Rede von
Dr.
Hans
de
With
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Fritz Bauer, der spätere Generalstaatsanwalt in den Aufbaujahren in Frankfurt sich als ABC-Schütze in einer Prügelei seiner Haut wehren mußte, wurde ihm verächtlich zugerufen:
Du und deine Eltern, ihr habt Christus umgebracht!
Das war vor dem Ersten Weltkrieg. Es hat zeitlebens tief in ihm gesessen und hat mit dazu beigetragen, daß er sich der Justiz zuwandte. Er, der Getroffene, wollte für mehr Gerechtigkeit sorgen. Er, der stets Unbequeme, ist, wie wir wissen, nur mit viel Glück Hitler, dem KZ, und damit dem Tod entronnen.
Karl Jaspers hat im Wintersemester 1945/46 den Versuch unternommen, in eine Diskussion über die geistige Situation dieser Zeit zu kommen. Daraus ist das bekannte Bändchen „Die Schuldfrage" geworden. Dort findet sich der simple Satz:
All die Jahre haben wir das Verächtlichmachen anderer Menschen mit angehört. Das wollen wir nicht fortsetzen.
Das Verächtlichmachen haben wir — wir müssen es bekennen — nicht ausrotten können. Wir im Deutschen Bundestag haben erst jüngst mit der Gesetzesnovelle zur Auschwitz-Lüge — wenn auch in kontroverser Abstimmung, so doch einig in der Sache — versucht, juristisch die letzten Gesetzeslöcher zu stopfen. Wir haben dazu alles in allem immerhin von 1979, von Hans-Jochen Vogels erster diesbezüglicher Rede in Berlin bis 1985 benötigt; bis zur Verabschiedung in zweiter und dritter Lesung hier im Bundestag vor kaum einem Jahr.
Heute stehen wir im Grunde wieder vor demselben Thema, wenn auch erstmals ohne Gesetzesantrag. Aus berechtigter Sorge. Ich sehe Sinn in dieser Veranstaltung;
denn seit den Beratungen zur Auschwitz-Lüge ist einiges vorgefallen. Jeder weiß es.
Verächtlichmachen heißt, dem anderen die Achtung, seine Würde nehmen. Jeder weiß auch, daß den Juden erst die Würde und dann das Leben genommen wurde.
Insbesondere wir deutschen Politiker — es sollte unser Beruf sein — sind verpflichtet, immer und immer wieder schonungslos auf unsere Geschichte zu verweisen, um uns die Zukunft bewahren zu helfen.
Persönliche Schuld ist zu ahnden. Über kollektive Schuld, Schuld für alle und jeden, ist nicht mehr zu rechten. Scham jedoch müssen wir als Gesamtheit empfinden. Das Kainsmal des Holocausts lastet auf unserer Geschichte. Wir sollten unsere Verantwortung daraus begreifen, wann immer jeder von uns
geboren ist und in welcher Stellung er sich befindet.
Mit dem Wort begann es:
„Knallt ab den Walther Rathenau ..."
Ich möchte die zweite Strophe dieser tödlichen Verächtlichmachung nicht auch noch zitieren müssen. Wenig später lag dieser Außenminister der ersten Republik ermordet in seinem Blut.
Denen, die Unbedachtes leicht auf die Schulter nehmen; die rüffeln, das sei doch alles nicht so schlimm, rufe ich zu:
Nichts ist gleichgültig. Nichts geht verloren, alles, was wir tun oder nicht tun, kann unendliche Perspektiven haben. Keine Flucht kann auf die Dauer gelingen. Es kommt alles noch einmal zur Sprache.
So Gustav Heinemann; und er mußte es wissen. Vielen Dank.