Rede von
Gertrud
Unruh
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Herr Präsident! Werte Volksvertreter und -innen! Den Präsidenten abzulösen ist ja nicht schlimm, nicht wahr? Das hat doch etwas mit Demokratieverständnis zu tun. Werden Sie also bitte nicht unruhig.
Ich finde das, was der Herr Minister so nett sagt, ja gut: Diese alte Sozialpolitik hat sich nicht bewährt, also müssen wir irgend etwas Neues machen. Da stimme ich ihm doch voll zu! Wenn er das auch noch mit Herz und Verstand machen will, ist es ja noch toller.
Nur, er entdeckt zwar sein Herz, mißbraucht aber seinen Verstand. Er bringt nämlich genau die Menschen, die ausgebeutet worden sind und die nach wie vor ausgebeutet werden, nicht in seinen Verstand hinein, um letztlich in der Sozialpolitik etwas anderes zu manifestieren.
Herr Dreßler, seien Sie so nett, bleiben Sie ruhig hier. Sie haben ja auch so ein tolles Grundsicherungsprogramm vorgelegt. Ich finde es großartig, daß die SPD im sozialen Umfeld auch fortschrittlich ist und weiter denkt. Nur, machen Sie einen Fehler bitte nicht; lassen Sie doch endlich einmal die Rentner und die Rentnerinnen aus dem Spiel. Ein Leben hin zur Rente ist doch ein ganz anderes Leben als das in der Rente, und deshalb bitte nicht eine Grundversorgung, angefangen beim 16jährigen bis hin zu über 60jährigen, alles über einen Schnitt geballert. So geht es ja nicht! Wir haben doch mitbekommen — auch der Kollege Hoss sagt es ja —, daß ein reiches Arbeitsleben, in dem über 40 Jahre lang für die Rente geklebt wird, für einen alten Menschen nicht dazu ausreicht, mit 1 400 oder 1 300 oder 1 200 Mark ein Leben in Würde unter uns führen zu können. Die Rentnerinnen, das sind doch nicht nur sieben Millionen. Lieber Herr Blüm, Sie sprechen von der guten Mutter. Sie sind ein schlechter Vater!
Sie haben nämlich nach wie vor nicht dafür gesorgt, daß diese guten Mütter bitte einmal etwas mehr als 60 % von der Rente vom lieben Vati bekommen. Zwei Drittel dieser Witwenrenten liegen doch unter
800 Mark. Was soll also die gute bewährte Mutter in ihrem Rentenalter eigentlich anfangen?
Genau dieser guten bewährten alten Mutter nehmen Sie zum guten Schluß über Ihre Reform jetzt auch noch das Beerdigungsgeld weg. Man muß sich einmal folgendes vorstellen. Da häufen sich die Briefe auf meinem Schreibtisch: Um Gottes Willen, jetzt müssen wir von diesen 800 DM, die wir haben, auch noch einen extra Sterbegroschen zurücklegen, damit unsere Kinder nicht darüber besorgt sein müssen, ob wir nun erster, zweiter oder fünfter Klasse unter die Erde kommen. Das sind doch Dinge, an denen deutlich wird, daß Sie mit Ihrem Denkansatz falsch umkippen. Gut, ich weiß auch, daß Sie für über 60jährige eine Übergangslösung einführen wollen. Das habe ich gelesen. Nur: Sie züchten doch schon heute die Rentner und Rentnerinnen in großer Armut von morgen. Es gibt doch heute Einkommen in Höhe von 1 200 DM. Was sollen diese Menschen denn einmal für eine Rente kriegen? Also tun Sie doch nicht so, als wenn Sie nicht auf dieser Welt leben. Einmal reden Sie bei der Jungen Union groß von christlichen Werten. Vorhin haben Sie uns wieder weisgemacht, daß die Familie der größte Solidaritätsfaktor ist. Bitte schön! Wo ist denn die politische Wahrheit der Solidarität. Sie lassen Millionen von alten Menschen letztlich bis hin in die Hungerküchen fallen. Ist Ihnen das nicht alles bekannt?
Fangen Sie einmal an — Herr Kolb, Sie insbesondere mit Ihrer wahnsinnigen Unternehmerdenkstrategie — umzudenken. Sie werden nie dahin kommen, wie ein 70 Jahre alter Herr, der mir schrieb: Ich bringe mich morgen um. Ich schäme mich zum Sozialamt zu gehen. Ich habe 45 Jahre gearbeitet und bekomme ganze 995 DM Rente.
— Das stimmt nicht? Dann gehen Sie doch einmal zu Ihrem großartigen Arbeitsminister!
Freunde, so geht es nicht! Ein neues Denken muß diese Altersarmut abschaffen. Wenn Sie jetzt nicht klatschen, dann weiß ich überhaupt nicht, warum es noch eine christliche Union gibt.
Meine Redezeit ist zu Ende. Ich kann später einmal guten Gewissens von dieser Welt abtreten — das glauben Sie — , und ich werde mit der SPD und den GRÜNEN dafür kämpfen, daß es eine andere, eine bessere Alterssicherung gibt, als die, die wir jetzt haben. Fangen Sie bei den Beamten an, es zu ändern.