Rede von
Petra Karin
Kelly
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem Kommentar meinte die „Süddeutsche Zeitung" gestern:
Zu rühmen ist die kaltblütige Ruhe, mit der Europas Oberhäupter auf jene Bombe reagierten, die, nur 70 Meter entfernt, vor ihrem Tagungshauptquartier in Luxemburg explodierte. „Sie ließen sich nicht stören", vermerkt die offizielle Verlautbarung. Es ist ein Satz, der ... von ewiger Wahrheit kündet. Die Staats- und Regierungschefs der EG, wieder einmal angetreten, um den Traum Europa mit neuen Klauseln und Paragraphen zu beflügeln, lassen sich nicht stören — nicht von Bomben ...
Und schon gar nicht von so ernsten sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und agrarpolitischen Problemen. Sie ließen sich nicht stören von 14 Millionen registrierten Arbeitslosen in diesem Europa heute, und sie ließen sich nicht von den neuesten OECD-Prognosen stören, daß 1986 die 20-MillionenMarke überschritten wird. 20 Millionen Arbeitslose, Herr Genscher, in 1986! 20 Millionen Arbeitslose, Herr Genscher, im Jahre 1986! Sie lassen sich nicht stören von den Ursachen von Armut in Europa. Der EG-Kommissar Peter Sutherland nannte es einen Fortschritt — „einen Fortschritt" sagte er —, daß inzwischen keine der EG-Regierungen mehr das Vorhandensein von Armut in ihrem Land bestreite. Das ist Fortschritt in Europa! Doch die EG-Finanzmittel für das neue EG-Armutsprogramm wurden von Bonn und von London von 80 Millionen DM auf 56 Millionen DM gestrichen. Armut, die heute vorwiegend mit alten Menschen, Menschen ohne Wohnsitz, Dauerarbeitslosen, Gastarbeiterfamilien, Alleinerziehenden, politischen Flüchtlingen und Behinderten zu tun hat.
Aber wen kümmert das schon im Europa von oben? Noch vor dem Weihnachtsfest 1985 lassen die EG-Behörden mit deutscher Zustimmung rund 650 t Trockenfeigen vernichten. Das Angebot dieser Früchte vor der Weihnachtszeit soll nach dem Willen der EG-Landwirtschaftsminister begrenzt und der Preis hoch gehalten werden. Auch das ist Europa von oben.
Sie ließen sich auch nicht stören, Herr Kohl, als Ihr Parteikollege, der Europaabgeordnete Herr Alber, am Montag gemeint hat, den EG-Ministerrat könne man gut und gern in „Alliierte Hochkommission für Europa" umbenennen, denn seine sogenannte Gesetzgebung sei undemokratisch. Die Gesetzgebung ausschließlich durch den Ministerrat, so Ihr Kollege, könne fast als Besatzungsrecht bezeichnet werden. Wir stimmen nicht mit den Zielen von Herrn Alber überein, aber für seine Kritik haben wir durchaus Verständnis. Die Oberhäuptlinge Europas haben es in Luxemburg immerhin geschafft, über Verhütungsmittel und einen freien Binnenmarkt zu sprechen, und von diesem Thema führte ein kurzer Weg zu der Frage, wie ein freier Handel mit Pornographie verhindert werden könne. Was die Demokratisierung des Europaparlaments angeht, so meinte gestern Außenminister Genscher im Auswärtigen Ausschuß: Das letzte Wort habe weiterhin der EG-Ministerrat, in letzter Instanz entscheiden die EG-Minister.
So kann es eigentlich nicht mehr weitergehen. Und das wird Demokratisierung des Europaparla-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 181. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1985 13781
Frau Kelly
ments genannt. Diese Art von Europapolitik ist höchst zynisch und menschenverachtend.
Ein weiteres Beispiel des zynischen Europas von oben ist diese Anzeige von Panavia Aircraft, die ich mitgebracht habe, letzte Woche in der „Zeit" erschienen,
eine Anzeige der Panavia Aircraft zum Thema 800 Tornado — Allwetterkampfflugzeuge, die sie hergestellt hat. „Ein Erfolg Europas", so die Überschrift dieser Anzeige letzte Woche und auch diese Woche. Daraus nur ein Zitat:
Panavia, ein funktionierendes europäisches Instrumentarium, seit 16 Jahren ein verläßlicher und fähiger Partner der NATO-Luftstreitkräfte. Deshalb
— so in dieser Anzeige —
haben sich auch die kochentwickelten
— so heißen sie —
Luftwaffen Omans und Saudi-Arabiens für Panavia entschieden und werden 80 Tornados einsetzen.
Das wird als Erfolg Europas bezeichnet.
Ich glaube, dies geht Hand in Hand mit den Visionen eines Helmut Kohl, der sich nicht ganz so gut ausdrückt, und den Visionen eines Helmut Schmidt, der sich sehr gut und brillant ausdrückt, der aber vieles verschweigt, mit den Visionen eines Herrn Genscher und eines Herrn Strauß: die große Koalition für Europa, an der wir, DIE GRÜNEN, uns nie beteiligen werden.
Diese große Koalition möchte die Eigenständigkeit, die Unabhängigkeit und die Souveränität Europas herbeirüsten und errüsten über den Aufbau einer militärischen und wirtschaftlichen, ausbeuterischen europäischen Supermacht unter französischer Führung.
Herr Schmidt, Sie haben schon vor einem Jahr, am 28. Juni 1984, in diesem Hause davon geträumt, daß Frankreich seine autonome Nuklearmacht auch auf die Abschreckung zugunsten der Bundesrepublik erstrecke. Beide Seiten würden, so sagten Sie damals, Herr Schmidt, Ihre soldatischen Fähigkeiten — die soldatischen Fähigkeiten der Bundesrepublik und Frankreichs, so meinten Sie — und Frankreich würde seine große geschichtliche Militärtradition in die gemeinsame Verteidigung einbringen —
das Konzept eines deutsch-französischen Tandems oder einer deutsch-französischen Militärallianz, von der Sie immer wieder sprechen, welches zur politischen Führung der EG führen soll und später einer Europäischen Union. Und dies, Herr Schmidt, mit einer Regierung, die ein Greenpeace-Schiff mit terroristischer Absicht versenkt hat und damit jemanden umgebracht hat und mit einer skrupellosen, kriminellen Force de frappe, die weiterhin weit weg von Frankreich ihre Atombomben im Pazifik testet, ohne Rück- oder Vorsicht auf Menschenleben und Natur, genau wie die beiden Supermächte, die wir ständig ermahnen und ständig auffordern, zu einem Atomteststopp zu kommen.
Und wo bleibt denn die europäische Moral z. B. in bezug auf Südafrika und Druck auf das Apartheidregime?
Letztes Jahr haben Sie, Herr Schmidt, die rüstungspolitische Zusammenarbeit in Europa hervorgehoben — auch diesmal haben Sie das getan, z. B. bei Transall, bei ESA, bei Alpha-Jet, bei Hot, bei Milan, bei Roland —, um darin den Weg zur politischen Eigenständigkeit Europas zu beschreiben. Diesen Weg werden aber ganz viele soziale Bewegungen in diesem Europa nicht mitmachen.
Was in der WEU zur Zeit vorgeht, vorprogrammiert wird, zeigt ganz deutlich, daß man das Europa der Rüstungsindustrie und der Militaristen eben auch ohne die Quertreiber und ohne die Querulanten, die Iren, die Griechen und die Dänen, vorantreiben kann. Wenn es nicht in der EG geht, dann innerhalb der WEU, dem militärischen Arm der Europäischen Gemeinschaft. Der Luxemburger Gipfel und seine Aussagen dazu bestärken uns in dieser Annahme.
Die Karten müssen offen auf den Tisch. Wie steht es eigentlich mit der festgelegten Beistandsverpflichtung im Rahmen des WEU-Vertrages? In der WEU-Empfehlung vor einem Jahr regte die WEU-Versammlung an, daß WEU-Mitglieder bei Entwicklungen außerhalb des NATO-Gebiets, die die lebenswichtigen Interessen der WEU-Staaten berühren, Streitkräfte in diese Krisenregionen verlegen sollten. Wir wissen, daß der WEU-Vertrag keine geographische Begrenzung des Aufgabenbereichs enthält. Trägt auch Helmut Schmidt diese Vision mit?
Auch im EG-Rahmen werden Überlegungen über eine gemeinsame Militärpolitik vis-à-vis der Dritten Welt angestellt. Vorschläge für EG-Friedens- und Eingreiftruppen zur Sicherung unserer Rohstoffund Energieversorgung aus der Dritten Welt und für die Sicherung der Seewege durch gemeinsame Missionen der militärischen Flotten der EG-Mitgliedstaaten deuten darauf hin, daß sich die EG eigenständige militärische Interventionskapazitäten zulegen will. Dabei darf die indirekte militärische Durchdringung der Staaten der Dritten Welt über europäische Rüstungslieferungen nicht vergessen werden. Und Ankara bietet zur Zeit Übungsplätze in Anatolien für unsere Tiefflieger als Gegenleistung für den Leo II an; auch das ist Europa.
Weitere Bausteine für eine Super- und Atomstreitmacht Europa sind die europäischen Raumfahrt- und Atomindustrien, militärische Projekte auf sogenannter ziviler Grundlage. Dies fängt bei Plänen für eine bemannte europäische Raumstation an und führt über zivile Ergebnisse von Eureka, die für SDI militärisch genutzt werden können, und das verbindende Zwischenglied ist die Europäische Verteidigungsinitiative, bei der es um Antiraketen und Spionagesatelliten geht und die sich ge-
13782 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 181. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1985
Frau Kelly
rade Herr Wörner seit einigen Tagen herbeisehnt. Und in der WEU plant man tüchtig die Eroberung des Weltraums auch unter militärischen Gesichtspunkten.
Bei der Nukleartechnologie in Europa, Herr Schmidt, wird deutlich, daß die sogenannte zivile Atomindustrie die technologische Basis für militärische Nuklearvorhaben bildet, z. B. — und damit komme ich zum Schluß — über den französischen Schnellen Brüter Super-Phénix, an dem RWE beteiligt ist und der eindeutig französischen militärischen Interessen dient.
Was als neue europäische Identität verkauft wird, ist nicht Europäisierung der Sicherheitspolitik, sondern es ist in Wirklichkeit eine neue Arbeitsteilung zwischen Amerika und Europa. Wir sollen die USA dabei in ihrer globalen Polizeirolle unterstützen und in Europa entlasten. Und so bleiben wir in die Globalstrategie der Amerikaner eingebunden, verstärken den Druck auf den Ostblock und werden langsam, aber sicher eine dritte militärische nukleare Supermacht mit eigenen nuklearen Optionen. Ich glaube nicht, daß das der Wunsch einer solchen Großen Koalition ist — oder vielleicht doch?
Zum Schluß noch ein Satz von Frau Helga Wex, der auch aus einer Rede eines SPD-Mitglieds sein könnte:
Voraussetzung für eine atomare europäische Verteidigung durch die Europäer selbst wäre eine Europäische Union mit einer zentralen Regierung mit Zuständigkeiten für Außen- und Sicherheitspolitik.
Diesen Weg tragen wir niemals mit.