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ID1104301000

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/43 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 43. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 26. November 1987 Inhalt: Wahl der Abg. Frau Dempwolf zur Schriftführerin als Nachfolgerin der Abg. Frau Hoffmann (Soltau) 2923 A Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1988 (Haushaltsgesetz 1988) (Drucksachen 11/700, 11/969) Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses Einzelplan 11 Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (Drucksachen 11/1061, 11/1081) Sieler (Amberg) SPD 2923 C Strube CDU/CSU 2926 B Hoss GRÜNE 2930 A Cronenberg (Arnsberg) FDP 2931D Dreßler SPD 2934 B Dr. Blüm, Bundesminister BMA 2937 B Frau Unruh GRÜNE 2942 A Egert SPD 2943 A Einzelplan 15 Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Drucksachen 11/1065, 11/1081) Waltemathe SPD 2945 D Rossmanith CDU/CSU . . 2948 B Frau Wilms-Kegel GRÜNE 2951 C Zywietz FDP 2954 A Jaunich SPD 2956 D Link (Diepholz) CDU/CSU 2958 C Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 2960 B Eimer (Fürth) FDP 2962 C Frau Dr. Süssmuth, Bundesminister BMJFFG 2963 B Einzelplan 16 Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Drucksachen 11/1066, 11/1081) Waltemathe SPD 2967 A Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 2970 A Dr. Knabe GRÜNE 2973 D Baum FDP 2975 C Dr. Hauff SPD 2976 C Wolfgramm (Göttingen) FDP 2979 B Dr. Töpfer, Bundesminister BMU 2980D, 2985 B Schäfer (Offenburg) SPD 2984 A Frau Vennegerts GRÜNE 2985 D Einzelplan 07 Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz (Drucksachen 11/1057, 11/1081) II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. November 1987 in Verbindung mit Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht (Drucksachen 11/1067, 11/1081) Bachmaier SPD 2986 C Marschewski CDU/CSU 2988 B Häfner GRÜNE 2992 A Kleinert (Hannover) FDP 2993 C Wiefelspütz SPD 2994 D Engelhard, Bundesminister BMJ 2996 B Einzelplan 25 Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Drucksachen 11/1070, 11/1081) Nehm SPD 2998 A Dr. Schroeder (Freiburg) CDU/CSU . . . 2999 D Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 3001D Grünbeck FDP 3003 A Scherrer SPD 3005 A Dr. Schneider, Bundesminister BMBau . . 3006 B Frau Dr. Hamm-Brücher FDP (Erklärung nach § 31 GO) 3008 B Einzelplan 12 Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr (Drucksachen 11/1062, 11/1081) Purps SPD 3009 C Windelen CDU/CSU 3013 A Weiss (München) GRÜNE 3015B Zywietz FDP 3017 A Dr. Warnke, Bundesminister BMV . . . 3019B Einzelplan 13 Geschäftsbereich des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen (Drucksache 11/1063) Börnsen (Ritterhude) SPD 3021 A Deres CDU/CSU 3025 B Dr. Briefs GRÜNE 3026 C Funke FDP 3028 C Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister BMP 3030 C Haushaltsgesetz 1988 (Drucksachen 11/1079, 11/1080) Kühbacher SPD 3032 C Frau Vennegerts GRÜNE 3032 D Carstens (Emstek) CDU/CSU 3033 A Dr. Weng (Gerlingen) FDP 3033 B Tagesordnungspunkt II: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1987 bis 1991 (Drucksachen 11/701, 11/970, 11/1183) Nächste Sitzung 3033 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3034* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. November 1987 2923 43. Sitzung Bonn, den 26. November 1987 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 27. 11. Frau Beck-Oberdorf 27. 11. Dr. Biedenkopf 26. 11. Böhm (Melsungen) * 27. 11. Büchner (Speyer) * 27. 11. Bühler (Bruchsal) * 26. 11. Dr. Dollinger 27. 11. Duve 27. 11. Ehrbar 27. 11. Dr. Feldmann * 27. 11. Frau Fuchs (Verl) 27. 11. Dr. Geißler 27. 11. Dr. Glotz 26. 11. Dr. Haack 27. 11. Frau Dr. Hartenstein 26. 11. Freiherr Heereman von Zuydtwyck 27. 11. Frau Dr. Hellwig 27. 11. Heyenn 27. 11. Hiller (Lübeck) 27. 11. Hörster 26. 11. Frau Kelly 26. 11. Kiechle 26. 11. Dr. Klejdzinski * 26. 11. Klose 27. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Knabe 26. 11. Kreuzeder 27. 11. Lemmrich * 26. 11. Lenzer * 27. 11. Frau Luuk * 27. 11. Mischnick 27. 11. Dr. Möller 27. 11. Dr. Müller * 27. 11. Dr. Neuling 27. 11. Niegel 26. 11. Frau Pack 27. 11. Paintner 27. 11. Petersen 27. 11. Pfeifer 27. 11. Reddemann * 26. 11. Schäfer (Mainz) 26. 11. Schmidbauer 26. 11. Schmidt (München) * 27. 11. von Schmude 27. 11. Dr. Spöri 26. 11. Spranger 26. 11. Dr. Todenhöfer 27. 11. Frau Dr. Vollmer 26. 11. Dr. Waigel 27. 11. Graf von Waldburg-Zeil 27. 11. Wieczorek (Duisburg) 27. 11. Wischnewski 27. 11. Würtz 27. 11. Zierer * 26. 11. Dr. Zimmermann 26. 11.
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    Rede von Rudolf Dreßler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tageszeitung „Die Welt" vom Montag war zu lesen, daß einer der Ihren, aus der Koalition, Ihnen eine wichtige Empfehlung mit auf den Weg gegeben hat: Man müsse auch der Opposition recht geben können; denn wenn die SPD recht hat, hat sie recht.

    (Kolb [CDU/CSU]: Wann hat sie recht?)

    Dieser Empfehlung des Kollegen Blüm können wir uns vollinhaltlich nur anschließen.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Aber nur wenn!)

    Wenn Sie jetzt auch noch den nächsten Schritt mutig täten und die Haushaltsdebatten der Jahre seit 1982 nachläsen, dann könnten wir versuchen, einige Fehler gemeinsam wiedergutzumachen,

    (Kolb [CDU/CSU]: Und die Fehler vorher?)

    z. B. beim § 116 AFG, Herr Kolb, bei den Rentenkürzungen für Behinderte in Werkstätten.
    Für einige der großen Probleme, vor denen wir stehen, kommt diese Einsicht allerdings reichlich spät. Arbeitnehmer, Unternehmen, unsere gesamte Volkswirtschaft wird dafür die Zeche bezahlen. Sie haben sich und andere damit eingelullt, daß die Exportkonjunktur floriere, als ob das Ihr Verdienst gewesen wäre.
    Nein, diese Regierung hat in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik nicht nur auf Sand gebaut; es ist viel schlimmer. Sie hat vor allem auf die US-Schuldenpolitik der vergangenen Jahre gebaut. Wenn dieses Jahr herum ist, wird die Wachstumsrate gerade einmal halb so hoch sein, wie Herr Bangemann sie im letzten Jahr erwartet hat. Was der Wirtschaftsminister als Prognosen ausgibt, sind Prophezeiungen. Sie, Herr Blüm, fallen darauf herein.

    (Kolb [CDU/CSU]: Ihr spracht von Minuswachstum!)

    Jetzt stehen wir vor den Problemen. Vom Export werden keine Beschäftigungsimpulse ausgehen. Die öffentlichen Investitionen sind drastisch zurückgegangen.

    (Rossmanith [CDU/CSU]: Nur in NordrheinWestfalen!)

    Die privaten Investitionen dümpeln auf niedrigem Niveau dahin.
    Wenn es bei Ihren unseriösen Steuerplänen bleibt, wird das noch schlimmer werden. Bund, Länder und Gemeinden müssen ihre Aufträge zurückfahren und belasten den Arbeitsmarkt und die Konjunktur. Es ist sehr bedauerlich, daß Ihnen diese Zusammenhänge augenscheinlich unbekannt sind.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen ist auf das Niveau der 50er Jahre gefallen. Die schwächliche Binnennachfrage ist dafür die Quittung.

    (Kolb [CDU/CSU]: Deswegen machen wir ja die Steuerreform!)

    Wie war das denn noch, Herr Kolb? Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und sollten die Arbeitsplätze von übermorgen sein. Angebotspolitik nennt man das. Ja, wo sind denn die Investitionen heute mit den Gewinnen von gestern, Herr Cronenberg?

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: In Amerika!)

    Ja, wo sind sie denn? Fehlanzeige! Bei Ihrer Wirtschaftspolitik waren die Gewinne von vorgestern, die Anlage von Geldkapitalien in den Vereinigten Staaten gestern und die Milliardenverluste an den Börsen in der letzten Woche. Das sind die Zusammenhänge.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir hätten alle mehr davon gehabt, meine Damen und Herren, wenn nur ein Teil der an den Börsen verlorenen Milliarden in Zukunftsinvestitionen bei uns geflossen wäre, z. B. in Investitionen für die Umwelt oder in unweltverträgliche Technologien oder in Anlagen, die weltweit gebraucht werden.
    Sagen Sie nicht, Sie hätten es nicht gewußt! Seit Jahr und Tag haben wir Sie gemahnt, die binnenwirtschaftliche Entwicklung nicht zu vernachlässigen. Die knapp 2,4 Millionen registrierten Arbeitssuchenden nach fünf Jahren sogenannten Aufschwungs gehen deshalb zum großen Teil auf das Konto Ihrer kurzatmigen und kurzsichtigen Politik.

    (Beifall bei der SPD)




    Dreßler
    Diese Regierung hat die beschäftigungspolitischen Chancen der vergangenen Jahre nicht genutzt. Vor lauter Freude darüber, regieren zu können, haben Sie die Chancen nicht einmal erkannt. Nun das Dilemma vor Augen, stellt sich jetzt der Finanzminister hin und verlangt von den Gewerkschaften höhere Lohnabschlüsse.

    (Kolb [CDU/CSU]: Mehr direkte, weniger indirekte!)

    Zur gleichen Zeit plant sein Kabinettskollege Blüm, den krankenversicherten Arbeitnehmern rund 8 Milliarden DM zusätzlich abzuknöpfen. Mit seiner sogenannten Steuerreform schaufelt der Finanzminister Milliarden in hohe Einkommensgruppen, die schon heute 20 % und mehr sparen.

    (Kolb [CDU/CSU]: Dem Herrn Steinkühler und ähnlichen! — Rossmanith [CDU/CSU]: Eine bösartige Darstellung!)

    Städten und Ländern wird die Möglichkeit genommen, Nachfrage zu entfalten. All das sollen die Gewerkschaften ausgleichen? Um den durch Ihre beschäftigungs- und konjunkturschädliche Politik hervorgerufenen Kaufkraftausfall auszugleichen, müßten die Gewerkschaften alle zwei Monate Lohnerhöhungen durchsetzen.
    Aber die Aufforderung an die Gewerkschaften hat noch einen anderen üblen Beigeschmack, meine Damen und Herren. Die einzige gesellschaftliche Gruppe, die in den vergangenen fünf Jahren wirksam etwas für zusätzliche Arbeitsplätze getan hat, wollen Sie nämlich — das steckt dahinter — von dem Weg der Arbeitszeitverkürzung abbringen; das ist das eigentliche Ziel.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Kolb [CDU/CSU]: Weil sie nichts bringt!)

    Deshalb erinnern wir Sie daran: Ohne Arbeitszeitverkürzung müßten Sie noch einige hunderttausend Arbeitslose mehr verwalten, Herr Blüm.
    Erklären Sie bitte Ihren Kabinettskollegen, daß jeder zusätzliche oder durch Arbeitszeitverkürzung erhaltene Arbeitsplatz

    (Kolb [CDU/CSU]: Mehr Schwarzarbeit schafft!)

    auch Nachfrage entfaltet und steigende Steuereinnahmen bedeutet.
    Meine Damen und Herren von der Regierungsbank, ich bitte Sie eindringlich: Halten Sie sich aus der Tarifpolitik heraus. Das von Ihnen in Bonn angerichtete Chaos reicht völlig; bringen Sie nicht auch noch die Tarifpolitik durcheinander.

    (Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Sie schaffen doch die Arbeitslosen!)

    Chaos! — „Chaos", das ist das Stichwort. Und jetzt kommen wir zum Bundesarbeitsminister und seinem Etat.

    (Egert [SPD]: Der Chaos-Minister!)

    „Chaos", meine Damen und Herren, heißt übersetzt: wildes, wüstes Durcheinander.

    (Kolb [CDU/CSU]: Da sind Sie Meister!)

    Das beschreibt nicht nur den Zustand der Koalition und der CDU/CSU im besonderen, nein, das beschreibt auch unsere Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

    (Strube [CDU/CSU]: Damit können Sie keinen Blumenpott gewinnen!)

    Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sind auch in diesem Haushalt des Bundesarbeitsministers ein weißer Fleck, wie in dem Haushalt und der Politik insgesamt. Sie bringen es fertig, bei noch weiter steigender Massenarbeitslosigkeit die Maßnahmen zur Fortbildung und Umschulung einzuschränken und frech weiter von einer „Qualifizierungsoffensive" zu sprechen. Das ist die Methode „Tarnen und Täuschen", und zwar ihre Fortsetzung.
    Die Bundesanstalt für Arbeit läuft mit wachsendem Tempo in ein milliardenschweres Defizit hinein. Mit versicherungsfremden Leistungen wird die Bundesanstalt für Arbeit belastet, weil Herr Stoltenberg mal wieder irgendwo ein Loch zu stopfen hat.

    (Strube [CDU/CSU]: Kein Zuschuß notwendig!)

    Wie wollen Sie das eigentlich lösen? Wieder einmal an die Leistungen für Arbeitslose herangehen?

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wie, „wieder einmal" ? Wir haben sie doch gerade erhöht!)

    Oder wollen Sie die Beiträge 1988 erhöhen?

    (Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Unseren Entschließungsantrag — hören Sie genau zu, Sie müssen auch aufpassen, was in diesem Plenum passiert — , daß es weder Beitragssatzsteigerungen zur Arbeitslosenversicherung noch Leistungseinschränkungen für Arbeitslose geben darf, haben Sie vor 14 Tagen in diesem Plenum abgelehnt. Das ist die Wahrheit.

    (Beifall bei der SPD — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Ich nicht!)

    Krankenversicherung ist das nächste Stichwort. Norbert Blüm will ganz allein die Krankenversicherung sanieren. Mutig stellt er sich mit seinem Schwert vor Beitragszahler, vor Kranke, vor Ärzteverbände und Pharmaindustrie. Und dann holt er aus,

    (Egert [SPD]:... und enthauptet die Versicherung!)

    stößt seinen Kriegsschrei aus und läßt sein Schwert herniedersausen. Und wen hat er getroffen? Die Beitragszahler, die Kranken und die Behinderten, wie immer.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, wir fordern die Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP mit Nachdruck auf: Beteiligen Sie sich an der Arbeit der Enquete-Kommission zur Krankenversicherungsreform. Helfen Sie mit, damit sie zu guten und tragfähigen Ergebnissen kommt. Lassen Sie uns versuchen, gemeinsam zu Werke gehen und zu einer wirklichen Reform zu kommen, z. B. zu mehr Vorbeugung im Gesundheitswesen und zur Brechung der Selbstbedienungsmentali-



    Dreßler
    tät der Anbieter im Gesundheitswesen. Das sind die Stichworte für eine wirkliche Reform.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Aber was erleben wir? Unter dem geschmacklosen Titel „Solidarität neu bestimmen" wollen CDU/CSU und FDP bei den Versicherten Millardenbeträge abkassieren, 2,6 Milliarden DM beim Zahnersatz, 700 Millionen DM bei Arzneimitteln, 600 Millionen DM bei Brillen und Kontaktlinsen,

    (Kolb [CDU/CSU]: Haben Sie eine Kassenbrille?)

    400 Millionen DM bei Kuren, fast 700 Millionen bei Heil- und Hilfsmitteln, 800 Millionen DM bei Fahrtkosten usw. Und da sitzen die Herren von der Union und lachen noch darüber. Sie sollten sich schämen.

    (Pfui-Rufe bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Unglaublich! — Zurufe von der CDU/CSU)

    In der Rentenversicherung ist das nicht anders.

    (Kolb [CDU/CSU]: Das ist doch Täuschung!)

    Wer den Generationenvertrag retten will, muß die Rentenversicherung für das nächste Jahrzehnt auf sichere Füße stellen.

    (Strube [CDU/CSU]: Machen Sie mal einen Finanzierungsvorschlag!)

    Das schafft keine Partei alleine.

    (Günther [CDU/CSU]: Kein Vorschlag zur Krankenversicherung!)

    — Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Etliche Gutachten bestätigen das.

    (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wo sind sie denn?)

    — Da fragen Sie, wo die Vorschläge auf dem Tisch liegen?

    (Egert [SPD]: Die können nicht lesen!)

    1984/85 ein Gesetzentwurf, drei Sitzungen des Bundestages, und die Herren von der Union fragen, wo denn etwas wäre.

    (Egert [SPD]: Die haben nicht aufgepaßt, schlafen, schlafen!)

    Sie müssen schlicht und ergreifend die Drucksachen zur Kenntnis nehmen.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

    Wir wiederholen unser Angebot: Wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Die Voraussetzungen müssen jedoch stimmen: beitragsbezogene Rente, höherer Bundeszuschuß, volle Beiträge der Bundesanstalt für die Arbeitslosen.

    (Kolb [CDU/CSU]: Das ist Ihr Rezept?)

    — Sie wissen doch selbst, daß kein Weg an diesen Elementen vorbeiführt.
    Aber machen Sie bitte Ihrem Finanzminister klar, wie das ist, und zwar möglichst, bevor er das Geld weiter für obskure Steuerpläne verpulvert hat.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, Sozialhilfe muß wieder auf ihre eigentliche Aufgabe zurückgeführt werden. Das hilft auch den Städten und Gemeinden; denn es kann nicht angehen, daß die Kommunen ausbluten, weil Renten- und Arbeitslosenversicherung nicht ordentlich ausgestattet sind.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Damit sind wir beim Stichwort „soziale Grundsicherung" . Ich gebe gerne zu, daß das von uns entworfene Konzept ca. 4 Milliarden DM kostet, von denen die Koalition behauptet, daß wir sie nicht haben.

    (Kolb [CDU/CSU]: Zusätzlich!)

    Herr Kolb, solange Sie so tun, als könnten wir es uns leisten, jedem 15 000 DM im Jahr hinterherzuwerfen, der 300 000 DM im Jahr verdient, so lange nehme ich Ihnen das Argument, wir hätten kein Geld, nicht ab.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    15 000 DM Steuererleichterung, das ist mehr, als Tausende von Rentnerinnen im Jahr zum Leben zur Verfügung haben. 4 Milliarden DM für wirklich Arme, das wäre tausendmal bessere Sozialpolitik als die Entlastung von Spitzeneinkommen um Tausende von D-Mark.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Wir bleiben dabei: Wir sind jederzeit bereit, unsere Konzepte in eine aufgaben- und problemorientierte Diskussion einzubringen. Aber konzeptionsloses Herumgewurschtel werden wir immer und immer wieder entlarven.

    (Beifall bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, es reicht nicht aus, Zukunft auf die Wahlplakate zu schreiben. Sie müssen die Voraussetzungen für eine gute und bessere Zukunft für möglichst viele Menschen schaffen.

    (Strube [CDU/CSU]: Das tun wir!) Ich halte Ihnen vor:

    Erstens. Sie erkennen und nutzen die Chancen unseres Landes und unserer Volkswirtschaft nicht.
    Zweitens. Sie haben keine tragfähige Vorstellung davon, wie unsere Systeme der sozialen Sicherung gestaltet werden müssen.
    Drittens. Mit den Auswirkungen Ihrer Politik machen Sie den Menschen in unserem Land das Leben schwerer, als es nötig wäre.
    Von Herrn Blüm — ich wiederhole — stammt die Erkenntnis: Wenn die SPD recht hat, hat sie recht.

    (Frau Limbach [CDU/CSU]: Ist aber selten der Fall! — Kolb [CDU/CSU]: Das ist fast nie der Fall!)




    Dreßler
    Ich füge hinzu: Wenn Franz Josef Strauß recht hat, hat er recht.

    (Frau Limbach [CDU/CSU]: Das ist häufiger der Fall!)

    — Sehr richtig, sehr richtig! Aber ich hoffe, Sie sind noch so begeistert, wenn Sie jetzt zu Ende gehört haben werden.

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Denn der CSU-Vorsitzende hat sich unsere Kritik am Haushalt der Bundesregierung zu eigen gemacht. Strauß sagte:
    Die Chance, politische Akzente zu setzen, wird versäumt. Phantasielosigkeit und Rotstiftmentalität verwischen die Konturen der Bundesregierung.
    Dem ist nichts hinzuzufügen.

    (Beifall bei der SPD — Egert [SPD]: Beifall beim Abgeordneten Seehofer! — Zuruf von der CDU/CSU: Wo sind Ihre Akzente?)

    — Beifall bei der CSU, bitte. Aber wir registrieren verschämtes Schweigen.
    Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion lehnt aus diesen und vielen anderen Gründen den Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung ab.

    (Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Sie konnten nicht anders!)



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

(Dr. Klejdzinski [SPD]: Jetzt kommt das Chaos! — Dr. Scheer [SPD]: Wir haben aber keinen Karneval!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Dreßler, was verstehen sie unter Chaos? Die Rentenversicherung zu stabilisieren, sie vor dem Zusammenbruch zu bewahren, die Bundesanstalt für Arbeit aus dem Defizit herauszuführen, Kindererziehungszeiten ins Rentenrecht einzuführen, Beschäftigungszuwachs zu ermöglichen — ist das Chaos, oder ist das Ordnung?

    (Reuschenbach [SPD]: Aber Sie tun das gar nicht!)

    — Das hat diese Bundesregierung zustande gebracht:

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Stabilisierung der Rentenversicherung, Stabilisierung der Bundesanstalt für Arbeit. Was die Krankenversicherung anbelangt: Die größten Kostenexplosionen geschahen zwischen 1970 und 1975, 18 % pro Jahr. Jetzt bieten Sie sich als Sanierer an. Wer ein Abbruchunternehmen geführt hat, sollte hier im Deutschen Bundestag nicht als Dombaumeister antreten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Zum zehntenmal! — Andres [SPD]: Das ist inzwischen alt! Das haben wir schon einmal gehört! Neue Gags, Herr Minister!)

    — Ich habe noch andere Bilder: Wer für den Deichbruch verantwortlich ist, sollte nicht als Schleusenwärter auftreten.

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Zugabe!)

    Wenn Sie wollen, ich habe noch ein paar andere Beispiele.
    In der Tat: Wer das Sozialsystem an den Abgrund herangeführt hat, der eignet sich nicht als Fremdenführer in geordneten Zeiten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Andres [SPD]: Adam Riese fehlt noch!)

    Meine Damen und Herren, ich will an den Anfang meiner Rede den Dank an den Haushaltsausschuß stellen, an seine Berichterstatter aus allen Fraktionen, weil ich weiß, daß den Beratungen detaillierte Verantwortung zugrunde liegt. Ich möchte sowohl den Regierungsfraktionen wie der Opposition meinen Dank für die solide Arbeit sagen.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP — Andres [SPD]: Gilt das auch für HdA?)

    — Ja, meine Damen und Herren, ich möchte heute zu ganz konkreten Vorhaben Stellung nehmen.

    (Andres [SPD]: Gilt der Dank auch für HdA?)

    Solidarität unterscheidet sich von der Nächstenliebe eigentlich nur dadurch, daß sie organisiert und institutionalisiert werden muß. Ihr erstes Erfahrungsfeld ist die Familie; sie ist die Schule der Solidarität. Damit steht Familienpolitik im Zentrum unserer Sozialpolitik, und selbst die organisierte Sozialpolitik darf sich nie ihrer familiären Herkunft entfremden, wenn sie nicht kalt und anonym werden soll. Je weniger Familie, um so mehr Bürokratie, Organisation und Prof essionalisierung.
    Quelle der Solidarität — das meine ich ganz im materiellen Sinne — und ihr erstes Bewährungsfeld — das meine ich auch im ideellen Verständnis — ist die Arbeit. Deshalb teile ich die Ansicht: Arbeitslosigkeit ist die größte Gefahr für den Sozialstaat. Sie ist Ausschluß aus der Solidarität, sie vermindert die Einnahmen, vermehrt die Ausgaben. Auch deshalb — nicht nur deshalb — bleibt der Kampf gegen Arbeitslosigkeit die große Aufgabe der Sozialpolitik.
    Ich möchte allerdings heute weder über Familiennoch über Arbeitsmarktpolitik, sondern von der Solidarität in der Krankenversicherung sprechen, und zwar auch aus gegebenem Anlaß der heutigen Diskussionsrunde. Deshalb brauchen wir solidarische Absicherung: Krank kann jeder werden, und wer krank ist — das bleibt der Grundsatz auch der Reform — soll geheilt werden, ob reich, ob arm, ob jung, ob alt, das darf keine Rolle spielen. Die Solidarität gehört den Kranken ohne Rücksicht auf ihren Geldbeutel. Das bleibt Grundsatz auch unserer Reform. Deshalb darf und soll die Reform nicht eine Zitterpartie der Angst werden.
    Die Krankenversicherung kann allerdings das übermenschliche Versprechen nicht einlösen, daß sie alles kann und alles heilt. Sie ist nicht die große Mutter, die allen Menschen alle Schwierigkeiten nimmt. Das kann sie nicht, das will sie nicht, und das darf sie sogar



    Bundesminister Dr. Blüm
    nicht. Mit Geld und Medizin läßt sich nicht alles machen. Die Zuversicht, Krankheit, Schmerz und Tod könnten aus der Gesellschaft gänzlich eliminiert werden, ist eine technokratische Hybris. Sie mündet zuletzt in die Verdrängung des Todes, und der letzte Augenblick des Lebens wird dann in die Hinterzimmer des Krankenhauses verdrängt.
    36,5 % der Amerikaner fühlen sich gesundheitlich sehr gut, aber nur 14,8 To der Bundesbürger sagen dies von sich. Mit dem Krankenversicherungssystem kann das nichts zu tun haben; denn mit Sicherheit ist unser Krankenversicherungssystem ausgebauter und besser als das amerikanische.

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das liegt am Arbeitsminister!)

    Die Krankenversicherung will auch nicht den Anspruch erheben, alles lösen zu können. Auch die gute Mutter — die Solidarität ist die Mutter der Krankenversicherung — muß ihre Kinder zur Selbständigkeit erziehen. Eine Sozialversicherung, die den Menschen alle Probleme abnimmt, entpuppt sich als ein neues Gehäuse der Hörigkeit. Solidarität bleibt ergänzungsbedürftig. Ihre Schwester ist die Eigenverantwortung.
    Sicherheit ohne Freiheit wäre die Sicherheit des zoologischen Gartens, wo es hinter Gitterstäben wohlversorgte Insassen gibt. Freiheit ohne Sicherheit, das wäre die Freiheit des Naturreichs, in dem bekanntlich das große Tier das kleine Tier frißt. Nein, wir wollen Eigenverantwortung und Solidarität, Freiheit und Sicherheit. Es ist die große Aufgabe der Sozialpolitik, diese beiden bedeutenden Prinzipien in Balance zu bringen.
    Die Krankenversicherung kann auch nicht alle Probleme lösen; denn sie kann nicht alle Risiken auf sich nehmen, weil sonst dem Sozialstaat das Geld ausgeht.
    Für Gesundheit, meine Damen und Herren, geben die Bundesbürger so viel aus wie der Haushalt ausmacht, den wir heute beschließen: rund 250 Milliarden DM, die Hälfte davon allein über die gesetzliche Krankenversicherung. Was jeder für seine Gesundheit anlegt, ist seine Sache. Kein Politiker von uns hat das Recht, den Menschen das vorzuschreiben. Wir müssen uns aber der Frage stellen, was mit Pflichtbeiträgen bezahlt werden muß, was mit Zwangsabgaben organisiert werden muß. Der Verantwortung müssen Sie sich alle stellen. Mit wachsendem Wohlstand steigen die Bereitschaft und die Möglichkeit, mehr Geld für Gesundheit auszugeben. Aber die gesetzliche Krankenversicherung kann dieser Entwicklung nicht einfach folgen oder sie sogar noch überholen; ihre Steigerungsraten können jedenfalls so nicht fortgeführt werden. 1960 gab die Krankenversicherung 9 Milliarden DM aus, zehn Jahre später 24 Milliarden DM, noch einmal zehn Jahre später 86 Milliarden DM. Inzwischen sind wir bei 125 Milliarden DM angekommen. Herr Dreßler, ich verstehe Sie nicht: Wenn wir sparen wollen, wieso kassieren wir dann ab? Wir wollen den Arbeitnehmern wieder Geld ins Portemonnaie bringen, sonst raubt uns die Krankenversicherung den Lohn. Wenn das so weitergeht — da muß ich nicht mathematisch begabt sein — , wird das Sozialprodukt von der Krankenversicherung aufgefressen. Dann können wir das System auf Krankenschein umstellen; das ist doch ganz einfach.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Während die Löhne seit 1960 um das Fünffache stiegen, wuchsen die Ausgaben der Krankenversicherung um das 14fache. Es ist also nur eine Frage der Hochrechnung, wann das Ende erreicht ist. Wir stehen nicht vor der Wahl: verändern, ja oder nein; wir stehen nur vor der Wahl: verändern oder verenden. Das ist die eigentliche Wahl, vor der wir stehen, und dieser Herausforderung müssen wir gerecht werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Die Solidareinrichtung Krankenversicherung
    würde bei unveränderter Kostensteigerung auch in einen Krieg mit den Arbeitslosen geraten; denn die hohen Lohnnebenkosten nehmen den Unternehmen das Geld, das sie brauchen, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist doch ein Alarmsignal, wenn ausgerechnet in Papenburg, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, auch die höchsten Krankenkassenbeiträge gezahlt werden: Die AOK ist hier bei 16 % angekommen. Wer hier die Hände in den Schoß legt, läßt die Arbeitslosen im Stich.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Ich will auch auf die Notwendigkeit der Krankenversicherungreform im Zusammenhang mit der Steuerreform hinweisen. Die Beitragssteigerung in der gesetzlichen Krankenversicherung dieses und nächsten Jahres werden den Beitragszahlern 22 Milliarden DM — nur durch Beitragssteigerung! — mehr aus der Tasche holen — ich wiederhole: 22 Milliarden DM! Das ist fast so viel wie der gesamte Nettoeffekt der Steuerreform. Würden wir keine Krankenversicherungsreform durchführen, würden wir uns um den Erfolg der Steuerreform bringen. Wir können doch nicht mit der einen Hand entlasten und mit der anderen Hand wieder einnehmen. Das wäre nichts anderes als der große Illusionistentrick, und der ist nicht Erkennungszeichen unserer Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Die Krankenversicherungsreform — das weiß ich — ist ein heißes Eisen, so daß sich alle, die es anfassen, die Finger verbrennen können. Deshalb wird das heiße Eisen seit Jahren auch nicht angepackt. Dieses heiße Eisen hat aber die Eigenschaft, daß es nicht kälter, sondern heißer wird, so heiß, daß es selbst mit der Zange nicht angepackt werden kann.
    Durch Abwarten wird die Krankenversicherungsreform nicht leichter. Wenn alles gutgeht und wenn wir trotz voraussehbarer Demonstrationen und Proteste den Mut behalten, sie durchzuführen, werden wir wahrscheinlich 14 Milliarden DM sparen. Das ist so viel, wie die Beitragssatzsteigerungen seit drei Jahren ausmachen. Hätten wir vor drei Jahren haltgemacht, brauchten wir jetzt die 14 Milliarden DM nicht zu sparen. Wer jetzt nicht spart, wird in drei Jahren nicht



    Bundesminister Dr. Blüm
    14 Milliarden DM sparen müssen, der wird in drei Jahren 30 Milliarden DM sparen müssen. Deshalb: Jetzt oder nie, Schmerz oder Kollaps, das sind die Alternativen, vor denen das Krankenversicherungssystem steht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ohne die Fähigkeiten eines Hellsehers beanspruchen zu wollen kann ich den Verlauf der Diskussion schon voraussagen. Die einen werden schreien: Ausbeutung der Versicherten, und die anderen werden rufen: Ruin der Anbieter. Es wird niemand eingestehen, daß es nur um seinen Egoismus geht, der beschädigt wird. Alle werden große Worte gebrauchen, um dahinter ihre kleinlichen Interessen zu verstecken.
    Die Diskussion um die Krankenversicherungsreform leidet nicht an einem Mangel von Vorschlägen. So gut wie alles, was denkbar ist, ist auch schon gesagt worden. Meist sind es allerdings Vorschläge, was andere machen sollten. Der Vorschlag, was die eigene Gruppe tun sollte, hat Seltenheitswert. Wir haben in der Bundesrepublik, in Bonn, keinen Mangel an Lobbyismus; wir leiden unter einem Defizit an Gemeinwohlverpflichtung — darunter leidet die Republik.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    — Ich mache das gleich dingfest: Ein in Bonn ortsbekannter Lobbyist hat gestern schon den Sozialismusverdacht gegenüber unseren Vorschlägen verkündet. Mit solchen Söldnern werden die Ärzte ihre Reputation nicht bewahren. Jene Ärzte, viele, viele Zehntausende, die Tag und Nacht bereit sind, am Bett von Kranken zu stehen, mit letztem Einsatz am Operationstisch zu stehen, sollten sich von solchen Funktionären trennen, die nur kleinliche Gruppeninteressen im Kopf haben.
    Gott sei Dank gibt es ja auch noch eine Reihe von Ärzten, die wissen, was sie dem Gemeinwohl schuldig sind. Ich nenne Professor Häußler, den Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Er mag sich mit der Gewißheit trösten, daß Verantwortung dem Ärztestand mehr hilft als kleinlicher Lobbyismus und deshalb langfristig doch richtig ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der dem Kranken zugewandte Arzt, der Partner der kranken Menschen, das bleibt die Leitfigur unserer Krankenversicherungsreform. Dieses Vertrauensverhältnis muß erhalten bleiben. Da darf kein Staat reglementierend eingreifen. Wir sind dazu nur fähig, wenn dieses freiheitliche System finanzierungsfähig bleibt. Wer seine Finanzierungsfähigkeit aus Gruppen- und Gehaltsinteressen beschädigt, beschädigt das freie System unseres Gesundheitswesens.
    Auch die Pharmaindustrie muß die Kirche im Dorf lassen. Die Preise in der Bundesrepublik Deutschland liegen mehr als 50 T. über dem EG-Durchschnitt. Die überdurchschnittlichen Preise können nicht mit dem Aufwand für Forschung begründet werden. 25,1 der Kosten für Arzneimittel entfallen auf Werbung, Vertrieb und wissenschaftliche Information, das sind 5 Milliarden DM. Für Forschung werden 3 Milliarden DM ausgegeben. Unter wissenschaftlicher Information werden auch jene Veranstaltungen abgebucht, in denen Freizeit in der großen weiten Welt mit einem Randprogramm von Vorträgen garniert wird. Auf einen Pharmaberater kommen fünf Ärzte. Jede Berufsgruppe, jeder Wissenschaftssektor kann in der Marktwirtschaft machen, was er will, sofern er dafür Absatz findet. Er kann aber nicht verlangen, daß mit Pflichtbeiträgen bezahlt wird, was seinen Einkommenserwartungen entspricht. Das kann er auch in der Marktwirtschaft nicht verlangen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Deshalb: Unsere Reform richtet sich nicht nur an die Anbieter, sondern auch an die Versicherten. Wir sind in Gefahr, die Gesundheit den Pillen und Tröpfchen zu überlassen. Das ist die Einübung in eine Mentalität, bei der alles von außen gesteuert wird, durch andere gelöst wird, gelöst werden soll, und niemand mehr für sich selber verantwortlich ist. So werden die Pharmaka geradezu zu einem Symbol einer fremdgesteuerten Gesellschaft, die ihr Wohlergehen mit dem Verlust von Freiheit und Selbstverantwortung erkauft.
    921 Kilo Medikamente wurden in einem der fünf Bonner katholischen Dekanate zugunsten Polens gesammelt. Ihr Gesamtwert betrug eine halbe Million DM. Eine halbe Million DM für nicht notwendige Arzneimittel; denn wären sie notwendig gewesen, wären sie ja nicht abgegeben worden. Eine halbe Million DM, die von den Beitragszahlern bezahlt wird. Niemand soll sagen, wir seien unterversorgt. Wir sind mit Arzneimitteln überversorgt!

    (Hoss [GRÜNE]: Tun Sie doch etwas gegen die Vielzahl der Arzneimittel!)

    Deshalb: Wir müssen sparen. Diese halbe Million DM fehlt uns im Kampf gegen Rheuma, gegen AIDS, gegen Krebs, gegen die großen Volkskrankheiten. Wir sparen doch nicht, weil es uns Spaß macht zu sparen. Wir sparen, um das Geld für das Notwendige zu haben. Unser Gesundheitssystem hat noch viele Notwendigkeiten.

    (Hoss [GRÜNE]: Tun Sie doch etwas gegen die Pharmaindustrie!)

    Nicht jeder Anspruch ist schon deshalb geheiligt — das muß man auch den Versicherten sagen — , weil er angemeldet wird. Es gibt Auswüchse. Es gibt die Vorstellung, dieses Gesundheitssystem sei eine Kuh, die im Himmel gefüttert wird und auf Erden gemolken werden kann. Beim Petitionsausschuß liegt die Beschwerde eines Mitbürgers vor, der dagegen protestiert, daß ihm die 41. Kur in 17 Jahren verweigert wurde. Wir müssen doch verweigern, nicht aus Hartnäckigkeit, sondern um den tatsächlich Kranken zu helfen.

    (Hoss [GRÜNE]: Haben Sie keine anderen Beispiele?)

    — Das sind Beispiele aus einem überwucherten System.

    (Kolb [CDU/CSU]: Der wollte das goldene Jubiläum!)

    Wir müssen Mißbräuche verhüten. Die gibt es überall. Die gibt es bei den Versicherten, die gibt es auch bei den Ärzten. Beispielsweise hat das Landgericht in



    Bundesminister Dr. Blüm
    Bochum über einen Fall befunden, in dem einem Versicherten innerhalb von vier Monaten 1 400 Kamillebäder verschrieben wurden. Das wären zehn Kamillebäder pro Tag.
    Sie sehen: Mut gehört dazu, um das Geld zusammenzubringen — ich wiederhole es — , um den in Not Befindlichen, den Kranken mit allen Mitteln zu helfen. Unser System aber finanziert sowohl Luxus als auch Bagatellen, die nicht von der Solidarität aufgefangen werden müssen.
    Die Krankenversicherungsreform wird zur Mutprobe. Sind demokratische Mehrheiten fähig — das frage ich alle — , Umstellungen zu ermöglichen, die mit dem Verlust lieb gewordener Gewohnheiten verbunden sind? Wenn diese Frage verneint würde, wäre die Demokratie unfähig, Epochenende zu begleiten, wäre die Demokratie nur zur Fortsetzung fähig, wäre die Demokratie unfähig, Wende herbeizuführen. Wende geht nur, wenn wir den Mut haben, auch gegen liebgewonnene Gewohnheiten ein neues Kapitel aufzuschlagen. Und das neue Kapitel muß in der Krankenversicherung aufgeschlagen werden, wenn sie nicht zusammenbrechen soll.
    Nicht alles, was uns Meinungsbefragungsinstitute raten, ist richtig, und nicht alles, was unpopulär ist, ist falsch. Es könnte sein, daß ein vordergründiger Popularitätsbegriff das Geschrei der Funktionäre mit dem Reifegrad einer Gesellschaft verwechselt.
    Die Krankenversicherungsreform wird zum Test der Gemeinwohlfähigkeit der Gesellschaft. Die Nagelprobe werden wir diesmal niemand ersparen können, die Nagelprobe, ob er über Gruppeninteressen hinausdenken kann: Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Arzneimittelhersteller, Heilberufe, Länder, Krankenhäuser, Versicherte — alle.

    (Kolb [CDU/CSU]: Selbstverwaltungen!)

    Da befürchtet die „Frankfurter Allgemeine", daß Produktionskapazitäten der Pharmaindustrie ins Ausland verlagert werden, wenn unsere Reform gelingen sollte. Wie wäre es denn, wenn die von der Pharmaindustrie bezahlten Ärztezeitungen zuvor dafür sorgten, daß die von eben dieser Pharmaindustrie bezahlten Freizeitaktivitäten vom Roten Meer in den Schwarzwald zurückverlagert werden? Das wäre doch ein erster Beitrag, Arbeitsplätze wieder ins Inland zu holen.
    Damit Sie nicht meinen, ich rede hier von irgendwelchen Phantomen, möchte ich einmal so eine Einladung vorlesen:
    Ich möchte Sie heute zu einer Pressereise besonderer Prägung einladen. Vom 17. bis 23. Februar 1985 werden wir drei außergewöhliche Pressekonferenzen erleben. Die erste Pressekonferenz werden wir an Bord der Boeing 747 zum Thema „Rheuma" realisieren. Das Hotel „Oriental" in Bangkok erwartet uns zur ersten Übernachtung.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Nach der ersten Übernachtung geht es weiter
    nach Shiengmai in das berühmte Goldene Dreieck. Eine zweite Pressekonferenz wird sich mit
    der Frage beschäftigen: „Rheumaaustreibung — der richtige Weg der Rheumabehandlung?

    (Kolb [CDU/CSU]: Mit Heroin?)

    Oder ist die Behandlung mit NSAR zeitgemäßer?" Eine dritte Pressekonferenz ist vor dem Rückflug geplant. Als wissenschaftliche Begleiter sind dabei Prof. Buhn (Erlangen), Dr. Krisch (Karlsruhe), Prof. Schattenkirchen (München). Im Hinblick auf die Planung dieser Reise erlaube ich mir, Sie in den nächsten Tagen anzurufen. Es wäre schön, wenn ich mit Ihnen gemeinsam diese Reise erleben könnte.
    Nein, hier versteckt sich niemand hinter dem Gemeinwohl, wenn es nur darum geht, sein Geschäft zu machen. Diese Krankenversicherungsreform wird zur Nagelprobe für alle, ob sie solidaritätsfähig sind. Mit schönen Worten und schönen Kommentaren kann man den Norbert Blüm nicht beeindrucken. Da wird zur Sache gesprochen. Wir sind beim § 116 Arbeitsförderungsgesetz nicht vor dem DGB in die Knie gegangen, und wir werden bei der Krankenversicherungsreform nicht vor den Anbietern und vor keinem Geschrei in die Knie gehen. Das verspreche ich Ihnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)