Rede von
Dr.
Alfred
Mechtersheimer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute morgen hat die Sowjetunion nach einem langen einseitigen Moratorium einen zweiten Nukleartest durchgeführt. Das sollten wir als Lektion über verpaßte Chancen begreifen. Die beiden Supermächte hätten längst ein Abkommen über einen totalen Teststopp schließen können, wenn die USA dazu bereit gewesen wären.
Auch die Chance für eine Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen ist zeitlich begrenzt, denn das „Mondfenster" kann sich schneller schließen, als es derzeit scheint. Wer den Wettlauf zwischen den Kräften der Abrüstung und den Kräften der Aufrüstung gewinnt, ist noch völlig offen. Deshalb ist eine fraktionsübergreifende Gemeinsamkeit in dieser Frage sicher ein wichtiger Abrüstungsbeitrag.
Doch diese Übereinstimmung darf nicht auf Mythen aufbauen. Wenn eine Vereinbarung zustande kommen sollte, dann nicht, weil diese der Sowjetunion durch die NATO-Nachrüstung abgetrotzt worden wäre, sondern deshalb, weil Gorbatschow jene Vorleistungen erbringen will, die die Friedensbewegung von der NATO vergeblich gefordert hatte.
Abrüstung ist möglich, wenn eine Seite jenseits von Gleichgewichtsformeln selbst mehr anbietet, als sie der anderen Seite abverlangt.
Die Sowjetunion bietet derzeit 1 222 SS-20-Sprengköpfe gegen 216 und klammert zudem die britischen
und französischen Mittelstreckenraketen aus. Von
einem Erfolg der NATO-Nachrüstungspolitik kann eigentlich nur derjenige sprechen, der nachweisen kann, daß Gorbatschow wegen der Pershing II zum KP-Chef gewählt worden ist. Die Abrüstungschance ist die Folge des entschiedenen Abrüstungswillens von Gorbatschow und der wachsenden Abrüstungsbereitschaft der Bevölkerung, nicht zuletzt in der Bundesrepublik. Dazu hat die Friedensbewegung auf vielfältige Weise entscheidend beigetragen. Ich räume im übrigen gerne ein, daß auch die Friedensbewegung mit einer so weitreichenden Vorleistungspolitik der Sowjetunion nicht gerechnet hatte.
Wir stimmen der Forderung nach einem Anschlußabkommen über die Raketen kürzerer Reichweite zu, nicht nur wegen der sowjetischen Systeme, sondern auch deshalb, weil z. B. die 108 Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik nicht durch Pershing Ib kürzerer Reichweite ersetzt werden dürfen. Damit Abrüstung nicht durch Umrüstung unterlaufen wird, müssen nicht nur die 'Mittelstreckenraketen abgeschafft, sondern auch die Raketenverbände auf beiden Seiten aufgelöst werden.
Als konkreten Beitrag zur Verbesserung der Abrüstungschancen schlagen wir vor, daß die Weiterstationierung der Marschflugkörper im Sinne des NATO-Beschlusses, die bisher zur Hälfte erfolgt ist, sofort eingestellt wird. Damit würden die Chancen für ein Abkommen vergrößert.
Damit würde im übrigen auch der Abrüstungswille des Westens glaubhaft gemacht werden können. Was sollen Stationierungen von Flugkörpern, die kurze Zeit später wieder abgebaut werden sollen?
In der nächsten Woche wird bei der Stabsrahmenübung WINTEX/CIMEX mit großer Wahrscheinlichkeit der Einsatz von Pershing-II-Raketen simuliert werden. Sorgen wir dafür, daß aus diesem teuflischen Spiel niemals Ernst werden kann. Dann könnten die Bedingungen verbessert werden, die es möglich machen, daß Sie den Eid, den Sie heute morgen hier abgelegt haben, verwirklichen können.
Vielen Dank.