Rede von
Eberhard
Bueb
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf eines Bundespflegegesetzes betreten die GRÜNEN in vielerlei Hinsicht politisches Neuland, und das ist angesichts der Problemlage der Pflegepolitik bitter nötig.
In der Bundesrepublik leben ca. 1,6 Millionen Pflegebedürftige zu Hause und etwa 250 000 in geschlossenen Einrichtungen, d. h. in Krankenhäusern, Alten-, Behinderten- oder Pflegeheimen. Mehr als drei Viertel der in erheblichem Umfang Pflegebedürftigen sind über 65 Jahre, ein Drittel sogar über 80 Jahre alt. Mit der Zunahme chronischer Krankheiten und der Änderung im Altersaufbau der Bevölkerung wird sich der Anteil der Pflegebedürftigen in den nächsten Jahren ungefähr verdoppeln. Angesichts von Durchschnittsrenten von 750 bis 1 100 DM und Pflegesätzen von 1 500 und 4 000 DM ist es kein Wunder, daß heute zwei
Drittel der Pflegebedürftigen in den Pflegeheimen sozialhilfeabhängig sind. Ihnen verbleiben ärmliche 150 DM im Monat. Pflegebedürftigkeit heißt damit für allzu viele das Risiko der Armut. Im Alter und durch Behinderung pflegebedürftig zu werden, bedeutet in unserer Gesellschaft immer noch eine persönliche und soziale Katastrophe.
Die Verarmung durch Sozialhilfe ist nur die Spitze des Eisberges. Das ganze Leben erfährt einen Einschnitt. Man wird von der Hilfsbereitschaft anderer abhängig. Das soziale Ansehen wird abgewertet, da nur, wer sich selbst helfen kann, in unserer Gesellschaft anerkannt ist.
Pflegekräfte und Institutionen sind für alles zuständig und bevormunden die ganze Person. Bei Heimeinweisung wird man durch den Verlust der häuslichen Atmosphäre isoliert, Kontakte zu Freunden und Bekannten gehen verloren.
Trotz dieser bekannten Mißstände gibt es heute keine ausreichende soziale Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Die Bundesrepublik gilt im internationalen Maßstab hierzu als Entwicklungsland.
Je nach Ursache der Pflegebedürftigkeit werden hierzulande unterschiedlich hohe Leistungen gewährt, die vielfach zu gering sind. Zudem begünstigen die jetzigen Finanzstrukturen die Heimunterbringung. Pflegebetten sind eine lukrative Geldanlage, wie nicht zuletzt die zahlreichen Skandale in privaten oder auch in Häusern der Wohlfahrtsverbände bezeugen. Ambulante Einrichtungen dagegen sind Zuschußunternehmen. Sie sind deshalb für die Wohlfahrtsverbände nicht interessant.
Familie oder Heim? So lautet heute die Alternative für Pflegebedürftige. Wenn es die Familie — das heißt hier vor allen Dingen: die Frauen — nicht mehr schafft, dann eben ab ins Heim. Lediglich 12% der zu Hause lebenden Pflegebedürftigen werden von einem ambulanten Pflegedienst betreut, und bei nur 4% der Fälle erfolgt die Pflege ausschließlich durch ambulante Dienste. Die Familien werden alleingelassen, die Alten und Behinderten ins Heim abgeschoben.
An dieser Tatsache ändern auch die beiden wichtigsten Alternativvorschläge zum grünen Bundespflegegesetz nichts. Das Nichtkonzept der Bundesregierung, deren sogenanntes „Maßnahmenbündel" vor allem auf eine private Pflegeversicherung und auf eine Ausweitung der Leistungen der Krankenkassen setzt, dieses Programm der Bundesregierung ist ein Sparprogramm, das den Behinderten nichts bringt und die Frauen in den Haushalten verschärft belastet.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 174. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1985 13069
Bueb
Der hessische SPD-Vorschlag einer Pflegeversicherung im Rahmen der Sozialversicherung wiederum versucht, die Quadratur des Kreises zu lösen: Die Heime sollen weiterhin finanziert werden, und ambulante Pflege soll auch Geld erhalten. Am Ende steht dann eine halbherzige Lösung, die sowohl die Arbeitnehmer wie die Beitragszahler belastet und alle nicht Sozialversicherungspflichtigen — Beamte, Selbständige usw. — außen vor läßt. Die ambulante Pflege kann in diesem Konzept nur bescheiden gefördert werden, weil ein Löwenanteil des Geldes weiter in die Heime fließt.
Wir GRÜNE hatten uns auch mit dem Gedanken getragen, Pflegeleistungen in den Leistungsklatalog der Krankenversicherung zu übernehmen, denn wir sind für eine Auflösung der medizinisch-technischen Krankheitsicht, die Kranheit nur als etwas Technisches, Abstellbares betrachtet und Gesundheit immer nur im Zusammenhang mit Arbeitsfähigkeit denkt.
Krankheit wie Pflegebedürftigkeit sind für uns ein Ausdruck menschlicher Existenz. Mit Krankheit und Pflegebedürftigkeit sozial anerkannt leben zu können, muß ein Ziel der Sozialpolitik werden. Wir wollen das Risiko der Pflegebedürftigkeit dennoch nicht an die Krankenversicherung angliedern, weil Behinderung und Alter im heutigen Gesundheitssystem keinen Platz finden. Was langfristig sinnvoll sein kann, wäre heute vor allem für die von Geburt an Behinderten eine soziale Katastrophe.
Unser Ziel ist es, Bedingungen zu schaffen; in denen Pflegebedürftige selbst über ihre Wohn- und Pflegesituation bestimmen können:
Erstens. Statt der Zahlung von pauschalen Heimpflegesätzen direkt an die Heimträger sind dem Pflegebedürftigen ausreichende finanzielle Mittel für Lebensunterhalt und Pflegebedarf zur Verfügung zu stellen.
Zweitens. Die Pflegebedürftigen müssen ihre Pfleger selbst wählen können.
Drittens. Pflegeabhängige müssen ihren Alltag selbst bestimmen können; im Heim ist das eben nicht der Fall.
Viertens. Pflegeabhängige sollten selbst entscheiden können, wo, mit wem, mit wie vielen und wie sie leben wollen.
Zur finanziellen Sicherung der Pflegebedürftigen schlagen wir die Neueinführung eines Unterstützungsgeldes zwischen 50 und 150 DM bei geringer Pflegebedürftigkeit vor. Bei erheblicher Pflegebedürftigkeit soll das Pflegegeld deutlich höher als heute sein können. Wir schlagen eine Größenordnung zwischen 340 und 1 400 DM vor. Bei angemessener Reduzierung des Pflegegeldes werden alternativ auch die Kosten einer Pflegeperson übernommen. Damit wird die volle Wahlfreiheit zwischen Geld- und Sachleistungen garantiert.
Die Kosten sollen je zur Hälfte von Bund und Ländern getragen werden. Die Leistungen sollen — wie bei der Krankenversicherung — frei gewählt werden können.
Weiter schlagen wir den Ausbau neuer Wohn-und Betreuungsformen vor. Schwerpunktmäßig sollen die Wohngruppenpflege, die Beschaffung bedarfsgerechten Wohnraums und vor allem die Bereitstellung vom ambulanten Diensten gefördert werden, die rund um die Uhr, 24 Stunden, für die Pflegebedürftigen bereit sind.
Die Pflege in Heimen erhält Nachrang und soll 1995 finanziell nicht mehr unterstützt werden. Finanzielle Hilfen in der Hand der Betroffenen und der Aufbau neuer Wohn- und Betreuungsformen schaffen die Voraussetzungen, um die Entmündigung der Pflegebedürftigen aufzuheben.
Daneben schlagen wir noch Schutzrechte zur Verbesserung der Rechtsstellung der Gepflegten vor, vor allem die Einführung einer PflegeOmbudsperson in jeder Stadt bzw. in jedem Kreis, die umfassende Kontroll- und Einsichtsrechte in den Pflegebereich erhalten soll.
Und nun ein letztes zum Geld: Dieses Gesetz würde die Kommunen finanziell wesentlich entlasten. Darüber hinaus würden mindestens 250 000 zusätzliche, neue Arbeitsplätze in der Pflege geschaffen. Statt die Geldmittel in Heime, in Mauern und Maschinen zu stecken, fordern wir ihre Umlenkung in den personalintensiven Pflegebereich zur Selbstbestimmung der Betroffenen.
Danke schön.