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ID1104300600

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    Plenarprotokoll 11/43 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 43. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 26. November 1987 Inhalt: Wahl der Abg. Frau Dempwolf zur Schriftführerin als Nachfolgerin der Abg. Frau Hoffmann (Soltau) 2923 A Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1988 (Haushaltsgesetz 1988) (Drucksachen 11/700, 11/969) Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses Einzelplan 11 Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (Drucksachen 11/1061, 11/1081) Sieler (Amberg) SPD 2923 C Strube CDU/CSU 2926 B Hoss GRÜNE 2930 A Cronenberg (Arnsberg) FDP 2931D Dreßler SPD 2934 B Dr. Blüm, Bundesminister BMA 2937 B Frau Unruh GRÜNE 2942 A Egert SPD 2943 A Einzelplan 15 Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Drucksachen 11/1065, 11/1081) Waltemathe SPD 2945 D Rossmanith CDU/CSU . . 2948 B Frau Wilms-Kegel GRÜNE 2951 C Zywietz FDP 2954 A Jaunich SPD 2956 D Link (Diepholz) CDU/CSU 2958 C Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 2960 B Eimer (Fürth) FDP 2962 C Frau Dr. Süssmuth, Bundesminister BMJFFG 2963 B Einzelplan 16 Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Drucksachen 11/1066, 11/1081) Waltemathe SPD 2967 A Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 2970 A Dr. Knabe GRÜNE 2973 D Baum FDP 2975 C Dr. Hauff SPD 2976 C Wolfgramm (Göttingen) FDP 2979 B Dr. Töpfer, Bundesminister BMU 2980D, 2985 B Schäfer (Offenburg) SPD 2984 A Frau Vennegerts GRÜNE 2985 D Einzelplan 07 Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz (Drucksachen 11/1057, 11/1081) II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. November 1987 in Verbindung mit Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht (Drucksachen 11/1067, 11/1081) Bachmaier SPD 2986 C Marschewski CDU/CSU 2988 B Häfner GRÜNE 2992 A Kleinert (Hannover) FDP 2993 C Wiefelspütz SPD 2994 D Engelhard, Bundesminister BMJ 2996 B Einzelplan 25 Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Drucksachen 11/1070, 11/1081) Nehm SPD 2998 A Dr. Schroeder (Freiburg) CDU/CSU . . . 2999 D Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 3001D Grünbeck FDP 3003 A Scherrer SPD 3005 A Dr. Schneider, Bundesminister BMBau . . 3006 B Frau Dr. Hamm-Brücher FDP (Erklärung nach § 31 GO) 3008 B Einzelplan 12 Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr (Drucksachen 11/1062, 11/1081) Purps SPD 3009 C Windelen CDU/CSU 3013 A Weiss (München) GRÜNE 3015B Zywietz FDP 3017 A Dr. Warnke, Bundesminister BMV . . . 3019B Einzelplan 13 Geschäftsbereich des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen (Drucksache 11/1063) Börnsen (Ritterhude) SPD 3021 A Deres CDU/CSU 3025 B Dr. Briefs GRÜNE 3026 C Funke FDP 3028 C Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister BMP 3030 C Haushaltsgesetz 1988 (Drucksachen 11/1079, 11/1080) Kühbacher SPD 3032 C Frau Vennegerts GRÜNE 3032 D Carstens (Emstek) CDU/CSU 3033 A Dr. Weng (Gerlingen) FDP 3033 B Tagesordnungspunkt II: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1987 bis 1991 (Drucksachen 11/701, 11/970, 11/1183) Nächste Sitzung 3033 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3034* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. November 1987 2923 43. Sitzung Bonn, den 26. November 1987 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 27. 11. Frau Beck-Oberdorf 27. 11. Dr. Biedenkopf 26. 11. Böhm (Melsungen) * 27. 11. Büchner (Speyer) * 27. 11. Bühler (Bruchsal) * 26. 11. Dr. Dollinger 27. 11. Duve 27. 11. Ehrbar 27. 11. Dr. Feldmann * 27. 11. Frau Fuchs (Verl) 27. 11. Dr. Geißler 27. 11. Dr. Glotz 26. 11. Dr. Haack 27. 11. Frau Dr. Hartenstein 26. 11. Freiherr Heereman von Zuydtwyck 27. 11. Frau Dr. Hellwig 27. 11. Heyenn 27. 11. Hiller (Lübeck) 27. 11. Hörster 26. 11. Frau Kelly 26. 11. Kiechle 26. 11. Dr. Klejdzinski * 26. 11. Klose 27. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Knabe 26. 11. Kreuzeder 27. 11. Lemmrich * 26. 11. Lenzer * 27. 11. Frau Luuk * 27. 11. Mischnick 27. 11. Dr. Möller 27. 11. Dr. Müller * 27. 11. Dr. Neuling 27. 11. Niegel 26. 11. Frau Pack 27. 11. Paintner 27. 11. Petersen 27. 11. Pfeifer 27. 11. Reddemann * 26. 11. Schäfer (Mainz) 26. 11. Schmidbauer 26. 11. Schmidt (München) * 27. 11. von Schmude 27. 11. Dr. Spöri 26. 11. Spranger 26. 11. Dr. Todenhöfer 27. 11. Frau Dr. Vollmer 26. 11. Dr. Waigel 27. 11. Graf von Waldburg-Zeil 27. 11. Wieczorek (Duisburg) 27. 11. Wischnewski 27. 11. Würtz 27. 11. Zierer * 26. 11. Dr. Zimmermann 26. 11.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Willi Hoss


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)

    Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Bei Ihrem Wort, Herr Strube, daß die Christlich-Sozialen niemals fertig werden, ist mir bei der Vorstellung der Modellversuche zur Bekämpfung des Krebses eingefallen, daß das stimmt, wenn Sie nicht an die Ursachen herangehen,

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    wenn Sie nicht versuchen, die Ursachen der Entstehung des Krebses, die Schadstoffe in der Luft und anderswo, anzugehen. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie niemals fertig werden.
    Den vorliegenden Etat 11, den Arbeits- und Sozialhaushalt, kann man nur richtig verstehen, wenn man ihn in Beziehung zur Entwicklung der sozialpolitischen Verhältnisse in unserem Lande setzt, wenn man die entsprechenden Trends, die Tendenzen, die vorhanden sind, zu diesem Haushalt in Relation setzt. Ich will deshalb, bevor ich überhaupt richtig anfange, einige markante Daten und Trends, die für uns, aber nicht nur für uns, sondern auch für Sie sehr wichtig sind, vortragen.
    Erstens. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger in der Bundesrepublik Deutschland ist mittlerweile auf drei Millionen gestiegen. 1982, als Sie anfingen, waren es 2,3 Millionen. Das ist eine Steigerung um 30 %.
    Zweitens. Inzwischen leben sieben Millionen Menschen in der Bundesrepublik mit einem Einkommen von unter 1 000 DM.
    Drittens. Die Zahl der Erwerbslosen ist bis heute nicht, wie Sie 1982 versprochen haben, drastisch reduziert worden.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Und was ist mit den neuen Arbeitsplätzen?)

    Sie haben versprochen, sie auf eine Million herunterzudrücken, aber die Zahl steigt weiter an, auch im
    Jahre 1988. Wir haben inzwischen 470 000 jugendliche Arbeitslose zwischen 16 und 25 Jahren.
    Viertens. Das Durchschnittseinkommen von Arbeitslosen, das 1982 60 % des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens ausmachte, ist inzwischen auf 42 % des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens gesunken. 40 % der registrierten Arbeitslosen kriegen mittlerweile überhaupt keine Leistungen mehr; sie sind aus den Leistungen herausgefallen.

    (Kolb [CDU/CSU]: Weshalb bekommen sie keine Leistungen?)

    Ich könnte diese Liste fortsetzen. Ich will aber an dieser Stelle aufhören; denn sonst geht meine Redezeit damit zu Ende.
    Fünftens möchte ich sagen, daß die Situation der Rentner durch folgendes zu kennzeichnen ist.

    (Egert [SPD]: Herr Kollege, das ist gut, was Sie sagen!)

    Ein Arbeitnehmer in der Bundesrepublik mit einem Durchschnittsverdienst, der 40 Jahre lang gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, bekommt danach eine Rente in Höhe von 1 400 DM. Seine hinterbliebene Frau wird etwa 850 DM erhalten und liegt damit im Sozialhilfebereich. Das ist die soziale Situation in unserer Gesellschaft.

    (Frau Garbe [GRÜNE]: Das ist die Wahrheit!)

    Der Trend geht eben nicht dahin, daß sich das abbaut — das ist sehr wichtig für die Beurteilung des Einzelplans 11, Herr Blüm — , sondern dahin, daß sich die Dinge verschlechtern.
    Die Situation ist die, daß sich die Teilung in unserer Gesellschaft zwischen denen, die in ein schlechtes Leben hineinkommen, die in Armut hineinkommen, und denen, die Anteil haben an dem Reichtum, die Anteil nehmen können an dem, was produziert wird, weil sie im Erwerbsbereich stehen und davon profitieren können, vergrößert.
    Die Hektik und die Sucht nach Wachstum, nach Konkurrenz, nach immer mehr Leistung und immer mehr Produkten, führen dazu, daß immer mehr Menschen aus dieser Leistungsgesellschaft ausgegliedert werden. Das wird zum sozialen Problem. Das ist ähnlich wie mit den Industriestaaten im Verhältnis zur Dritten Welt: Je reicher die hochentwickelten Industriestaaten werden, um so ärmer und erbärmlicher wird die Situation in den Ländern der Dritten Welt, in den abhängigen Ländern. Diese Situation produzieren Sie jetzt in unsere Gesellschaft hinein. Ich glaube, daß das sehr wichtig ist.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

    Es ist klar, daß dieses Problem nur angegangen werden kann mit einem wirklichen Programm zur Umorientierung, zur ökologischen Gestaltung unserer Wirtschaft, mit Schaffung von Bereichen, in denen in Übereinstimmung mit der Umwelt arbeitsplatzschaffende Produktion aufgebaut wird und neue Produkte hergestellt werden, etwa im Bereich der Chemie und der Verkehrspolitik. Legen Sie doch einmal ein großzügiges Programm auf, anstatt mit der Steuerreform Milliarden zu mobilisieren, die dazu herhalten müs-



    Hoss
    sen, den Spitzenverdienern und den mittleren Verdienern, die ja ohnehin leben können — es ist ja nicht so, daß sie nicht leben können — , noch mehr zu geben. Um denen noch mehr geben zu können, verzichten Sie darauf, Milliarden bereitzustellen, um den Zustand der Nordsee in einem schnellen Tempo zu verbessern. Statt dessen legen Sie uns Zahlen für 1995 vor. Das ist ja geradezu lachhaft.
    Der Plan, der hier vorliegt, nämlich der Einzelplan 11, ist in erheblichem Maße zu kritisieren. Wir haben insbesondere drei Punkte anzumerken.
    Der erste Punkt soll verdeutlichen, welcher Geist in diesem Einzelplan steckt. Wir haben den Antrag gestellt, die zusätzliche Stelle für einen Staatssekretär im Bereich des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, die Herr Blüm beantragt hat, zu streichen. Wir stellen hier entgegen: Während Sie im Einzelplan 11 einem Schüler oder Studenten, der arbeitslos ist, die Mittel streichen, ihn also aus der Arbeitslosengeldzahlung hinausschmeißen, beantragen Sie, Herr Blüm, für sich die Stelle für einen zusätzlichen Staatssekretär in Ihrem Ministerium — obwohl Sie bisher mit dem vorhandenen Personal ausgekommen sind — , weil Sie als Vorsitzender der CDU in Nordrhein-Westfalen nicht mehr so viel Zeit für Ihre Arbeit im Ministerium aufbringen können und dafür Entlastung brauchen. Für uns ist das indirekte Parteienfinanzierung, die wir ablehnen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Hier möchte ich den Geist dieses Etats darstellen. Dem einzelnen Arbeitslosen wollen Sie das Geld aus der Tasche ziehen. Wenn es aber um Ihre Interessen geht, die Sie durchsetzen wollen, dann sind Ihnen Tausende von Mark nicht zu wenig.
    Zweitens. Sie haben in Ihrem Etat Fälle von Ausgrenzung. Sie führen mit Ihrem Etat nicht einen Kampf zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit, sondern Sie führen einen Kampf gegen die Arbeitslosen, indem Sie Leute aus dem Arbeitslosengeld ausgrenzen, wie ich das vorhin am Beispiel der Schüler und Studenten deutlich gemacht habe. Sie verlängern die Bemessungszeiträume und die Sperrfristen. Das heißt, Sie kämpfen gegen Arbeitslose und nicht gegen die Arbeitslosigkeit. Das ist das Wesentliche.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wir haben dem ein Programm entgegengestellt, wonach endlich der Bereich der Sozialhilfe und der Bereich der Arbeitslosenhilfe zusammengefaßt werden und unseren Bürgern eine bedarfsorientierte integrierte Grundsicherung in Höhe von 700 DM monatlich angeboten werden soll, bestehend aus dem Regelsatz und einer pauschalierten einmaligen Leistung.

    (Frau Limbach [CDU/CSU]: Eben haben Sie gesagt, 800 DM seien zuwenig!)

    — Bitte beruhigen Sie sich. Hinzu kommt eine Wohn-geldpauschale, so daß wir auf einen Gesamtbetrag von 1 050 DM kommen. Damit wären die Dinge einwandfrei und besser abgedeckt.
    Zum dritten wollen wir das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zentral angehen. Wir schlagen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit von 470 000 Jugendlichen ein Programm vor, nach dem einige Milliarden bereitgestellt werden sollen. Wir müssen entscheiden, was uns hier eine Abhilfe wert ist, und insbesondere fragen, ob Sie das tragen können und wollen.

    (Kolb [CDU/CSU]: Oder ob die das wollen!)

    Die Tatsache von 470 000 arbeitslosen Jugendlichen hängt unbedingt mit der Frage der Gewalt zusammen.

    (Beifall bei der GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Herr Blüm, machen Sie sich einmal darüber Gedanken, was Sie auf diese Weise produzieren und ob das eine vernünftige Sozialpolitik ist, wenn so viele Jugendliche in Arbeitslosigkeit verharren. Darunter sind 219 000 Jugendliche mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Hier bestehen Zusammenhänge.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Mehr Mobilität!)

    Während Sie von der CDU/CSU nach einer Verschärfung der Gesetze rufen, sind wir dafür, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß unsere Jugendlichen eine ordentliche Ausbildung erhalten und in sinnvollen Tätigkeiten beschäftigt werden können. Wenn das einmal Realität würde, wäre das Problem der Gewalt von allein gelöst.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Sie haben schon besser argumentiert! — Günther [CDU/CSU]: So einfach ist das!)

    — Herr Kolb, Sie wissen ganz genau, daß ich in der Gewaltfrage eine eindeutige Position habe, daß ich Zwillen, Vermummung und Molotowcocktails als Mittel zur Durchsetzung einer ökologischen Politik ablehne.
    Aber ich bin genauso entschieden dafür, daß man Sie an den Punkten anprangert, wo Sie Gewalt produzieren, indem Sie eine Sozialpolitik betreiben, die zum Himmel schreit.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dieter-Julius Cronenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Freiheit bedarf der sozialen Sicherung. Das ist für uns Liberale selbstverständlich. Soziale Sicherung, soziale Sicherheit können nicht auf Eigenverantwortung und auf Eigenvorsorge verzichten. Beides, Eigenverantwortung und Eigenvorsorge, sind geradezu eine Voraussetzung für Solidarität und für die Inanspruchnahme von Solidarität.
    Eine Sozialpolitik, die immer wieder neue Leistungen auf Kosten anderer, gar der nächsten Generation verspricht, eine Sozialpolitik, die so handelt, schafft kein Vertrauen; sie unterminiert das Vertrauen in die Politik.
    Die Diskussionen um die jetzt anstehenden Strukturreformen zeigen auch, daß Besitzstandsdenken



    Cronenberg (Arnsberg)

    überwiegt. Der Status quo wird mit Zähnen und Klauen verteidigt.
    Menschlich, meine Damen und Herren, ist das nachvollziehbar. Wenn Privilegien für einzelne Gruppen der Gesellschaft erkämpft und verteidigt werden, so kann man das verstehen. Falsch ist es trotzdem.
    Immer häufiger kommen aus beiden großen Parteien unter dem Deckmantel, sozial Gutes tun zu wollen, Forderungen, die im Grunde genommen Privilegienverteidigung sind. Ich möchte hier beispielhaft erwähnen: Da ist die Sonderregelung beim Kurzarbeitergeld für Stahlarbeiter, da ist die Zementierung der Knappschaftsversicherung — ich bin dem Kollegen Strube dankbar dafür, daß er sich bemüht hat, dieses Thema hier einmal anzusprechen, damit man sich in aller Objektivität darüber unterhalten kann —,

    (Egert [SPD]: Objektiv war das gerade nicht!)

    da ist die steuerliche Begünstigung von Jahreswagen, da sind vererbbare Sonderrenten für Nebenerwerbslandwirte. Ich könnte diese Liste fortsetzen. Alles steht unter dem Motto: Das Gute für mich, zahlen laß andere.

    (Zuruf des Abg. Peter [Kassel] [SPD])

    — Das Ergebnis, Kollege Peter, ist, daß wir unterschiedliche Strukturen bekommen, eine ZweiklassenArbeitnehmergesellschaft: Privilegierte in Großbetrieben — für die der Gesetzgeber bereit ist, etwas zu tun — und Benachteiligte in kleinen und mittleren Betrieben. Es ist mir manchmal unbegreiflich, wie in den Wahlversammlungen freitags und samstags das hohe Lied des Mittelstands gesungen wird

    (Günther [CDU/CSU]: Sonntags auch!)

    — sonntags auch, Kollege Günther — und mittwochs im Ausschuß und donnerstags im Plenum genau das Gegenteil beschlossen wird.

    (Zuruf von der SPD: Besonders bei der FDP! — Kolb [CDU/CSU]: Also machen wir ein gemeinsames Mittelstandsprogramm!)

    — Das, Herr Kollege Kolb, wäre in der Tat vernünftig.
    Wir müssen lernen, zwischen sozialpolitisch Wünschbarem und wirtschaftspolitisch Vertretbarem zu unterscheiden.

    (Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

    Geschieht das nicht, dann passiert das, was der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank Schlesinger zutreffend formuliert hat: Die Soziallast bremst das Wachstum, und unzureichendes Wachstum beeinträchtigt die Beschäftigung und dies wiederum erhöht die Soziallasten. Ein Circulus vitiosus.
    Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Wenn die Summe aller Abgaben — egal ob in Form von Steuern oder von Sozialversicherungsbeiträgen — immer weiter steigt, kommen wir zu einer Taschengeldgesellschaft. Die Abgaben sind dann letztendlich höher als das, was dem Bürger verbleibt. Das ist dann eben halt nur ein Taschengeld, für das zu arbeiten sich nicht lohnt.
    Um steigende Abgaben geht es auch bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Immerhin hat die erste AOK ihre Beiträge jetzt auf 16 To angehoben. Man muß sich bewußt machen, was das bedeutet. Das heißt, bis zu 680 DM werden pro Monat an Beiträgen abgeführt.
    Ich bitte um Ihr Verständnis, daß ich mich in den paar Minuten, die mir zur Verfügung stehen, ausschließlich bzw. schwerpunktmäßig mit dem Thema der Strukturreform im Gesundheitswesen beschäftigen möchte. Somit komme ich auf die anderen Probleme heute nicht zu sprechen.
    Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zunächst einmal feststellen: Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung — einer Pflichtversicherung, einer Zwangsversicherung — muß es sein, Notwendiges zur Heilung im Krankheitsfalle zu finanzieren und dort, wo eben möglich, zu helfen, Krankheit zu vermeiden. Beitragszahler und Wirtschaft — die Wirtschaft auch im Interesse der Beschäftigung — können verlangen, daß die vorhandenen Mittel effektiv und sparsam eingesetzt werden. Das bedeutet, wir müssen durch optimale Organisationsstrukturen alle Beteiligten — Versicherte wie Pharmaindustrie, Ärzte wie Apotheker, Kassen und Krankenhäuser, auch Gesundheitshandwerker — veranlassen, sich so zu verhalten, daß sich das Eigeninteresse des einzelnen mit dem Gesamtinteresse der Gesellschaft, der Solidargemeinschaft der Versicherten deckt.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Das kann und muß durch materielle Anreize für alle Beteiligten erreicht werden. Sie müssen zu vernünftigen Verhaltensweisen motiviert werden.
    Daß das möglich ist, hat die öffentliche Diskussion der letzten Wochen deutlich bewiesen. Die Vielzahl von zustimmenden, aber auch außerordentlich kritischen Protestbriefen beweist mir — da sie von allen Seiten kommen — , daß Leistungserbringer wie Versicherte sehr an der Diskussion interessiert sind, sich betroffen fühlen. Mit anderen Worten: Der Anspruch, alle müßten beteiligt sein, wird durchaus erfüllt. Man könnte geradezu sagen: Wenn alle schimpfen, sind auch alle beteiligt.
    Über die Notwendigkeit und Ursachen einer Reform des Gesundheitswesens möchte ich mich nur kurz äußern. Insbesondere demographische Entwicklung und — ich möchte das unterstreichen — erfreulicher medizinischer Fortschritt sind hierfür ursächlich.
    Meine Damen und Herren, wir Liberalen sind überzeugt, daß ein System, das immer mehr Dirigismus, immer mehr Bürokratie, immer mehr Planung braucht, keine Verbesserungen, sondern Verschlechterungen bringt. Deswegen, verehrter Herr Minister, lehnen wir Preisstopp und Zwangspreissenkungen konsequent ab.

    (Zustimmung bei der FDP — Lachen bei der SPD)

    Deswegen sind wir gegen Positivlisten und Preisabsprachen zwischen Großanbietern und Kassen. Deswegen sind mir persönlich Negativlisten ein Greuel.



    Cronenberg (Arnsberg)

    Wir wollen nicht, daß der Staat vorschreibt, zu welchem Arzt man gehen darf oder nicht. Wir wollen nicht, daß der Staat vorschreibt, welches Medikament man nehmen darf oder nicht. Wir wollen nicht, daß der Staat vorschreibt, wieviel Tage ich ins Krankenhaus muß oder darf.

    (Zuruf von der SPD: Das hat der Staat noch nie gemacht!)

    Wir wollen nicht, daß die individuellen Leistungen von Ärzten, Apothekern und anderen Heilberufen pauschal leistungsfeindlich abgedeckelt werden. Meine Damen und Herren, ein Blick über die Grenzen lehrt uns, was solche dirigistischen planwirtschaftlichen Methoden für freie Arztwahl und Therapiefreiheit bedeuten. Freie Arztwahl und Therapiefreiheit sind für uns Liberale unverzichtbare Elemente eines freiheitlichen Gesundheitssystems.

    (Beifall bei der FDP)

    Wir möchten deswegen immer und überall zunächst einmal durch Festzuschüsse eine ordentliche, notwendige Versorgung des Versicherten ermöglichen. Eine gesetzliche Krankenversicherung, eine Pflichtversicherung muß nicht jeden Luxus bezahlen,

    (Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

    sondern sich auf das Notwendige und Preiswerte — meine Damen und Herren, nicht auf das Billige —beschränken. Wenn Sie so wollen, heißt das nicht mehr und nicht weniger, als daß die Erstattung durch die Kassen nach oben begrenzt wird.
    Wer glaubt, darüber hinaus höhere Preise verlangen zu können, muß dieses Mehr von seinen Kunden, aber nicht von der Solidargemeinschaft der Versicherten holen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, natürlich weiß ich, daß ein solches System nur bei vergleichbaren Leistungen möglich ist. Aber ich versichere Ihnen, daß alle Bemühungen im Pharmabereich oder bei Hörgeräten, entsprechende Parameter aufzustellen, meine persönliche Unterstützung finden.
    Niemand kann bestreiten, daß dies marktwirtschaftliche Anreize zur Lösung von Teilproblemen sind. Was im Bereich der Heil- und Hilfsmittel und in weiten Bereichen von Medikamenten möglich ist, wird in anderen Bereichen schwer oder gar nicht zu praktizieren sein.
    Meine Damen und Herren, für den Erfolg der Strukturreform aber ist es entscheidend, daß wir auch in anderen Bereichen, auch im Krankenhaussektor, auf Dauer, verehrte Kollegen, Erfolg haben. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Das Selbstkostendekkungsprinzip, das de facto nach wie vor praktiziert wird, ist ein Grundübel. Es ist keine Kunst, Kosten zu produzieren, produzierte Kosten nachzuweisen und sich nachgewiesene Kosten erstatten zu lassen. Letztendlich, so meine ich, müssen die Kassen das Recht haben, für den Fall, daß eine ordentliche Versorgung in der Region sichergestellt ist, den Krankenhäusern Verträge zu kündigen und Neuabschlüsse nicht mehr vorzunehmen, und zwar dann, wenn die Pflegesätze zu Lasten der GKV zu hoch sind.
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich wegen der Kürze der Zeit in diesem Zusammenhang auch ein kurzes Wort zum Thema Pflege sagen. Ohne Zweifel bedarf das Thema Pflege einer ernsthaften Erörterung. Die gesetzliche Krankenversicherung darf aber nicht mit den Kosten von Dauerpflegefällen belastet werden. Dies würde das System der gesetzlichen Krankenversicherung, mit Beitragsmitteln finanziert, sprengen.

    (Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

    Beitragsmittel dürfen nur zur Erleichterung der häuslichen Pflege eingesetzt werden, soweit sie Krankenhausaufenthalte erspart bzw. den Krankenhausaufenthalt des zu Pflegenden verkürzt.
    Diese Haltung ist bei mir auch dadurch verfestigt, daß im Krankenhaussektor zur Zeit offensichtlich nur minimale Fortschritte zu erwarten sind. In anderen Bereichen sind Leistungseinschränkungen bei medizinisch nicht notwendigen Leistungen — z. B. beim Sterbegeld — vertretbar. Es versteht sich von selbst, daß durch eine wirksame — ich unterstreiche: wirksame — Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Ärzten sichergestellt sein muß, daß auch hier verantwortungsvoll gehandelt wird, so wie dies die meisten Ärzte meiner Feststellung nach auch schon jetzt tun.
    Lassen Sie mich aber gerade an dieser Stelle auf einen für uns unverzichtbaren und wichtigen Grundsatz aufmerksam machen. Es geht darum, daß der Vorrang für die Selbstverwaltung erhalten bleibt. Das, was die gemeinsame Selbstverwaltung von Kassen und Ärzten eigenverantwortlich und zum Wohle der Solidargemeinschaft in der Vergangenheit geregelt haben, soll die Selbstverwaltung auch in Zukunft eigenverantwortlich und ohne Eingriffe des Staates regeln. Das gilt auch für die Honorarpolitik.
    Noch besser als Heilen ist Krankheit vermeiden. Deswegen müssen für Vorsorge und Prophylaxe entsprechende Anreize geschaffen werden. Auch hier geht es nicht ohne Eigenverantwortung, ohne Eigenleistung.
    Meine Damen und Herren, eine Strukturreform ist nichts Populäres. Das wissen wir, da haben wir leidvolle Erfahrungen. Aber ich möchte die Kollegen der Opposition sehr herzlich bitten, unsere Bemühungen zur Sicherung des Solidarsystems nicht als Sozialabbau zu diffamieren. Sie wissen genauso gut, Frau Kollegin Fuchs, wie ich, daß ohne eine Strukturreform unser Gesundheitssystem,

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Dann fangen wir einmal bei der Pharma-Industrie an!)

    unser Krankenversicherungssystem den zukünftigen Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. — Frau Kollegin Fuchs, denken Sie einmal darüber nach, was die Festzuschüsse im Pharma-Bereich für diesen Bereich bedeuten. Sie werden Ihren Zwischenruf dann sicher zurückziehen.
    Wer dem Bürger vorgaukelt, es könne so weitergehen, handelt verantwortungslos. Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen der SPD mit allem Ernst und



    Cronenberg (Arnsberg)

    allem Nachdruck daran erinnern, daß sie schon vor Jahren richtigerweise erkannt haben, daß es ohne Einschnitte in diesem Bereich nicht geht, das System nicht aufrechtzuerhalten ist. Ich empfehle Ihnen dringend, zu den Erkenntnissen von vorgestern auch heute zu stehen. Wenn Sie gegen unsere Vorschläge wider besseres Wissen polemisieren, würden Sie der Solidargemeinschaft wie der Gesellschaft insgesamt schaden; aber das, so hoffe ich jedenfalls, ist doch nicht Ihre Absicht.
    Meine Damen und Herren, ein großer liberaler Ökonom, Walter Eucken, hat einmal festgestellt:
    Zwischen dem sozialen Willen vieler Menschen und den zur Lösung sozialer Fragen notwendigen Kenntnissen besteht oft eine Kluft. Es gibt eine große Zahl von Menschen, die ein echtes soziales Interesse haben. Aber es gibt nur wenige, die sich für die Frage der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtordnung interessieren.

    (Kolb [CDU/CSU]: Mitnahmeeffekte nennt man das!)

    Ich hoffe sehr, daß das für dieses Haus nicht zutrifft. Anders ausgedrückt: Ich wünsche mir, daß genügend Kollegen hier im Hause sind, die diese unverzichtbaren Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Leistungskraft und sozial Wünschbarem verstehen und entsprechend handeln. Für dieses Handeln möchte ich mich im voraus sehr herzlich bedanken.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)