Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch heute wurde der Petitionsausschuß zu Recht wieder als Kummerkasten und Notrufsäule bezeichnet. Es ist sicherlich die eine Seite, die private Seite unserer Arbeit, wenn sich Menschen an uns wenden, denen Behörden und Gerichte nicht zu ihrem Recht verhelfen, wie sie meinen. Von vielen großen und kleinen Hilfen, die der Petitionsausschuß — übrigens meistens mit sehr großer Mehrheit über die Parteigrenzen hinweg — den Petenten geben konnte, bleiben bei der Rückschau auf die Arbeit eines Jahres einige in Erinnerung.
Ich erwähne den spektakulären Unglücksfall eines jungen Mädchens, das beim Überqueren der Bahngleise von einem Triebwagenzug der Deutschen Bundesbahn erfaßt worden war. Ein Zugrad hatte ihren linken Unterschenkel zertrümmert — mit der Folge, daß er zehn Zentimeter unterhalb des Knies amputiert werden mußte. Zu dem Unfall war es gekommen, weil die Schülerin das Anfahren des Zuges im Bahnhof nicht bemerkte, als sie, 60 m vom Bahnhof entfernt, einen ungesicherten Bahnübergang betrat.
Es war sicher nicht einfach, nach abgeschlossenem Gerichtsverfahren in zwei Instanzen ein gutes Ergebnis zu erreichen. Es spricht für den Ausschuß und seine ehemalige Vorsitzende, daß in konzentrierter Arbeit gemeinsam vieles für die Verunglückte und deren Familie erreicht werden konnte, was zwar den Unfall nicht ungeschehen machte, wohl aber dessen Folgen erträglich gestaltete.
Aber auch ein solcher Fall von persönlicher Wiedergutmachung hat politische Dimensionen: Wieder einmal wurden wir auf die Gefahren bei unbeschrankten Bahnübergängen hingewiesen. Die Sicherheitssituation in diesem Bahnhof ist inzwischen entscheidend verbessert worden. Ähnliche Gefahrenquellen im Bereich der Deutschen Bundesbahn wurden überprüft.
In den letzten Jahren und auch heute wurde und wird sehr engagiert darüber diskutiert, wie politisch der Petitionsausschuß sein darf oder sein soll. Kann ein Ausschuß, der im Regelfall eine Stunde in der Woche — und dies noch frühmorgens — tagt, mehr tun als dem einzelnen in persönlichen Notlagen, bei Ungerechtigkeiten und Härtefällen Hilfe leisten? Kann er — um zwei Beispiele zu nennen — nach langen kontroversen Debatten im Sozialausschuß ein dort mit Mehrheit beschlossenes Gesetz zum Thema Arbeitslosigkeit oder zum Thema Streikrecht wieder aufgreifen, oder kann er eine Massenpetition zur Abrüstung sinnvoll behandeln? Er wird es wohl müssen, denn der Petent hat unabhängig davon, wie der Gesetzgebungszeitplan der Ausschüsse und des Plenums aussieht, ein Recht darauf, daß sein Thema auf die Tagesordnung gesetzt wird. Da aber der Petitionsausschuß kein Überausschuß sein kann und nach eigenem Selbstverständnis auch nicht sein will, resultiert seine Stärke auch aus einer weisen Selbstbeschränkung.
Bei vielen politischen Petitionen kommt es auf den richtigen Zeitpunkt der Eingabe an. Im Vorfeld von Gesetzesberatungen können Petitionen von Erfolg gekrönt sein, wie ein Beispiel aus dem Bundesfernstraßenbau zeigt: Als Verbindung zwischen Rhein und Bodensee war der großzügige Ausbau einer überlasteten Bundesstraße von zwei auf vier Streifen mit Standspuren geplant. Ein Teilabschnitt, eine dringend benötigte Ortsumgehung, stand kurz vor dem Baubeginn. Die Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht waren abgeschlossen, alle Einsprüche abgewiesen.
Teile der Bevölkerung demonstrierten gegen ein in ihren Augen überzogenes Bauvolumen und forderten eine generelle Neuplanung. Bewohner der lärmgeplagten Ortschaft hingegen forderten — ebenfalls in Demonstrationen — den sofortigen Baubeginn der Ortsumgehung. Beide Gruppen richteten Petitionen an Land und Bund. Ein gemeinsamer Ortstermin fand statt, und wir suchten nach tragbaren Lösungen.
Die gleiche Problemstellung ergab sich 150 km weiter südöstlich bei derselben Bundesstraße am Bodensee: auch hier die Forderung nach einem schnellen Bau der Ortsumgehung einerseits und andererseits der energisch vorgetragene Wunsch von Naturschützern, keine autobahnähnliche Straße zu bauen, um Natur und Landschaft zu erhalten; auch hier die Suche nach Lösungen in einem gemeinsamen Ortstermin — was übrigens für unsere Ausschußarbeit immer sehr zeitaufwendig ist.