Rede von
Rudolf
Bindig
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den letzten acht Jahren seit der Invasion der sowjetischen Truppen in Afghanistan haben wir hier mehrmals über die Lage in Afghanistan gesprochen. Wenn wir hier mit Betroffenheit über diesen Krieg reden, dann denken wir daran, wieviel schwerer es für die Afghanen ist, in diesem Krieg und mit diesem Krieg zu leben.
Wenn wir in die Perspektive die Lebenssituation der Afghanen nehmen, so hat sich in diesen acht Jahren nichts verbessert, sondern die Lage hat sich eher verschlechtert. Im Lande läuft der Krieg, Menschen werden geötet, Menschen fliehen. Sie fliehen in die Provinzstädte, weil sich der Krieg gegen die Lebensgrundlagen der Bevölkerung richtet, sie fliehen ins Ausland, und sie leben seit vielen Jahren unter schwierigen Bedingungen in den Flüchtlingslagern.
Geändert hat sich eigentlich nur etwas in der sprachlichen Taktik der kleinen Revolutionsgruppe in Kabul und der Sowjets. In der theoretisch-propagandistischen Kampagne versucht man, Veränderungen aufzuzeigen. Da wird gesprochen von einem angeblichen Waffenstillstand. Da wird geredet von einer Politik der nationalen Versöhnung. Man bemüht sich zu versichern, es handele sich um eine nationale demokratische Revolution und keine proletarisch-sozialistische Umgestaltung Afghanistans. Man versucht, die traditionellen Unruheherde in der Region zu schüren. Man spielt wieder die Karte des selbständigen Landes Paschtunistan, des Kalistan, des Balutschistan aus. Man versucht, den traditionellen Tribalismus in Afghanistan zu mobilisieren, um dort in den Grenzgebieten Instabilität zu schaffen.
Allein durch Angriffe auf die Flüchtlingslager in Pakistan hat es dort bereits rund 700 Tote gegeben. Wir sehen übrigens mit Respekt, welche großen Leistungen Pakistan auf sich nimmt, um diesen vielen Millionen Menschen dort zu helfen.
Es handelt sich um die größte Flüchtlingsbewegung der jüngeren Geschichte. Es gibt dort in der NordWest-Grenzprovinz Regionen, wo 2,2 Millionen Flüchtlinge mit einer fast gleichen Zahl der einheimischen Bevölkerung zusammenleben. Das ist sehr anerkennenswert.
Die taktisch-theoretischen Bemühungen der afghanischen Revolutionsgruppe haben bisher deshalb wenig erreichen können, weil der afghanische Widerstand ungebrochen ist. Auch die Völkergemeinschaft in der UN hat bisher darauf bestanden, daß der Völkermord in Afghanistan auf der Tagesordnung bleibt. Er muß und soll auch so lange auf der Tagesordnung bleiben, wie die Sowjetunion mit ihren Truppen noch in Afghanistan steht.
Die Kernforderungen bleiben: Sofortiger bedingungsloser Abzug der sowjetischen Truppen, Beendigung der Aufzwingung eines Systems, welches die Afghanen nicht wollen, Respektierung der Menschenrechte, Anerkennung der Selbstbestimmung für einen blockfreien, neutralen islamischen Staat.
Wenn sich trotzdem einige erste Konturen einer Veränderung, einer neuen Entwicklung abzeichnen, so geschieht dies mehr im Hintergrund als schon in der praktischen Politik. Es ist erschreckend, daß diese gewissen Veränderungen, die in ersten Kontruen erkennbar sind, nicht dadurch erreicht werden konnten, daß die Sowjetunion Einsicht zeigt in ihr völkerrechtswidriges Verhalten, sondern daß dies im wesentlichen durch den Waffendruck und den Widerstand der Freiheitskämpfer erreicht werden konnte.
In Afghanistan ist eine Veränderung durch die amerikanischen Stinger-Raketen und die britischen Blowpipe-Raketen erreicht worden. Die Mudjahedin, die unter schwierigsten Bedingungen gekämpft haben, haben durch diese neuen Waffen eine gewisse Veränderung erreichen können.
Gewisse Veränderungen sind auch durch den diplomatischen Druck erreicht worden, weil eben die Bemühungen der Sowjetunion und der Kabuler Revolutionsgruppe bei der UN keinen Erfolg gehabt haben, den Eindruck zu erwecken, daß dort eine Politik der Versöhnung stattfinde. Die Zahl der Staaten, die die Invasion der sowjetischen Truppen in Afghanistan verurteilt, hat von Abstimmung zu Abstimmung zugenommen. Mit 123 Stimmen ist jetzt die höchste Zahl erreicht worden.
In der Sowjetunion gibt es aus dem Hintergrund einige Hinweise, daß man dort nach neuen Wegen suche, um in irgendeiner Weise aus Afghanistan herauszukommen. So soll unter Gorbatschow eine gründliche Revision der Einschätzung der Invasion stattgefunden haben. So soll Gorbatschow das Kabuler Revolutionsregime aufgefordert haben, einem Abzug der Sowjettruppen aus Afghanistan so schnell wie möglich zuzustimmen.
Es gibt auch wissenschaftlich-theoretische Erörterungen — z. B. am Moskauer Orientinstitut — über
3572 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 50. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Dezember 1987
Bindig
die Tatsache, daß die Invasion der Sowjettruppen und der Versuch gescheitert sind, mit einer kleinen Gruppe von Menschen dem afghanischen Volk eine bestimmte Staats- und Gesellschaftsordnung aufzudrücken: weil eben in diesem Land feudale und traditionalistische Strukturen keine Basis für eine Veränderung geboten hätten.
Alle diese Hintergrundüberlegungen sind aber letztlich für die betroffenen Menschen bisher irrelevant. Relevant werden sie erst, wenn sie in der operativen Außenpolitik der Sowjetunion umgesetzt werden, wenn die sowjetischen Truppen aus Afghanistan abziehen werden.
Zum erstenmal allerdings rückt jetzt die Überlegung stärker in den Blickpunkt, welche Regierung es nach dem sowjetischen Rückzug in Kabul geben könnte. Es sind Überlegungen anzustellen, welche Möglichkeiten dort durch eine neu zu bildende Regierung, eine Koalitionsregierung, geschaffen werden können, ob internationale Beobachter der Vereinten Nationen den Abzug der sowjetischen Streitkräfte kontrollieren, überwachen sollen, und ob in Afghanistan eventuell eine UN-Friedenstruppe den Übergang organisieren und begleiten könnte.
Hier ist auch ein Appell an die Widerstandsgruppen zu richten. Wenn in Peshawar schon das Wort von den 30 000 durchschnittenen Hälsen der afghanischen Kommunisten nach einem Abzug der sowjetischen Truppen umgeht, dann fördert das die Zitadellenmentalität der Afghanen in Kabul, dort zu bleiben, bis zum letzten zu kämpfen und Widerstand zu leisten. Es muß die Bereitschaft erklärt werden, die Vielzahl der normalen Aktivisten und Mitläufer nicht mit einem Rachefeldzug zu überziehen. Wenn insoweit klare Äußerungen der Mudjahedin vorlägen, wäre das sicherlich ebenfalls ein wichtiger Impuls, der den Übergang ermöglichen könnte.
Bei dem Treffen von Gorbatschow und Reagan jetzt in den Vereinigten Staaten hat Michail Gorbatschow im State Department eine bemerkenswerte Rede gehalten. Er hat dort folgendes wörtlich ausgeführt:
Die Menschheit beginnt zu erkennen, daß sie ausgekämpft hat, daß den Kriegen für immer ein Ende gemacht werden muß. Zwei Weltkriege und der aufreibende ,Kalte Krieg' sind zusammen mit den ,kleinen Kriegen', die bislang Millionen von Menschenleben gekostet haben, mehr als ein ausreichender Preis für ein Abenteuertum, Ehrgeiz, Mißachtung der Interessen und Rechte der anderen, für die Abneigung und das Unvermögen, den Realitäten, dem legitimen Recht aller Völker auf ihre Wahl, auf ihren Platz unter der Sonne Rechnung zu tragen.
Ich zitiere noch weiter:
Dies bedeutet, daß die hohen Ideale der Humanisten aller Zeiten, die Ideale des Friedens, der Freiheit, das Wissen um den Wert jedes menschlichen Lebens der praktischen Politik zugrunde gelegt werden müssen.
Ich kann jeden Satz, der dort gesprochen worden ist,
unterstreichen. Aber es kommt nicht darauf an, nur
solche Worte zu reden, es kommt darauf an, daß gehandelt wird.
Machen Sie den Weg frei, Herr Gorbatschow, für den Abzug der sowjetischen Truppen, machen Sie den Weg frei für ein blockfreies, neutrales, islamisches Afghanistan, wie es Afghanistan früher gewesen war und wie Afghanistan es wieder werden will!