Rede von
Rudolf
Dreßler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Arbeitsminister ist mitverantwortlich dafür, daß es zu dieser Auseinandersetzung um die Haltung des Staates in Tarifauseinandersetzungen gekommen ist. Sie, Herr Blüm, haben im letzten Jahr den bestehenden Konsens über die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen aufgekündigt.
Sie haben unsere Warnungen im Jahre 1984 in den Wind geschlagen.
Nun, Herr Blüm, werden Sie die Geister, die Sie gerufen haben, nicht mehr los.
Daran ändert auch Ihre seit langem bekannte Masche nichts, Herr Blüm: andere drei Schritte zurückfordern zu lassen — in diesem Falle Arbeitgeberverbände, FDP und viele ihrer eigenen Fraktion —, dann selbst einen Schritt zurücknehmen zu wollen und das Ganze dann noch als Erfolg zu verkaufen.
Wir stellen erneut fest, daß sich die Bundesregierung gegenüber den Tarifvertragsparteien wieder nicht neutral verhält. Sie redet über eine notwendige Neutralität,
sie will aber die Gewichte in Tarifverhandlungen zugunsten der Arbeitgeberverbände verschieben.
Das ist nicht neu. Das war so bei der Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung. Das war so, als das Beschäftigungsförderungsgesetz verabschiedet wurde. Und das ist so bei Ihren Versuchen, das Betriebsverfassungsgesetz auszuhöhlen.
Sie haben, Herr Kolb, ein gespaltenes Verhältnis zur Tarifautonomie.
Sie reden von Sozialpartnerschaft, schüren aber durch Ihr Handeln die Auseinandersetzung.
Sie tun so, als könne die Neutralität nur durch die Zahlung von Kurzarbeitergeld verletzt werden. Nein, Herr Kolb, auch die Verweigerung von Leistungen an unbeteiligte Arbeitnehmer stellt die Neutralität in Frage.
Hätten die Gerichte, Herr Blüm, Sie und Herrn Franke im letzten Jahr nicht gestoppt,
wären schon damals Hunderttausende unbeteiligter Arbeitnehmer und ihre Familien in die Sozialhilfe getrieben worden. Allein in Bochum, Herr Kolb, wären aus Steuermitteln dieser Stadt rund 18 Millionen DM Sozialhilfe fällig gewesen. Gibt Ihnen das eigentlich nicht zu denken?
Haben Sie jemals zu Ende gedacht,
was Sie mit der Einschränkung der bestehenden Neutralität anrichten? Sie machen nämlich aus der Tariflandschaft einen wahren Flickenteppich.
Leichtfertig setzen Sie den sozialen Frieden und den leichten Anstieg der Beschäftigung aufs Spiel. Ein einziger internationaler Vergleich genügt: Nirgendwo wurde so wenig gestreikt wie bei uns. Das liegt daran, daß wir starke Gewerkschaften haben. Zwischen 1970 und 1982 sind durch Streik pro 1 000 Arbeitnehmer in Italien 1400, in Großbritannien 512, in den USA 443 und in Japan 107 Arbeitstage pro Jahr verlorengegangen. Bei uns waren es ganze 42 Tage, und da machen Sie hier diesen Aufstand. Was wollen Sie eigentlich?
Das ungefähre Gleichgewicht der Kräfte hat es möglich gemacht, daß die Gewerkschaften in der Vergangenheit wichtige Verbesserungen durchsetzen konnten. Ohne Gewerkschaften gäbe es nämlich kein Weihnachtsgeld, ohne Gewerkschaften gäbe es immer noch den minimalen Urlaub von 18 Tagen, wie er im Bundesurlaubsgesetz steht, und ohne den Einsatz der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften für die Arbeitszeitverkürzung im letzten Jahr hätten wir jetzt 100 000 Arbeitsplätze weniger. Die SPD will keine Arbeitnehmerorganisation, die auf Betteln angewiesen ist.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1985 13691
Dreßler
Wir wollen starke Gewerkschaften, Herr Scharrenbroich,
die ihren grundgesetzlichen Auftrag wahrnehmen können, nämlich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu fördern.
Um fünf Tage Aussperrung zu überstehen, meine Damen und Herren, müßte die Industriegewerkschaft Druck und Papier ihre gesamten Überschüsse zehn Jahre lang aufsparen — und dies gegenüber einer Tarifvertragspartei, dem Bundesverband Druck, der in seinem Bereich im Jahr 22 Milliarden DM Umsatz macht, und in einem Industriezweig, in dem allein ein Großkonzern wie Bertelsmann pro Jahr hundertmal so viel Überschüsse macht wie die einzige Gewerkschaft in diesem Bereich.
Einer Ihrer Vorgänger, Herr Blüm, Hans Katzer, hat es auf den Punkt gebracht: Die ganze Welt kann uns darum beneiden, daß wir verantwortungsbewußte Gewerkschaften haben. Wir wollen, daß das auch so bleibt.
Wir fordern jeden einzelnen Abgeordneten der CDU/CSU zu einer ganz persönlichen Entscheidung auf,
nämlich der zwischen Parteigehorsam, Herr Scharrenbroich,
und der Erhaltung des sozialen Rechtsstaats. Herzlichen Dank.