kabuls geflüchtet.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Dezember 1987 3575
Dr. Lippelt
Wie soll das Werk der Rekonstruktion dieser einstmals agrarischen Gesellschaft geleistet werden? Sind nicht gerade die Lager in und um Kabul ein Nährboden für die Propaganda des islamischen Fundamentalismus?
Die verschiedenen Widerstandsorganisationen sind nicht geeinigt. Geeinigt ist nur das Volk im Leiden. Welche Möglichkeiten bestehen, welche Möglichkeiten sieht diese Bundesregierung, die Führer der Befreiungsbewegungen und die Kommandanten im Lande dazu zu veranlassen, ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen überhaupt erst einmal diskutierbar zu machen?
Zweitens. Der Krieg ist nicht nur eine Katastrophe für das afghanische Volk; zerstört hat er auch die komplizierten und in Jahrhunderten intensivster Arbeit erbauten Bewässerungsanlagen. Der kostbare Ackerboden ist zu großen Teilen der Erosion preisgegeben worden. Die Wälder sind in großem Maße abgeholzt worden. Die ökologischen Schäden sind unermeßlich.
Allein die Wiederherstellung der Bewässungsanlagen wird 100 Jahre dauern und Milliarden kosten. Ihre Rekonstruktion hat die Rekonstruktion der Gesellschaft zur Voraussetzung, einer Gesellschaft, die aber nicht automatisch wieder in die traditionellen Formen ihres früheren Lebens zurückkehren kann.
Ist die Bundesregierung bereit, hier allein — oder besser noch: im Rahmen der UNO — Programme zu entwickeln, die helfend eingreifen können? Ich meine keine Industrialisierungsprogramme, sondern Programme, die es den Menschen ermöglichen, wieder im Lande zu leben.
Drittens schließlich — auch wenn diese Überlegung vor dem Hintergrund der Nachrichten über das Gespräch Gorbatschow-Reagan vielleicht verfrüht erscheint — : Viele Afghanen leben hier in unserem Lande, teils als anerkannte, mehr noch als geduldete Flüchtlinge. Sollte es zu einem Frieden kommen, so werden die meisten von ihnen in ihre Heimat zurückkehren wollen. Wieviel Rückkehrhilfe zu geben ist die Bundesregierung bereit, echte, gewünschte Rückkehrhilfe, nicht verbrämte Abschiebehilfe?
Und weiter: Ist die Bundesregierung bereit, ganz ohne Druck den Afghanen hier im Lande die Entscheidung zu überlassen, ob sie mit unserer Hilfe zurückkehren wollen oder ob sie — egal ob als Flüchtlinge anerkannt oder nur geduldet — hier im Lande bleiben wollen? Ist sie bereit, diejenigen, die jetzt hierbleiben wollen, auch auf Dauer im Land zu lassen?
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habe schon Minuszeit.