Ja, das ist eine starke Fraktion hier im Hause. Täuschen Sie sich da nicht!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, daß es ermutigend ist, daß der Bundeskanzler und der Kollege Schmidt in der Überzeugung übereinstimmten, daß unsere europäische Verantwortung über die Grenzen der Europäischen Gemeinschaft hinausreicht, d. h. daß wir unsere Verantwortung als eine Verantwortung in ganz Europa und für ganz Europa begreifen und daß die konkrete Aufgabe lautet, das demokratisch organisierte Europa handlungsfähiger zu machen.
Dieser geschichtliche Zusammenhang muß uns immer vor Augen stehen, und wir fühlen ja, daß unabhängig von den Systemen das europäische Bewußtsein stärker wird, ja, daß man schon von einem europäischen Patriotismus sprechen kann, der die Menschen — wiederum unabhängig von den Systemen — stärker und stärker ergreift.
In Luxemburg ging es darum, unsere Europäische Gemeinschaft in ihrer Entscheidungsfähigkeit zu stärken, jene Blockaden zu überwinden, die sich an das Einstimmigkeitsprinzip knüpften und die es in der Vergangenheit z. B. unmöglich machten, einen Binnenmarkt tatsächlich herzustellen. Wir mußten dort die Vorkämpfer dieses Binnenmarktes sein; denn ohne einen freien Markt in der Europäischen Gemeinschaft ist weder eine technologische Entwicklung möglich, noch können sich die Marktkräfte von über 300 Millionen Menschen auswirken.
Deshalb ist es ein erheblicher Fortschritt, daß wir bei den Mehrheitsentscheidungen signifikant vorangekommen sind. Dann, wenn wir uns selbst den Mehrheitsentscheidungen unterworfen haben, mußte auch klar sein, daß diese Mehrheitsentscheidungen nicht zurückführen dürfen, sondern daß sich Europa als Fortschrittsgemeinschaft bestätigen muß. Wenn wir also Entscheidungen im Bereich der beruflichen Sicherheit, des Arbeitsschutzes, des Umweltschutzes oder der Gesundheit der Mehrheitsentscheidung unterwerfen, muß klar sein: Es darf keine Mehrheiten zurück geben können, sondern es muß eine Harmonisierung nach vorn, nach oben, ausgerichtet auf die höchsten Standards, stattfinden.
Das haben wir sichergestellt. Das war keine einfache Sache, denn da werden, wie wir ja aus dem Bereich des Umweltschutzes wissen, von vielen unserer Partner erhebliche Schritte erwartet.
Auch die technologische Bewußtwerdung in Europa, die technologische Stärkung Europas, eine unabdingbare Voraussetzung seiner wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit, setzt voraus, daß über die EUREKA-Initiative hinaus die Technologiegemeinschaft gebildet wird. Diese verlangt eine Aufhebung der durch unterschiedliche Normen hervorgerufenen Hindernisse. Sie verlangt in der Tat eine Aufhebung auch des Egoismus bei der nationalen Auftragsvergabe; aber das funktioniert nun wirklich nur, wenn es von allen Staaten gleichzeitig praktiziert wird. Sie verlangt schließlich die Möglichkeit der Bildung europäischer Gesellschaften.
Es ist hier die Frage aufgeworfen worden, ob in der Währungspolitik die Staats- und Regierungschefs mutig genug waren, ob sie bereit waren, weit genug zu gehen, oder ob hier Zaghaftigkeit das Handeln diktierte. Wir sind der Meinung, daß die Aufnahme des Zieles der Währungsunion in die Gemeinschaft den vertraglichen Zielen unserer Gemeinschaft zum erstenmal ausdrücklich die währungspolitische Dimension eröffnet hat. Das ist eine wichtige Zielrichtung.
Aber der Vertragsinhalt bringt so, wie wir ihn vereinbart haben, auch eine wichtige Entscheidung in Richtung der Auffassungen der Bundesregierung. Es ist nämlich die Frage, ob die Währungsunion am Anfang steht und ob man von ihr geradezu automatisch die Konvergenz von Wirtschafts-und Finanzpolitik erwarten kann, entschieden worden. Es ist die Notwendigkeit der Herstellung der wirtschaftlichen und der finanzpolitischen Konvergenz dafür, das Ziel der Währungsunion erreichen zu können, in den Vertrag aufgenommen worden.
Das ist eine wichtige, im Interesse auch unserer Stabilitätspolitik bedeutsame Entscheidung. Sie wird uns jetzt die Möglichkeit geben, über die Wirkungen des Europäischen Währungssystems hinaus nachhaltig dafür einzutreten, daß wir bei dieser Konvergenz materielle Fortschritte machen. Hier ist ein qualitativer Sprung erreicht worden, weil eine lähmende Diskussion durch Vertragsänderung in der nach unserer Meinung richtigen Weise entschieden wurde. Das Europäische Währungssystem — das werden auch seine Skeptiker zugeben — hat ohne Zweifel eine disziplinierende, in Richtung auf eine stabilitätsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik sich auswirkende Funktion; darüber gibt es keinen Zweifel.
Aber ohne eine Konvergenz der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist das EWS an die Grenze seiner Wirkungsmöglichkeiten gestoßen.
Deshalb war es so wichtig, daß wir dieses Ziel in unseren Vertrag aufgenommen haben. Das war keine einfache Sache. Es heißt hier:
Um die für die Weiterentwicklung der Gemeinschaft erforderliche Konvergenz der Wirtschafts- und Währungspolitik zu sichern, arbeiten die Mitgliedstaaten gemäß den Zielen des Artikels 104 zusammen. Sie berücksichtigen dabei die Erfahrungen, die bei der Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Währungssystems und mit der ECU gesammelt worden sind, und respektieren die bestehenden Zuständigkeiten.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 181. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1985 13785
Bundesminister Genscher
In der Tat, sie respektieren die bestehenden Zuständigkeiten. Dazu gehört auch die Unabhängigkeit unserer Notenbank. Diese Unabhängigkeit müssen wir wahren, solange es nicht eine ebenso unabhängige europäische Notenbank gibt, die es nicht geben kann, bevor wir die Konvergenz der Wirtschafts- und Finanzpolitik hergestellt haben.
Die Zeichen sind in die richtige Richtung gesetzt. Hier ist ein neuer dynamischer Faktor in die Gemeinschaft hineingetragen worden, ein dynamischer Faktor, der nun ausgefüllt werden will. Es hat sich gezeigt, daß auch bei dieser Frage wiederum eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit notwendig war, um dieses Ziel erreichen zu können. Wir haben das aber auch in Absprache mit den anderen wichtigen Ländern getan in dem Bewußtsein, daß Frankreich und Deutschland die Impulse geben können und müssen, daß aber die Mitarbeit der anderen unerläßlich ist, wenn wir vorankommen wollen.
Meine Damen und Herren, dieses Vorankommen wird sich jetzt auch in den Impulsen für die technologische Zusammenarbeit erweisen müssen, wenn die Herstellung des größeren europäischen Marktes dafür den Rahmen eröffnet.
Das Parlament hätte nach unserer Auffassung noch mehr Mitwirkungsmöglichkeiten erhalten sollen. Hier sind wir an Grenzen gestoßen, die andere gesetzt haben, auf denen Mitwirkung wir angewiesen sind. Wir sind hier an Grenzen gestoßen, die andere gesetzt haben, die aus einer anderen Tradition ihres eigenen Parlamentsverständnisses, aus einer längeren Geschichte größere Schwierigkeiten als wir haben, auch Kompetenzen an das Europäische Parlament abzugeben. Wir hoffen, daß man aus Italien den Vorbehalt zurückzieht; denn es wäre falsch, das jetzt Erreichte aufs Spiel setzen zu wollen.
Die Frage der außenpolitischen Zusammenarbeit ist ebenfalls in einem qualitativen Schritt neu beantwortet worden. Die Frage der außenpolitischen Zusammenarbeit ist in Richtung auf eine europäische Außenpolitik entschieden worden. Meine Damen und Herren, ich denke noch genau zurück an die zaghaften Versuche, sich in der europäischen politischen Zusammenarbeit zu organisieren, an die Weigerung, von einer europäischen Außenpolitik zu sprechen, was von vornherein der Zusammenarbeit Grenzen auferlegt. Jetzt haben wir uns darauf verständigt, daß es eine europäische Zusammenarbeit in der Außenpolitik geben wird. Eine europäische Außenpolitik zu schaffen, ist das Ziel, das wir uns gesetzt haben.
Ich bin froh darüber, daß hier die Sicherheitspolitik einbezogen ist. Ich würde noch glücklicher über den Entwurf sein, wenn er die Sicherheitspolitik in allen Aspekten einbezogen hätte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, kann es denn angehen, daß es in Europa Stimmen gibt, die sich über Ungleichgewichtigkeit zwischen Europa einerseits und den Vereinigten Staaten andererseits beklagen, wenn wir aber gleichzeitig selbst nicht in der Lage sind, in den entscheidenden Sicherheitsfragen unsere eigenen Interessen zu identifizieren?
Deshalb ist es so bedeutsam, daß wir wenigstens die wichtigsten Aspekte — wenn auch nicht die militärischen — der Sicherheitspolitik einbezogen haben.
Der Kollege Schmidt hat zu Recht auf die unterschiedlichen Interessenlagen hingewiesen. Es ist wahr, daß Portugal sicherheitspolitische Fragen aus seiner geographischen Lage heraus anders beurteilen und in der Wertigkeit sehen muß als die Bundesrepublik. Aber ist das wirklich ein Argument gegen eine europäische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik? Ist es nicht vielmehr ein Argument für eine gemeinsame Gestaltung der Sicherheitspolitik, nämlich daß unterschiedliche Wertigkeiten dahin geführt werden, daß gleichgerichtetes Handeln schwerpunktmäßig erzielt wird? Das muß doch unser Ziel sein.
Deshalb glaube ich, daß es richtig und notwendig war, daß wir die Sicherheitspolitik einbeziehen. Auch hier wieder wird eine besondere Verantwortung bei Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland liegen. Da kann man keinen Zweifel daran haben, daß in diesen wichtigen Fragen der Schulterschluß zwischen dieser Bundesregierung und der französischen Regierung sehr eng ist. Das wird sogar derjenige bestätigen, der in Fragen des NATO-Doppelbeschlusses anderer Meinung war als die Regierungsmehrheit.
Als der französische Präsident hier Anfang 1983 in einer vitalen sicherheitspolitischen Frage, für Frankreich, das selbst am NATO-Doppelbeschluß nicht teilnahm, seine Unterstützung erklärte, war das für mich ein Akt sicherheitspolitischer Solidarität in Europa.
Das erfordert eine Antwort im weiteren sicherheitspolitischen Handeln. Was jetzt in den Konsultationen zwischen den Außen- und Verteidigungsministern Frankreichs und der Bundesrepublik geschieht, ist ja das Suchen nach dieser gemeinsamen Antwort.
Aber es wäre zu wenig, wenn wir diese Zusammenarbeit mit dem sicherheitspolitischen Aspekt auf Frankreich und Deutschland beschränkten. Das gehört auch in die Europäische Gemeinschaft hinein. Man kann heute ja gar nicht mehr Außen- und Sicherheitspolitik voneinander trennen; es sei denn, man wollte Sicherheitspolitik nur als etwas rein Militärisches verstehen. In Wahrheit sind wir doch alle der Meinung, daß die Rüstungskontrollpolitik ein integraler Bestandteil unserer Sicherheitspolitik ist.
Deshalb ist es so notwendig, daß wir über diese Aspekte auch in der Europäischen Gemeinschaft sprechen. Da ist diese Europäische Gemeinschaft, wie ihr Auftreten in der Abrüstungskonferenz in Stockholm, wie das Auftreten bei der KSZE zeigt, doch längst auch in den sicherheitspolitischen Fragen zu einem handlungsfähigen Faktor geworden.
13786 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 181. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1985
Bundesminister Genscher
Aber das muß weiter ausgebaut werden. Aus Koordinierung muß gemeinsame Politik werden. Das ist das Ziel dieses Teils des Vertrages. Hier wiederum kommt der deutsch-französischen Zusammenarbeit eine besondere Funktion zu. Das hat doch diesen Gipfel in der Vorbereitung und beim Ablauf maßgeblich bestimmt.
Ich kann mich noch genau an jene Stimmen erinnern, die vor Mailand gesagt haben: Es wird nicht zu einer Regierungskonferenz kommen. Als wir von Mailand zurückkamen, wurde gesagt: Aber die und die und die werden an der Regierungskonferenz nicht teilnehmen. Dann nahmen sie teil. Dann wurde gesagt: Sie werden teilnehmen, aber sie werden nicht mitarbeiten. Dann haben sie mitgearbeitet.
Heute haben wir in der Tat italienische Vorbehalte und einen allgemeinen dänischen Vorbehalt, der sich aus der dortigen Mehrheitslage im Parlament erklärt. Beide Vorbehalte gehen in die entgegengesetzte Richtung: die Italiener wollen weitergehen, die Dänen wollen nicht so weit gehen. Ich will hoffen, daß sich beide Vorbehalte gegeneinander aufheben werden. Wer wollte nach der Zustimmung von 10 Regierungen eigentlich das Scheitern dieses wirklich entscheidenden Schrittes auf seine eigene Verantwortung nehmen? Das ist die Frage, die sich jetzt jeder stellen muß, der dann zur Ratifizierung dieses Vertrages zu schreiten hat.
Für uns sind die Ziele dabei ganz klar: die Hinarbeit auf eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die Nutzung der Kräfte des größeren europäischen Marktes durch einen europäischen Binnenmarkt, die Nutzung der Möglichkeiten der Konvergenz der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Währungspolitik, um Europa zu einer Stabilitätsgemeinschaft zu machen, wie wir es schon erreicht haben. Sie, Frau Kollegin Kelly, haben gesagt, die Regierungschefs hätten sich nicht um die Arbeitslosen gekümmert. Wir sind dorthin gegangen, um durch die Stärkung der Wirtschaftskraft unseres Europas dazu beizutragen, daß in ganz Europa Fortschritte bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht werden können, wie sie sich in der Bundesrepublik Deutschland abzeichnen.
Wir hätten da einen Fehler gemacht, wenn wir uns falsche Wirtschaftskonzepte zu eigen gemacht hätten. Wir haben richtig gehandelt, daß wir die Notwendigkeit der Konvergenz der Wirtschafts-und Finanzpolitiken in den Vertrag aufgenommen haben. Da begreifen wir die Sicherung der technologischen Führungsposition Europas als einen Akt europäischer Selbstbehauptung.
Damit komme ich zum Eingang zurück: Wir als Europäer haben unsere Kräfte wirtschaftlich und politisch zu stärken und zusammenzufügen und dort, wo Europa demokratisch handlungsfähig ist, das Höchstmaß an gemeinsamem Handeln und Entscheidungen zu erreichen und damit unser Gewicht als Partner unserer nordamerikanischen Verbündeten zu stärken. Ich bleibe dabei: Nicht die Amerikaner sind im Bündnis zu stark, sondern Europa, solange es nicht ausreichend geeint ist, ist aus eigener Verantwortung zu schwach im Bündnis.
Uns selbst zu stärken, das ist europäische Verantwortung.
Wenn wir beides tun, nämlich das demokratische Europa in allen Bereichen handlungsfähig zu machen und zu einem wirklich gleichberechtigten Partner der Amerikaner aus eigener Kraft zu werden, können wir auch jene Verantwortung erfüllen, die uns als Europäer in ganz Europa und für ganz Europa aufgetragen ist. Das meine ich, wenn ich von einem wachsenden europäischen Patriotismus spreche, in dem sich das einordnet, was wir als Verantwortung und Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen verstehen.
Vielleicht gehört es ja zu den größten Errungenschaften der deutschen Nachkriegspolitik, daß wir verstanden haben, daß wir die nationalen Ziele unseres Volkes nur dann verwirklichen können, wenn wir ihre Verwirklichung in Übereinstimmung mit unseren Nachbarn — mit allen unseren Nachbarn — suchen und nicht gegen sie.
Ich danke Ihnen.