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ID1019601000

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    Plenarprotokoll 10/196 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 196. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 5. Februar 1986 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Dr. Vogel 15137A Erweiterung der Tagesordnung 15137 B Zur Geschäftsordnung Seiters CDU/CSU 15137 B Porzner SPD 15138 C Wolfgramm (Göttingen) FDP 15139A Bueb GRÜNE 15139 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen — Drucksache 10/4989 — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Sicherung der Tarifautonomie und Wahrung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen — Drucksache 10/4995 — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Erhaltung der Streikfähigkeit der Gewerkschaften — Drucksache 10/5004 — Dr. Blüm, Bundesminister BMA 15140D, 15175 D Dr. Vogel SPD 15146A Scharrenbroich CDU/CSU 15150 B Schmidt (Hamburg-Neustadt) GRÜNE 15152C Cronenberg (Arnsberg) FDP 15154 B Glombig SPD 15156 C Hauser (Krefeld) CDU/CSU 15159C Tischer GRÜNE 15161 B Dr. Bangemann, Bundesminister BMWi 15163A Dreßler SPD 15166 C Seehofer CDU/CSU 15169 B Kolb CDU/CSU 15171 D Brandt SPD 15173 B Frau Fuchs (Köln) SPD 15177 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1986 — Drucksache 10/4990 — Günther CDU/CSU 15179A Heyenn SPD 15180 D Frau Dr. Adam-Schwaetzer FDP . . . 15182 B Dr. Müller (Bremen) GRÜNE 15184C Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 15185 D Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wirtschafts- und verbraucherrechtlicher Vorschriften — Drucksache 10/4741 — II Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Februar 1986 in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Roth, Rapp (Göppingen), Ranker, Oostergetelo, Stiegler, Dr. Schwenk (Stade), Bachmaier, Curdt, Fischer (Homburg), Huonker, Meininghaus, Müller (Schweinfurt), Pfuhl, Reschke, Stahl (Kempen), Vosen, Frau Weyel, Wolfram (Recklinghausen), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Wettbewerb und Verbraucherschutz im Einzelhandel — Drucksache 10/5002 — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Ladenschluß im Einzelhandel — Drucksache 10/5003 — Sauter (Ichenhausen) CDU/CSU . . . . 15188 B Dr. Schwenk (Stade) SPD 15189 D Dr. Graf Lambsdorff FDP 15191 C Auhagen GRÜNE 15193 C Erhard, Parl. Staatssekretär BMJ . . . 15195 C Senfft GRÜNE (Erklärung nach § 32 GO) 15196 A Nächste Sitzung 15196 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 15196 C Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Februar 1986 15137 196. Sitzung Bonn, den 5. Februar 1986 Beginn: 11.00 Uhr
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    Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Dr. Martiny-Glotz 5. 2. Müller (Schweinfurt) 5. 2. Frau Pack * 5. 2. Pauli 5. 2. Rappe (Hildesheim) 5. 2. Reimann 5. 2. Roth (Gießen) 5. 2. Schäfer (Mainz) 5. 2. Schmidt (Hamburg) 5. 2. Schreiner 5. 2. Schröder (Hannover) 5. 2. Sielaff 5. 2. Stobbe 5. 2. Stücklen 5. 2. Frau Dr. Timm 5. 2. Verheugen 5. 2. Voigt (Frankfurt) 5. 2. Voigt (Sonthofen) 5. 2. Dr. Warnke 5. 2. Frau Dr. Wilms 5. 2. Wischnewski 5. 2. Frau Dr. Wisniewski 5. 2. Dr. de With 5. 2. * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
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    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes regelt die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit im Arbeitskampf.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es!)

    Durch die Gewährung von Arbeitslosengeld darf nicht in Arbeitskämpfe eingegriffen werden. So bestimmt es der alte § 116 aus dem Jahre 1969, und genauso heißt es im dem Entwurf für einen neuen § 116, den wir heute diskutieren.
    Der § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes regelt nicht das Streikrecht, er regelt nicht die Aussperrung, sondern die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Er ist weder der Streik- noch der Aussperrungsparagraph, sondern der Neutralitätsparagraph. Er regelt auch nicht das Verhältnis der Zahl der Streikenden zur Zahl der Ausgesperrten. Er regelt lediglich die Zahlpflichten der Bundesanstalt im Arbeitskampf.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Beiträge, die Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach Nürnberg zahlen, brauchen wir, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und Arbeitslose zu unterstützen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Auch die Steuerzahler werden zur Kasse gebeten, wenn die Beitragszahlungen für diese Aufgabe nicht ausreichen. 1981 mußte der Bund über 8 Milli-



    Bundesminister Dr. Blüm
    arden DM zahlen, 1982 7 Milliarden DM, 1983 1,5 Milliarden DM. Das Geld in der Nürnberger Kasse ist weder das Geld der Gewerkschaften noch das Geld des Arbeitgeberverbandes. Deshalb kann es im Arbeitskampf weder für die eine noch für die andere Seite eingesetzt werden. Die Arbeitslosenversicherung ist eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und nicht eine Streik- oder Aussperrungsversicherung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Streikende — auch das muß festgehalten werden — haben deshalb nie Unterstützung durch das Arbeitsamt erhalten. Nie! So wird es auch bleiben. Das ist gar nichts Neues. Wenn es aber richtig und unbestritten ist, daß Streikende keine Unterstützung aus Nürnberg erhalten, dann können auch jene Arbeiter keine Unterstützung erhalten, für die die Streikenden gleich mitstreiken. Ein Stellvertreterstreik kann nicht öffentlich subventioniert werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es kann nicht richtig sein, wenn die Gewerkschaften mit zwei Gruppen einen Arbeitskampf um das gleiche Ziel führen, die eine Gruppe die Gewerkschaft bezahlt und die andere Gruppe die Bundesanstalt für Arbeit. Es wäre auch nicht richtig, wenn die Gewerkschaft streikt und — nehmen wir ein Beispiel — 7 500 Kolbenarbeiter bezahlt, von denen 98 % der deutschen Automobilfabrikation abhängig ist, und eine Million Automobilarbeiter und die Arbeiter ihrer Zulieferer durch die Bundesanstalt bezahlt werden. Das kann niemand mit gutem Gewissen wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das wäre in der Tat der Höhepunkt einer MinimaxTaktik: Mit minimalem Einsatz schieben die Gewerkschaften maximale Folgen in die allgemeinen Kassen. Das kann nicht im Sinne der Kampfparität gemeint sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Gewerkschaften können streiken, wie sie wollen, aber sie können nicht erwarten, daß wir für alle Folgen aufkommen. Gewerkschaften und Arbeitgeber sind nicht nur für Streikende und Ausgesperrte verantwortlich, sie können auch nicht vor den Folgen ihrer Arbeitskampftaktik die Augen verschließen und sagen: Dafür ist die Allgemeinheit zuständig. Das wäre eine Nach-uns-die-Sintflut-Gesinnung, und die ist unsolidarisch.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Unsere Antwort im Hinblick auf die Zahlpflichten der Bundesanstalt: für Stellvertreterstreik — so wie bisher — kein Geld. Für Arbeitnehmer, die am Ergebnis des Arbeitskampfes nicht partizipieren, entweder weil sie in einer anderen Branche arbeiten oder in derselben Branche, aber andere Ziele haben, wird es Unterstützung aus Nürnberg geben.
    Noch eine weitere Feststellung — auch zur Klärung der öffentlichen Diskussion —: Wenn Arbeitgeber überproportional aussperren und sich Arbeitnehmer dadurch provoziert fühlen, kann ich das sehr gut verstehen. Nur wird das nicht durch Bezahlung gutgemacht. Eine Sünde wird nicht durch Bezahlung zu einer Wohltat. Überproportionale Aussperrung wird nicht durch den § 116 geregelt. Solche Fragen müssen die Gerichte regeln. Dafür könnten auch neue Vereinbarungen zwischen den Tarifpartnern eine wichtige Hilfe sein. Der § 116 — ich wiederhole mich — kann nur die Frage der Bezahlung durch die Bundesanstalt regeln, aber nicht das Verhältnis Streik-Aussperrung.
    Noch eine weitere Feststellung: Nicht jede Arbeitseinstellung außerhalb des Streikgebiets ist eine sogenannte kalte Aussperrung. Wo Materialzufuhr wegen Streiks im Zulieferbetrieb ausbleibt, gibt es nichts zu arbeiten. Das hat noch nichts mit Aussperrung zu tun. Wo allerdings der Betrieb zumacht und nur Materialmangel vortäuscht, muß der Lohn weitergezahlt werden. Wir sind gegen Mißbrauch auf allen Seiten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Gegen Arbeitgebermanipulationen müssen Gerichte und Arbeitsämter mit aller Schärfe vorgehen. Die gesetzlichen Grundlagen dazu wollen wir verschärfen.
    Meine Damen und Herren, angesichts einer wirklichen Diskussionsverwirrung könnte es, glaube ich, hilfreich sein, die Geschichte dieses Neutralitätsparagraphen noch einmal in Erinnerung zu rufen:
    Erste Phase: Bis 1969 erhielten mittelbar streikbetroffene Arbeitnehmer gar keine Leistung. Es gab nur eine Härteregelung, die frühestens nach 14 Tagen zum Zuge kam. Trotzdem: Das Streikrecht begann nicht erst 1969. Wichtige, auch für die soziale Entwicklung unseres Landes wichtige Streiks fanden vor 1969 statt: 16 Wochen Streik in Schleswig-Holstein für Einführung der Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall.
    Zweite Phase: Der Entwurf eines Arbeitsförderungsgesetzes, den die Regierung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD vorgelegt hatte, schrieb diesen Rechtszustand fort. — Herr Brandt, ich empfehle diese Passage besonders Ihrer Aufmerksamkeit. — Er sah vor, daß grundsätzlich an mittelbar Betroffene, also von Fernwirkungen des Arbeitskampfes Betroffene, überhaupt kein Arbeitslosengeld gezahlt wird.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Dieser Entwurf ist mit der Unterschrift von Willy Brandt versehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Niemand redete von einer Zerschlagung des Streikrechts. Keine Demonstrationen der IG Metall, keine Protestversammlungen! Und von diesem Standpunkt sind wir meilenweit entfernt.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Der Bundesrat verlangte im damaligen Gesetzgebungsverfahren die Änderung der Vorlage. In der Stellungnahme der Bundesregierung zu dieser Vorlage hieß es — und jetzt zitiere ich, weil auch diese Antwort, Herr Brandt, Ihre Unterschrift trägt —:



    Bundesminister Dr. Blüm
    Die Gewährung von Arbeitslosengeld an Arbeitslose, die an einem Arbeitskampf nicht selbst beteiligt sind, deren Arbeitslosigkeit aber durch einen Arbeitskampf verursacht ist, würde die Bereitschaft dieser Arbeitslosen zur Solidarität stärken und damit den Arbeitskampf beeinflussen.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Sie würde daher ähnlich wie die Gewährung an unmittelbar beteiligte Arbeitnehmer die Neutralität der Bundesanstalt verletzen, deren Mittel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam aufgebracht werden. Die Arbeitslosenversicherung kann zudem wie jede Schadensversicherung ein derartiges Risiko nicht tragen. Bei einem Schwerpunktstreik könnten die Mittel der Bundesanstalt in wenigen Monaten erschöpft sein.
    gez. Willy Brandt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Dregger [CDU/CSU] und Seiters [CDU/ CSU]: Das haben die alles vergessen! — Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Wenn jetzt jemand sagt, die Verhältnisse hätten sich seit damals gewandelt: In der Tat, die Folgen eines Schwerpunktstreiks sind heute noch weitreichender als damals. Trotzdem nehmen wir nicht den Standpunkt ein, den die Regierung damals eingenommen hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Im weiteren Gesetzgebungsverfahren wurde 1969 im Bundestagsausschuß für Arbeit unter Vorsitz unseres verehrten Kollegen Adolf Müller eine bessere Regelung gefunden, als sie im Regierungsentwurf vorgesehen war. Danach ruht das Arbeitslosengeld nur dann, wenn der Arbeitskampf auf eine Änderung der Arbeitsbedingungen der mittelbar betroffenen Arbeitnehmer abzielt oder die Gewährung den Arbeitskampf beeinflussen würde. In diesen Fällen ruht es. In allen anderen Fällen wird es gezahlt.
    Nächste Phase: Schon zwei Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes gab es einen Streit über dieses Gesetz — Sie sehen, das ist gar nicht neu —, und zwar gab es einen Auslegungsstreit. Damals hat die Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit einen Beschluß gefaßt, und die Arbeitgeber haben gegen diesen Beschluß geklagt. Auch damals hat man die Entscheidungen der Gerichte nicht abgewartet, sondern hat sich an die Arbeit gemacht und eine Anordnung erlassen. Damals wie heute Unklarheit, damals wie heute Handlungszwang und nicht abwarten, bis die Gerichte entscheiden. So neu ist das alles nicht, bis auf den einzigen Unterschied: Damals regierte in Bonn die SPD. Deshalb waren die Gewerkschaften damals lammfromm, und heute sind sie protestwütend. Das ist der einzige Unterschied, so ist es.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Neutralitätsanordnung präzisierte dann 1973, zwei Jahre vor der Gerichtsentscheidung, was mit „abzielen" und „beeinflussen" zu meinen sei. Sie hat damals festgelegt, daß der Anspruch auf Arbeitslosengeld außerhalb des Kampfgebietes, aber im selben Fachbereich dann ruht, also nicht gezahlt wird, wenn nach Art und Umfang gleiche Forderungen erhoben werden. Die Neutralitätsanordnung, die das festlegte, wurde mit den Stimmen der IG Metall verabschiedet.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

    Sie definierte den Stellvertreterstreik und sah für den Stellvertreterstreik mit den Stimmen der IG Metall keine Leistungen vor.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das haben die alles vergessen)

    Sprecher der IG Metall bezeichneten die gefundene Regelung damals als Kompromißregelung, mit der sich durchaus leben lasse. Unterschied: Damals regierte in Bonn die SPD. Damals wurde nicht von Geiselnahme der Arbeitnehmer, sondern von einem Kompromiß gesprochen, mit dem sich leben lasse.
    Weitere Phase: Im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche kam es zu einem Auslegungsstreit über die Neutralitätsanordnung. Die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche war im ganzen Metallbereich die gleiche Forderung, und deshalb zahlte die Bundesanstalt keine Unterstützung. Sozialgerichte in Hessen bestritten die Gleichheit, weil es in den verschiedenen Tarifbezirken unterschiedliche Nebenforderungen neben der Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche gegeben hatte, obwohl jeder Arbeiter, der gestreikt hatte, für die 35-Stunden-Woche auf die Straße gegangen war. Dieses Sozialgericht in Hessen übersetzte den Begriff „gleich" mit „identisch". Da kann ich nur sagen: Kein Kommentar hat das bisher getan. Und wenn Identität gemeint gewesen wäre, hätte man auch gleich schreiben können, es wird immer gezahlt; denn Identität läßt sich durch Variation leicht auflösen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    In Bremen wurde zwar akzeptiert, daß die Anordnung mit „gleich" nicht „identisch" gemeint habe, aber Bremen äußerte im ersten Verfahren Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Neutralitätsanordnung.
    Jetzt frage ich Sie: Was muß eine verantwortliche Regierung tun: entweder die Neutralitätsanordnung durch eine Anordnung ersetzen, die nicht mehr angezweifelt wird, oder die notwendige Klarstellung, wenn das wegen mangelnden Konsenses in der Anordnung nicht gelingt, im Gesetz versuchen?
    Es gibt vier Gründe für diesen Handlungszwang:
    Erstens. Da es eine Auslegungsdifferenz über diese Vorschrift gibt, gibt es Rechtsunsicherheit. Ich denke, wir können diese Rechtsunsicherheit nicht bis zur letzten Klärung in der letzten Instanz bestehen lassen. Warum?
    Weil zweitens dies für die Arbeitnehmer auch ein großes Risiko bedeutet — worüber noch keiner gesprochen hat —, da die Sache in der ersten Instanz ja gar nicht entschieden ist, sondern die Leistungen lediglich unter Vorbehalt ausgezahlt worden sind



    Bundesminister Dr. Blüm
    und möglicherweise wieder zurückgezahlt werden müssen: 1 000 Mark, 2 000 Mark. Wollt ihr denn den Arbeitnehmern zumuten, daß sie bei kommenden Arbeitskämpfen bis zur letzten Entscheidung der Gerichte immer mit dem Risiko leben müssen, daß sie die Leistungen der Bundesanstalt nur unter Vorbehalt bekommen? Was ist daran eigentlich arbeitnehmerfreundlich?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Drittens. Wenn berechtigte Zweifel an der Rechtsgültigkeit der Anordnung bestehen — und sie wurden nicht nur von Bremen, sondern auch von unserem Gutachter geäußert —, dann wird die Rechtsgültigkeit nicht durch ein Gericht hergestellt, dann müssen wir sie herstellen. Ein Fundament wird nicht dadurch sicherer, daß das Haus renoviert wird. Das Fundament muß dann gesichert werden, und das machen wir jetzt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich will noch einen weiteren Grund hinzufügen: Dieser Grund hat schon in der Geschäftsordnungsdebatte eine Rolle gespielt. In der Öffentlichkeit wird an einer massiven Desinformationskampagne über die angeblichen Ziele der Bundesregierung gearbeitet. Arbeiter werden mit Falschmeldungen — mit Falschmeldungen! — auf die Barrikaden getrieben. Falschmeldungen über unsere angeblichen Absichten sind nur dadurch zu korrigieren, daß wir unsere tatsächlichen Absichten schwarz auf weiß in ein Gesetzgebungsverfahren einbringen, und da muß jeder zur Wahrheit Stellung nehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Bundesregierung hat versucht, einen Konsens der Sozialpartner über die nötigen Klärungen herbeizuführen. Hier gibt es kein Schnellverfahren. Es geht um einen Konsens. Es hat beträchtliche Annäherungen gegeben. Wenn die Gewerkschaften den Fortschritt und ihren Anteil daran, der in diesen Gesprächen erreicht wurde, jetzt leugnen, dann stellen sie ihr eigenes Licht unter den Scheffel. Wir haben wichtige Klarstellungen erreicht, die auch im Interesse der Arbeitnehmer sind, und es gab Gewerkschafter, die diese Klarstellung sogar gelobt haben. Inzwischen scheint das aber zum Betriebsgeheimnis des DGB erklärt worden zu sein.
    Ich will deshalb doch noch einmal festhalten, worin die Klarstellungen bestehen.
    Außerhalb des Fachbereichs wird immer — immer! — Kurzarbeitergeld bezahlt. Das stand bisher nicht im Gesetz; das ergab sich aus der Anordnung. Aber die Anordnung war ja gerade in Zweifel geraten. Wenn wir das jetzt ins Gesetz schreiben, ist das mehr Rechtssicherheit für die Arbeitnehmer. Und ich wiederhole es, damit es die Kolleginnen und Kollegen draußen hören: Es wird außerhalb des Fachbereichs immer gezahlt!
    Wenn beispielweise bei Opel das Blech ausgeht, weil bei Hoesch gestreikt wird, erhalten die Opelarbeiter weiter Kurzarbeiterunterstützung, ohne Rücksicht darauf, was sie fordern, weil sie einem anderen Fachbereich, einer anderen Branche angehören. Fragen Sie einmal die Opelarbeiter — 5 000 sollen es gewesen sein —, wer von den 5 000 gestern gewußt hat, daß er weiter Kurzarbeitergeld bekommt! Ich bin sicher, keiner von den 5 000 hat es gewußt, weil die IG Metall wider besseres Wissen verschweigt, was in unserem Gesetz steht. Wider besseres Wissen!

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wenn bei Thyssen die Stahlproduktion ruht, weil gestreikt wird, erhalten die Werftarbeiter in Bremen weiterhin ohne Rücksicht darauf, was sie fordern, Kurzarbeiterunterstützung, weil sie einer anderen Branche angehören. Fragen Sie die Werftarbeiter in Bremen, die gestern protestiert haben, ob sie es gewußt haben! Nein. Es ist ihnen verheimlicht worden, weil es nicht in Ihr Verteufelungskonzept paßt.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Und wenn bei Mercedes gestreikt wird, erhalten die Reifenarbeiter bei Conti, wenn ihnen die Arbeit ausgeht, weiterhin eine Leistung, weil sie einer anderen Branche angehören. Fragen Sie die Arbeiter in Hannover, ob sie das gewußt haben! Auch ihnen wurde das vorenthalten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Überhaupt nichts ändert sich für viele Bereiche, in denen es bundesweite Tarifverträge gibt, beispielweise in der Druckindustrie, in der ledererzeugenden Industrie, im Bauhauptgewerbe, bei Bahn und Post, in der Schiffahrt, im Versicherungsgewerbe, bei den Gebietskörperschaften, im öffentlichen Dienst.
    Dennoch werden alle auf die Barrikaden geschickt mit der Unwahrheit, die Bundesregierung wolle jegliches Kurzarbeitergeld absperren. Das ist die Unwahrheit!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Was wir festlegen, ist: Im Kampfgebiet gibt es wie bisher — es ist auch nie gefordert worden — keine Zahlung. Umstritten ist nur jener Mittelbereich: In der gleichen Branche außerhalb des Fachgebietes ruhen die Leistungen dann, wenn gleiche Forderungen gestellt werden, wenn ein Stellvertreterstreik geführt wird. Wir haben nur den Begriff Gleichheit gegen den Identitätsbegriff abgesperrt und gesagt, es können nicht alle 30 Forderungen verglichen werden, sondern es geht um die Forderung, für die gekämpft wird, die Hauptforderung. Das ist die ganze Änderung, eine Klarstellung, daß wir nur einen Vergleich der Hauptforderung vornehmen und daß mit Gleichheit nicht Identität gemeint ist. Wegen dieser minimalen Veränderungen wird ein Kreuzzug ausgerufen. Da kann es nicht um die Sache gehen, da geht es entweder um die Ablenkung von gewerkschaftlichen Verlegenheiten oder um Wahlkampfhilfe für die SPD. So einfach ist das.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




    Bundesminister Dr. Blüm
    Noch eine wichtige Klarstellung.

    (Abg. Suhr [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — Nein, ich werde meinen Vortrag im Zusammenhang ausführen.
    Noch eine wichtige Klarstellung, die den Arbeitnehmern ebenfalls vorenthalten und die geheimgehalten wurde. Sie können sie in keiner Gewerkschaftszeitung lesen. Es handelt sich um die Klarstellung: Arbeitgeber können den Streik in einem anderen Gebiet — also nicht bei sich — nicht zum Vorwand nehmen, die Arbeit einzustellen, denn die IG Metall hat in einer für mich eindrucksvollen Dokumentation dargelegt, die Arbeit sei in einer Mehrzahl von Fällen, in denen sie wegen angeblichen Materialmangels eingestellt worden war, sofort bei Streikende oder sogar noch früher wieder aufgenommen worden. Da liegt der Verdacht nahe, daß die Arbeit entweder zu früh eingestellt oder auch nur unter Vorwand eingestellt wurde. Die Heinzelmännchen konnten j a das Material nicht inzwischen beschafft haben.
    In unserem Gesetzentwurf wird die Nachweispflicht für die Arbeitgeber verstärkt, daß tatsächlich ein Zusammenhang zwischen dem Streik und der Kurzarbeit besteht. Außerdem muß eine Stellungnahme des Betriebsrates eingeholt werden. Das ist, wie ich glaube, ein Beitrag nach jeder Seite hin, die Neutralität zu sichern.
    Wir konnten keine Lösung anbieten, in der jeder Beurteilungsspielraum ausgeschlossen ist. Das hätte es nur für Extremlösungen gegeben — Extremlösung: es wird nie gezahlt, oder Extremlösung: es wird immer gezahlt —; beides wollten und konnten wir nicht. Wir haben aber Umgehungstatbestände abgeschnitten und insofern auch einen Beitrag geleistet, die Neutralitätsregelung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber berechenbarer zu machen.
    Meine Damen und Herren! Ich bin 35 Jahre lang Mitglied der IG Metall.

    (Pfui-Rufe bei der SPD — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Da ruft einer „Pfui"! Der soll sich schämen!)

    Aber so etwas an Verzerrung, Verteufelung, Verunglimpfung habe ich in meiner 35jährigen Mitgliedschaft in der IG Metall noch nicht erlebt. Ich will das gerne beweisen. Es ist einfach unwahr, wenn der DGB so tut, als hätte es in der Vergangenheit immer Leistungen gegeben und als gäbe es das in Zukunft nicht mehr. Weder das „immer", noch das „nie" stimmt. Es ist eine glatte Unwahrheit, wenn der DGB in seinem Referentenmaterial vom Dezember 1985 behauptet — ich lese es Ihnen vor —: „Kurzarbeitergeld soll kalt ausgesperrten Arbeitnehmern grundsätzlich und überall verweigert werden." Eine eklatante Unwahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Pfui-Rufe bei der CDU/CSU)

    Der DGB hat im Gespräch mit der CDA die Korrektur dieser Unwahrheit zugesagt, er hat sie zugegeben, aber im Januar die Unwahrheit mit anderen Worten wiederholt.
    Franz Steinkühler hat unseren Entwurf schon als Anschlag auf die Verfassung verurteilt, als dieser noch gar nicht da war. Er konnte sich in seinem Übereifer gar nicht halten. Ich wußte noch nicht einmal, wie der Entwurf aussieht, da wußte er schon, daß er ein Anschlag auf die Verfassung sei. Da sieht man den ganzen Fanatismus, mit dem hier gekämpft wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die ÖTV verteilt in Bonn Flugblätter an die Bonner, in denen steht, daß im zukünftigen Tarifkampf außerhalb des tatsächlich umkämpften Fachbereichs kein Kurzarbeitergeld mehr gezahlt wird. Wer es schwarz auf weiß in unserem Gesetzentwurf liest, weiß, daß das Gegenteil richtig ist und daß das eine Unwahrheit ist.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Lüge ist das!)

    100 000 Unterschriften überreichten die IG Metaller am vergangenen Freitag dem Bundesrat, 100 000 Unterschriften, die mit der Behauptung zustande gekommen waren, daß es außerhalb des Kampfgebietes in Zukunft kein Kurzarbeitergeld mehr geben soll. Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Das sind 100 000 Arbeitnehmerunterschriften gegen einen Phantomgegner. Da sind 100 000 Arbeitnehmer mit falschen Behauptungen zu Unterschriften bewegt worden. Das ist hunderttausendmal Arbeiterverdummung, nichts anderes als Arbeiterverdummung.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    „Den Anstand wahren", ließ Johannes Rau verkünden. Mit der Wahrheit wären wir schon zufrieden.

    (Erneuter lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)

    Ich schlage vor: Johannes Rau soll seine Anzeigen so lange in den Gewerkschaftszeitungen veröffentlichen, bis die Gewerkschaften endlich an Stelle von Regierungsdiffamierung Arbeitnehmerinformation setzen. So lange soll er die Anzeigen dort erscheinen lassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Krone der Falschmeldung — sie ist fast humoristisch zu nehmen — fand sich allerdings im „Sozialdemokratischen Pressedienst" vom 30. Januar 1986. Das will ich jetzt zitieren — das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen —:
    Als Auswirkung der Neuregelung werden künftig wesentlich weniger streikende Arbeitnehmer Kurzarbeitergeld erhalten als nach geltendem Recht.
    Ich denke, ich muß zweimal lesen. Nach geltendem
    Recht erhält überhaupt kein Streikender Kurzarbeitergeld. Wenn man überhaupt kein Geld erhält,



    Bundesminister Dr. Blüm
    kann man auch nicht weniger Geld bekommen, oder?

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Null können Sie doch nicht weiter reduzieren. Es gab bisher keine Unterstützung. Es kann also auch nicht weniger Unterstützung geben.

    (Zurufe von der SPD)

    Ich will hinzufügen, meine Damen und Herren: Wir lassen uns von niemandem von der Bahn der Sachlichkeit abbringen,

    (Zurufe von der SPD)

    schon gar nicht, wenn unsere Gegner mit falschen Behauptungen arbeiten. Ich würde in der ersten Reihe der Demonstranten mitmarschieren, wenn das stimmen würde, was SPD und Gewerkschaften über die Regierung behaupten. Insofern kann ich die Erregung der Arbeitnehmer verstehen. Mein Vorwurf richtet sich nicht an die demonstrierenden Arbeitnehmer; mein Vorwurf richtet sich an die Verantwortlichen in SPD und Gewerkschaften, die mit falschen Behauptungen den guten Glauben der Arbeitnehmer mißbrauchen.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Zur sachlichen Diskussion sind wir jederzeit bereit. Das Gesetzgebungsverfahren bietet dazu Möglichkeiten, Einwände vorzutragen, bessere Vorschläge zu machen. Der DGB ist wie alle anderen — aber ausdrücklich auch der DGB — eingeladen, bessere Vorschläge zu machen, konkrete Vorschläge, wie man die Neutralität besser sichern kann. Unsere Offenheit, besseren Formulierungen Platz zu machen, ist unbegrenzt. Unbeirrt ist jedoch auch unsere Entschlossenheit, die Neutralität der Bundesanstalt im Arbeitskampf gegen jedermann zu sichern.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir diskutieren heute über die Folgen für jene Arbeitnehmer, die durch Streik oder Aussperrung in Mitleidenschaft gezogen wurden, obwohl sie selber nicht streiken. Wir diskutieren also über die Folgen, nicht über die Ursachen. Vielleicht ist diese Diskussion auch nur eine Ersatzdiskussion. Das eigentliche Problem kann nicht mit der Reparatur der Folgen gelöst werden. § 116 kommt überhaupt erst zum Zuge, wenn die Ursache Arbeitskampf bereits gewirkt hat. Das ist die Situation, wenn das Kind im Brunnen liegt.
    Damit kein Mißverständnis entsteht: Ich bin ein energischer Verfechter des Streikrechts. Es gehört zu unseren elementaren Freiheitsrechten.

    (Hört! Hört! bei der SPD)

    Aber, so frage ich, hat ein Schwerpunktstreik im Jahre 2000 nicht doch andere Auswirkungen als im Jahre 1950? Hat eine Aussperrung, auch als Mini-max angesetzt, nicht möglicherweise auch weiterreichende Folgen als vor 30 Jahren? Auf beiden Seiten wächst die Angst, der jeweils andere könnte einen mit wenigen Handgriffen schachmatt setzen.
    Es stimmt: Das Potential der Vernichtung wächst. Eine Aussperrung, an Schlüsselpositionen eingesetzt, wirkt wie ein kleines brennendes Zündholz, mit dem ein großer Flächenbrand entzündet werden kann. Ein Streik, an den Schaltstellen der Wirtschaft angesetzt, wirkt anders als ein Punktstreik vergangener Zeiten. Früher war der Punktstreik das Warnsignal, daß es jetzt ernst wird. Heute kann er wie ein Schneeball wirken, der eine Lawine in Gang setzt. Eine verflochtene Wirtschaft läßt sich mit geringeren Mitteln aushebeln, als dies in früheren Zeiten der Fall war; sie läßt sich von beiden Seiten mit geringeren Mitteln aushebeln. Wäre es da nicht an der Zeit, daß die Tarifpartner unter sich neue Spielregeln ausmachen und sich durch Vereinbarungen wechselseitig die Angst nehmen, vom anderen vernichtet zu werden?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Der Staat kann und will nicht an die Stelle der Tarifpartner treten. Er will auch ihre Arbeitskampfregeln nicht gesetzlich festlegen. Aber der Staat ist zuständig dafür, wie öffentliches Geld ausgegeben wird, denn dieses Geld, das Geld der Bundesanstalt, basiert auf gesetzlich festgelegten Pflichtbeiträgen, denen sich der einzelne gar nicht entziehen kann und die im Bedarfsfall mit staatlichen Zuschüssen ergänzt werden. In der Finanzierung von Arbeitskämpfen und ihren Folgen kann es deshalb — ich wiederhole das noch einmal — keine „Minimax"-Arbeitsteilung zwischen den Sozialpartnern auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite geben. Das wäre eine bequeme „Minimax"-Arbeitsteilung: die Sozialpartner bezahlen den minimalen Einsatz, und die Allgemeinheit zahlt die riesigen Folgen.
    Die Gewerkschaften bestimmen mit ihrer Streiktaktik, wieviel Arbeitnehmer ohne Unterstützung aus Nürnberg auskommen müssen. Die Gewerkschaften können streiken, wie sie wollen, aber sie können nicht verlangen, daß alle Streikfolgen vom Staat bezahlt werden. Man darf nicht an Schlüsselstellen mit wenigen Arbeitnehmern streiken, ohne sich darum zu kümmern, daß dann Hunderttausende keine Arbeit haben. Auch die Gewerkschaften haben Verantwortung für die Folgen ihres Handelns. Das gleiche gilt für die Arbeitgeber. Eine rücksichtslose Aussperrungspraxis verstößt gegen den Geist der sozialen Partnerschaft.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Angriffsaussperrung steht im Widerspruch zur Partnerschaft. Von Aussperrung werden Menschen betroffen, die arbeiten wollen. Das unterscheidet Ausgesperrte von Streikenden. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit setzt der Aussperrung enge Grenzen.
    Wir brauchen auf beiden Seiten, bei Gewerkschaften und Arbeitgebern, Augenmaß und Verantwortung. Beide Seiten brauchen sich. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen. Wir brauchen starke, funktionsfähige Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände. Beide haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl. Anstatt auf den Gesetzgeber einzuschlagen, sollten



    Bundesminister Dr. Blüm
    beide ihre Hausaufgaben erledigen und sich über die Beseitigung der Ursachen verständigen. Um so leichter haben wir es dann, für die Folgen eine befriedigende Regelung zu finden.
    Der Staat muß die Neutralität der öffentlichen Institutionen wahren. Es wäre eine Art von staatspolitischer Feigheit, wenn er dieser Aufgabe ausweichen würde, nur weil mächtige Verbände zum Widerstand aufrufen. Das wäre die Kapitulation des Staates.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Der Staat ist kein Versandhaus der Gefälligkeiten, und eine Regierung ist nicht die Ausführungsbehörde von Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften. Wir wollen den Dialog und die Zusammenarbeit. Die Verantwortung kann allerdings niemand dem Parlament abnehmen. Deshalb hat jetzt das Parlament das Wort.

    (Lebhafter langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Regierungserklärung, die wir soeben gehört haben, war wortreich und polemisch.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sie war sachlich! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das stand im Konzept!)

    Die Regierungserklärung hat den schweren Sozialkonflikt, den diese Bundesregierung grundlos vom Zaun gebrochen hat, nicht gemildert; sie hat diesen Sozialkonflikt weiter verschärft.

    (Beifall bei der SPD)

    Es ist aber auch deutlich geworden: Was die Koalition, was die Bundesregierung für einen politischen Spaziergang hielt, ist zum politischen Spießrutenlaufen geworden — vor allem für Sie, Herr Kollege Blüm.

    (Beifall bei der SPD)

    Zum Spießrutenlaufen für den Gewerkschafter Blüm, den viele Arbeitnehmer einmal für ihren Sachwalter gehalten haben, für den Kollegen Blüm, dem sie vertrauten. Dieses Vertrauen, Herr Kollege Blüm, haben Sie in diesen Tagen und Wochen endgültig verloren.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Aus Vertrauen und Respekt sind bittere Enttäuschung und offene Ablehnung geworden, und zwar bis in Ihre eigenen Sozialausschüsse hinein.
    Worum geht es heute? Es geht nicht um die Rechtslage vor 1969; es geht nicht um die Vergangenheit; es geht um die Gegenwart. Es geht darum, wie sich Streik und Aussperrung, wie sich Arbeitskämpfe auf die Ansprüche auswirken, die Millionen von Arbeitnehmern durch ihre Beitragszahlungen gegen die Arbeitslosenversicherung erworben haben.
    Sie sagen, diese Frage sei offen; Sie sagen, diese Frage müsse geregelt werden; Sie sagen, es bestehe Handlungsbedarf. Das ist nicht nur abwegig, es ist falsch. In Wahrheit ist diese Frage durch das geltende Recht und die Neutralitätsanordnung klipp und klar geregelt.

    (Beifall bei der SPD)

    Diese Regelung, die seit Jahr und Tag gilt, besagt: Erstens. Wer streikt oder ausgesperrt worden ist, verliert seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Zweitens. Wer infolge eines Arbeitskampfes arbeitslos wird, ohne daß er selbst am Arbeitskampf beteiligt ist, verliert seinen Anspruch nur, wenn die Gewerkschaften für seinen Tarifbereich nach Art und Umfang gleiche Forderungen erhoben haben wie für die am Arbeitskampf Beteiligten.
    Diese Regelung hat sich bewährt. Sie ist bei allen bisherigen Arbeitskämpfen angewendet worden, auch bei dem großen Arbeitskampf in der Metallindustrie im Jahre 1978. Diese Regelung wollen Sie ändern. Sie wollen sie ändern zu Lasten der Arbeitnehmer — nicht zu Lasten einiger Funktionäre, sondern zu Lasten aller Arbeitnehmer;

    (Beifall bei der SPD)

    und nicht nur zu Lasten der Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch und vor allem zu Lasten der nichtorganisierten Arbeitnehmer.

    (Beifall bei der SPD)

    Ihr Entwurf sagt: Arbeitnehmer, die selbst nicht streiken, die aber arbeitslos werden, weil ihre Unternehmensleitung den Betrieb im Zusammenhang mit einem Arbeitskampf stillegt, sollen ihre Ansprüche schon dann verlieren, wenn für sie eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung nach Art und Umfang annähernd gleich ist.
    Sie wollen damit die Zahl der Fälle, in denen versicherte Arbeitnehmer keine Leistungen erhalten, zehntausend-, ja hunderttausendfach vermehren.

    (Beifall bei der SPD)

    Zehntausende, ja, in großen Arbeitskämpfen Hunderttausende von Männern und Frauen, die nach der geltenden Regelung Arbeitslosengeld erhalten würden, sollen in Zukunft kein Arbeitslosengeld mehr bekommen; sie sollen schlechterstehen als bisher. Sie sollen — und dies ist ein Punkt, auf den man die Aufmerksamkeit der Arbeitnehmer mit besonderem Nachdruck lenken muß — nach Ablauf einer Karenzfrist auch den Krankenkassenschutz verlieren oder sich in einer Zeit, in der sie weder Lohn noch Leistungen erhalten, auf eigene Kosten bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse weiterversichern.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!)




    Dr. Vogel
    Die Arbeitnehmer sollen auf ihre Ersparnisse und — wenn diese aufgezehrt sind — auf das Sozialamt angewiesen sein. Das ist die Realität!

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der SPD: Unerhört!)

    Sie können sagen, was Sie wollen, Herr Kollege Blüm: Das, was ich soeben beschrieben habe, ist der Zweck der Übung. Denn es gibt doch zwangsläufig viel mehr Fälle, in denen eine Hauptforderung annähernd gleich ist, als Fälle, in denen die, also alle Forderungen nach Art und Umfang gleich sind.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

    Die Beunruhigung unter den Arbeitnehmern kommt nicht von irgendwelchen Flugblättern, sondern sie kommt daher, daß die Arbeitnehmer diese Wahrheit inzwischen begriffen haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Ihre Änderung bedeutet aber nicht nur eine massive Verschlechterung für den einzelnen Arbeitnehmer; sie bedeutet auch, daß viele Arbeitnehmer, die künftig den Verlust ihrer Ansprüche befürchten müssen, die Gewerkschaften bedrängen werden, für ihren Bereich keine Forderungen zu erheben oder es jedenfalls nicht zum Streik kommen zu lassen.
    Herr Kollege Blüm, wissen Sie übrigens noch, was Sie selbst dazu im Jahre 1979 in Ihrem Buch „Gewerkschaften zwischen Allmacht und Ohnmacht" geschrieben haben?

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Es lohnt sich, das heute zu lesen!)

    Dort heißt es z. B. auf Seite 105 wörtlich — nun Originalton Blüm —:

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Damals!)

    Unbeteiligte Arbeitnehmer dürfen nicht zum Mittel degradiert werden, den Streikwillen zu brechen.

    (Beifall bei der SPD — Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Gerade das, Kollege Blüm, tun Sie mit Ihrem Entwurf.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat er immer noch nicht kapiert! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Zwischen dem Blüm von 1979 und dem Blüm von heute liegen Welten. Der Blüm von heute degradiert, nein, der enteignet die Nichtorganisierten genauso wie die Gewerkschaftsmitglieder.

    (Beifall bei der SPD)

    Denn, Herr Kollege Blüm, mit Ihrem Entwurf nehmen Sie den Arbeitnehmern ihre durch eigene Beiträge wohlerworbenen Rechte, obwohl die Arbeitnehmer weder auf die Stillegung ihres Betriebes — die Unternehmensleitungen fragen die Arbeitnehmer nicht — noch auf die Forderungen der Gewerkschaften einen rechtlich relevanten Einfluß haben.

    (Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Er will es nicht verstehen! Sie kapieren das nicht!)

    Außerdem werden betroffene Gewerkschaftsmitglieder von ihrer Gewerkschaft auch materielle Unterstützung fordern. Das alles bedeutet natürlich eine Schwächung der Gewerkschaften. Es bedeutet eine Verschiebung der Gewichte, eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zuungunsten der Arbeitnehmer. Das ist das Motiv!

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Auch diese Folgen, Herr Kollege Blüm, sind gewollt und beabsichtigt. Sie versuchen, das wortreich zu vernebeln. Sie sagen — Sie haben es heute wieder getan —, dem einzelnen werde nichts genommen. Aber warum warnt dann der Deutsche Städtetag vor den zusätzlichen hohen Sozialhilfelasten, die er durch Ihren Entwurf auf die Städte zukommen sieht, und zwar mit den Stimmen der Unionsangehörigen im Deutschen Städtetag und seinem Präsidium?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Sie sagen — Sie sagten es heute wieder —, es bestehe Rechtsunklarheit, die Sie beheben wollten. Wie eigentlich? Herr Kollege Blüm, ist „annähernd gleich" klarer als „nach Art und Umfang gleich"? Ist eine „Hauptforderung" klarer als „die Forderungen"? Wenn in einem Bezirk 4 % mehr Lohn verlangt werden und in einem anderen Bezirk 5 %, ist das dann „annähernd gleich"? Wo ist da die Rechtsklarheit? Herr Kollege Blüm, daß Sie sagen — das Schreiben selbst die konservativen Blätter —, Ihre Fassung erhöhe die Rechtssicherheit, ist ein Hohn; das paßt eher in eine Büttenrede als in einen Gesetzentwurf.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

    Außerdem: Wenn etwas unklar ist, Herr Kollege Blüm, wenn wirklich etwas unklar wäre, warum lassen Sie dann eigentlich nicht die Gerichte entscheiden, warum setzen Sie sich an die Stelle der Gerichte? Ihre Behauptung, die Sie hier gerade vorgetragen haben, wir hätten 1973 das gleiche getan, ist falsch. Wir haben damals das Gesetz gerade nicht geändert, und Sie wollen das Gesetz ändern. Sie wissen doch, daß Ihre Darstellung falsch ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht 1978 eine Verfassungsbeschwerde der Arbeitgeber als unzulässig zurückgewiesen. 1984 hingegen haben die Gerichte die Beschwerden der Gewerkschaft für begründet erklärt. Warum erläutern Sie diesen Unterschied nicht, wenn Sie von Rechtsklarheit sprechen?

    (Beifall bei der SPD)

    Sie sagen, es sei eine stärkere Verflechtung der Wirtschaft eingetreten, und die Gewerkschaften hätten eine neue Taktik. Herr Kollege Blüm — nun spreche ich den Metaller Blüm an —, was hat sich eigentlich gegenüber 1978 geändert? In Ihrem wirklich lesenswerten Buch, dem ich gerade jetzt eine besonders weite Verbreitung wünsche,

    (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Sehr gut!)




    Dr. Vogel
    setzen Sie — Blüm — noch 1979 das Wort Schwerpunktstreik in Anführungszeichen und schreiben dann weiter, Schwerpunktstreik sei ein Begriff der Arbeitgeber, den Sie sich nicht zu eigen machen wollten. Herr Blüm, das war 1979.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Nein, lieber Kollege Blüm, nicht die Verhältnisse haben sich geändert, Sie, Herr Blüm, haben sich geändert.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD — Zustimmung des Abg. Schily [GRÜNE])

    Herr Kollege Blüm — ich sage das mit Bedauern —, Sie haben seit 1979 die Seite gewechselt. Sie machen sich jetzt nicht nur die Begriffe, sondern auch die Interessen der Arbeitgeberverbände zu eigen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Sie reden immerzu davon, daß Sie die Neutralität wiederherstellen müssen, und sagen, die Arbeitgeber seien durch die gegenwärtige Rechtslage im Nachteil, die Gewerkschaften seien begünstigt. Das war doch der Kern Ihrer Aussage. Das hat der alte Blüm von 1979 auch anders gesehen. In diesem Buch, für das ich hier noch einmal ausdrücklich werbe, schrieben Sie — wieder wörtlich Blüm —:
    Die Finanzkraft der Gewerkschaften ist nicht so übermäßig groß, wie ihr unterstellt wird. Vom wirtschaftlichen Gewicht ihrer Tarifpartner jedenfalls wird sie übertroffen.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Na nu!) Dann wird er sehr konkret:

    Anhaltspunkt für diese Vermutung ist, daß der Jahresumsatz der Volkswagenwerke AG 28mal so groß ist, der der Daimler-Benz AG 18mal so groß wie der Jahresumsatz der IG Metall ist.

    (Kolb [CDU/CSU]: Umsatz ist kein Gewinn!)

    So sah der Herr Kollege Blüm die Kräfteverhältnisse damals.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Kollege Blüm, warum ist das denn heute nicht mehr richtig? Weil Sie Minister in einer konservativen Regierung sind und Herrn Bangemann gefällig sein müssen oder warum? Damals wußten Sie sogar noch Zahlen, Kollege Blüm. „Der Jahresbeitragsüberschuß der IG Metall" — das sagte der Metaller Blüm damals — „beträgt rund 40 Millionen DM." Dann fuhren Sie fort: „Zusammen mit Unterstützungsleistungen für Aussperrung zahlte die IG Metall 1978 130 Millionen DM." — Sie wissen, daß die Zahlen für 1984 nicht anders waren. Und da haben Sie den Mut, von einer Überlegenheit der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgeberverbänden zu reden!

    (Lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall bei den GRÜNEN)

    Hat denn der Gewerkschaftskollege Blüm eigentlich nicht präsent, daß 1984 50 000 Streikende fast
    180 000 im Arbeitskampf Ausgesperrte gegenüberstanden, daß also zwischen drei und vier Ausgesperrte auf einen Streikenden kamen? Ist dies die Untermauerung Ihrer Behauptung, die Gewerkschaften seien überlegen und im Angriff?
    Übrigens tritt doch der Verlust der Ansprüche gegen die Arbeitslosenversicherung — warum sagen Sie das nicht? — nicht nur dann ein, wenn ein Werk wegen Streiks stillgelegt wird; er tritt doch ebenso dann ein, wenn die Stillegung auf Aussperrungen im umkämpften Bezirk zurückzuführen ist.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Angesichts der eben von mir genannten Zahlen — ein Verhältnis von 3 oder 4 zu 1 — ist im Verlaufe des Arbeitskampfes die Stillegung infolge Aussperrung viel häufiger als die Stillegung infolge Streiks.
    Nein, das alles sind Ausflüchte und Vernebelungsversuche. Irreführend ist auch das Gerede, es handele sich bei den Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit um Leistungen einer öffentlichen Kasse oder gar um Steuergelder. Herr Kollege Blüm, das ist Unfug! Es handelt sich nicht um öffentliche Gelder, es handelt sich nicht um Gnadengaben oder Almosen; es handelt sich um Versicherungsleistungen, für die die Arbeitnehmer jahre- und jahrzehntelang ihre Beiträge gezahlt haben.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall bei den GRÜNEN)

    Sie greifen in das eigene Geld der Arbeitnehmer ein, und Sie wissen, daß die Steuerzuschüsse an die Bundesanstalt, die übrigens nahe bei Null veranschlagt sind, für versicherungsfremde Leistungen aufgebracht werden, nicht für Arbeitslosengeld.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Es handelt sich um das eigene Geld der Arbeitnehmer. Das sehen übrigens auch die Arbeitgeber so, die ihre Beiträge nicht ohne Grund bei jeder Gelegenheit als Lohnnebenkosten, also als Bestandteil des Lohns, deklarieren.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Das alles ist schlimm genug. Noch schlimmer aber ist, daß Sie den Sozialkonflikt, in den Sie unser Volk ohne Not gestürzt haben, immer noch weiter anheizen. Jetzt polemisieren Sie gegen die Gewerkschaften und werfen ihnen Lüge und Hetze vor. Das heißt doch die Dinge auf den Kopf stellen! Haben denn die Gewerkschaften verlangt, daß das Recht zu ihren Gunsten verändert wird, oder sind Sie angetreten, um das Recht zuungunsten der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften zu verändern?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Ein Schmieren-Komödiant! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Nicht die Gewerkschaften stören den sozialen Frieden; sie verteidigen sich doch nur. Wenn von Friedensstörung die Rede ist, muß ich sagen: Friedens-



    Dr. Vogel
    störer sind die, die diesen Konflikt grundlos und sinnlos Vom Zaun gebrochen haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren von dieser Koalition und von der Bundesregierung, Sie haben Wind gesät und wundern sich, daß Sie jetzt Sturm ernten.

    (Beifall bei der SPD)

    Jetzt gehen Sie, Kollege Blüm, ans Rednerpult und greifen Gewerkschafter als Desinformateure, als Lügner und Hetzer an.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Stimmt auch! — Ist j a auch wahr!)

    Lügner und Hetzer? Ich will Ihnen ein paar Fragen vorlegen, Herr Kollege Blüm.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie nehmen die Lügner in Schutz! — Weitere Zurufe)

    Herr Katzer, Ihr Vorgänger als Bundesarbeitsminister und als Vorsitzender der Sozialausschüsse, der Mann, den Sie einmal mit gutem Grund Ihren väterlichen Freund genannt haben, warnt öffentlich vor Ihrem Entwurf. Er sagt: Angesichts der Tatsache, daß die Tarifvertragsparteien bisher ihrer Verantwortung gerecht geworden sind — Hans Katzer steht noch auf Ihrem alten Standpunkt, er hat die Seiten nicht gewechselt! —,

    (Beifall bei der SPD)

    wirkt schon die peinliche Auseinandersetzung um das Arbeitsförderungsgesetz geradezu kleinkariert gefährlich. Ist Herr Katzer auch ein Lügner, auch ein Hetzer?
    Herr Benda, langjähriger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, erhebt öffentlich schwere verfassungsrechtliche Bedenken gegen Ihren Entwurf. Ist Herr Benda auch ein Hetzer?

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — Lautete der Zwischenruf „Das kann sein!"? Dann sollte man ihn ins Protokoll aufnehmen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zurufe von der SPD: Pfui! — Schweinerei!)

    Herr Ministerialdirektor Hans-Horst Viehof, der von Ihnen selbst berufene Leiter der zuständigen Abteilung Ihres Ministeriums, stellvertretender Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse des Rheinlands, nennt den Entwurf rechtswidrig und schädlich und wird deshalb zwangspensioniert. Ist Herr Viehof auch ein Lügner oder ein Hetzer, Herr Blüm?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD sowie beifall bei den GRÜNEN)

    Die CDU-Fraktion im saarländischen Landtag wendet sich öffentlich gegen den Entwurf und erklärt, es bestehe keinerlei Handlungsbedarf. Sie fordert den saarländischen Ministerpräsidenten auf, im Bundesrat mit Nein zu stimmen. Sind Ihre saarländischen CDU-Kolleginnen und -Kollegen alles Lügner und Hetzer?
    Herr Biedenkopf, der designierte Vorsitzende des neuen CDU-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, immerhin nicht der kleinste unter Ihren Landesverbänden, sagte Ende vergangener Woche, der Entwurf sei weiß Gott nicht der Weisheit letzter Schluß. Offenbar auch ein Hetzer!
    Herr Oswald, langjähriges Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG schreibt wörtlich: „Die Einheitsgewerkschaft war der Garant für den wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik. Es wäre kurzsichtig, die Gewerkschaften, die zur Zeit besondere Schwierigkeiten haben, schwächen zu wollen." Wörtlich sagt dieser Mann, der als Vorstandsmitglied von Daimler-Benz weiß, wovon er redet: „Es wäre Schwachsinn, sie weiter in die Defensive treiben zu wollen." Aber gerade das, was Herr Oswald als Schwachsinn bezeichnet, tun Sie, Herr Blüm!

    (Lebhafter Beifall bei der SPD)

    Nein, diejenigen, die Sie da angreifen, und der Herr Katzer und der Herr Benda und der Herr Viehof und die saarländische CDU und der Herr Biedenkopf, das sind eben keine Lügner und keine Hetzer, ebensowenig wie Ernst Breit und all die anderen, die Ihnen Widerstand leisten. Das sind Männer und Frauen, die wissen, was auf dem Spiel steht, die sich um den sozialen Frieden und die soziale Stabilität unseres Landes sorgen. Das sind Männer und Frauen, die verantwortungsbewußt von unserem Volk Schaden abwenden wollen. Das ist die Wahrheit.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD)

    Schaden von unserem Volk abzuwenden wäre eigentlich die Aufgabe des Herrn Bundeskanzlers. Aber leider tut er das Gegenteil. Er gießt noch 01 ins Feuer. Er holt eigens den Bundestag zusammen — denn es war j a seine Entscheidung —, um dieses schlimme Gesetz ganze 14 Tage früher durch den Bundestag zu bringen. Warum eigentlich? Wem sind der Bundeskanzler und Herr Blüm und diese Koalition diese Hast, wem sind sie eigentlich dieses Gesetz schuldig? Wer drängt sie denn?

    (Zurufe bei der SPD: Sehr gut!)

    Was passiert denn, wenn dieses Gesetz erst im Herbst oder überhaupt nicht in Kraft tritt? Und warum schweigt der Bundeskanzler hier in einer Sache, die inzwischen unser ganzes Volk bewegt?

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich fordere den Bundeskanzler auf, doch von dieser Stelle aus zu sagen, was bislang an unserer Tarifautonomie, was bisher am System der Lohnfindung schlecht war? Warum lobt er die Gewerkschaften nur, wenn ein Gewerkschaftsvorsitzender in den Ruhestand tritt und nicht hier an dieser Stelle unter Wiederholung der Reden, die wir dort hören?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Sind wir nicht das Land mit den verantwortungsbewußtesten Gewerkschaften? Sind wir nicht das Land mit den besten Arbeitsbeziehungen zwischen den Tarifparteien? Sind wir nicht das Land mit der geringsten Zahl von Streiktagen unter allen Indu-



    Dr. Vogel
    strienationen? Welcher Teufel reitet Sie eigentlich, daß Sie das alles aufs Spiel setzen und gefährden?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD)

    Wir jedenfalls — darauf können Sie sich verlassen — werden nicht schweigen. Wir werden dem Entwurf jeden zulässigen Widerstand entgegensetzen. Wir werden immer wieder aufs neue darlegen — und da verwende ich die berühmt gewordene Äußerung des Bundeskanzlers —, wie dumm, wie absurd, wie töricht dieser Entwurf und dieser Vorstoß ist.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir werden uns jeder Beschränkung unserer Minderheitenrechte mit Entschiedenheit widersetzen. Denn das ist unsere feste Überzeugung: Wir stehen hier im Parlament zwar als Minderheit, aber in der Sache stehen wir nicht für die Minderheit, wir stehen für die Mehrheit unseres Volkes, für die Mehrheit, die den sozialen Frieden nicht gefährdet, sondern gesichert und gewährleistet wissen will.

    (Langanhaltender lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)