Rede von
Dr.
Inge
Segall
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu der hier zu behandelnden Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN möchte ich mir jeden Hinweis auf berühmt-berüchtigte Verlautbarungen aus dem Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen ersparen.
Man kann nur vermuten, daß in dieser politischen Gruppierung die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Zu diesem Schluß muß man auch kommen, wenn man sich die Große Anfrage und den heute vorgelegten Entschließungsantrag der GRÜNEN ansieht. Die Große Anfrage vom November 1984 zeigt noch das Bemühen der GRÜNEN, mit ihren
Fragen Einsicht in das vielschichtige Problem zu gewinnen und nach Lösungsmöglichkeiten und Hilfen zu suchen. Ganz anders sind die Töne im Entschließungsantrag; doch darauf möchte ich später zurückkommen.
Zunächst einmal möchte ich feststellen, daß sich die Bundesregierung mit der Beantwortung der Großen Anfrage große Mühe gemacht hat und damit jedem Interessierten einen guten Einblick in die vielschichtige Problematik des Phänomens sexueller Mißbrauch von Kindern gibt. Sicher herrscht auf allen Seiten dieses Hauses Einstimmigkeit darüber, Kindern den Schutz des Gesetzes angedeihen zu lassen. Es kann aber nicht übersehen werden, daß gerade beim sexuellen Mißbrauch von Kindern häufig eine Mauer des Schweigens errichtet wird, die auch mit gesetzlichen Maßnahmen nicht überwunden werden kann. Daher ergibt sich in diesem Bereich eine sehr hohe Dunkelziffer. Insofern bin ich bereit, den Satz aus dem Entschließungsantrag der GRÜNEN „Schon die hohen Dunkelziffern belegen das Versagen vornehmlich strafrechtlich orientierter Lösungsansätze" zu unterstreichen. Aber wie so häufig im politischen Bereich ist man bei der Benennung von Übelständen noch einer Meinung. Jedoch gehen die Meinungen nicht nur bei der Therapie, sondern auch bereits bei der Diagnose weit auseinander. Sicher können wir uns auch bei der Diagnose noch über einige Ursachen einigen, die zu Konflikten in der Familie und in der Gesellschaft führen können, die ihren Ausdruck unter Umständen in Gewaltanwendung gegenüber dem Schwächeren finden. Es sollte jedoch anerkannt werden, daß die sozialen Bedingungen in der Bundesrepublik Deutschland heute nicht mehr als die Hauptursache für sexuellen Mißbrauch von Kindern angesehen werden können. Eine Anklage der patriarchalischen Herrschafts- und Machtverhältnisse erscheint mir schlichtweg abwegig.
Der Versuch, die individuelle Verantwortlichkeit des Täters dadurch zu mindern, daß man die Schuld in den Verhältnissen sucht, geht meines Erachtens insbesondere bei diesen Delikten an der Wirklichkeit vorbei. Nicht in den sozialen Verhältnissen, sondern in der Persönlichkeitsstruktur der Täter liegt die Ursache des Fehlverhaltens. Soziale Verhältnisse sollten daher auch nicht zur Entschuldigung des Täters herangezogen werden.
Sosehr also der Gesetzgeber durch eine entsprechend strikte Rechtsprechung gefordert ist, für den Schutz von Kindern zu sorgen, so liegt das Hauptproblem doch bei der Wachsamkeit aller. Da es sich, wie wir festgestellt haben, häufig um ein verschwiegenes Leid mit einer hohen Dunkelziffer handelt, können wir nur an alle appellieren, ein aufmerksames Auge für dieses Leid zu haben. Gleichgültigkeit in allen Fällen von Mißhandlung ist eine Anklage gegen jeden von uns. Von der Bundesregierung fordern wir aber außerdem, in ihrem Bemühen um Aufklärung nicht nachzulassen, um auf diese Weise in der Bevölkerung ein besseres Verständnis und mehr Hilfsbereitschaft zu entwickeln. Darüber hinaus sollten Einrichtungen wie Kinderschutzzentren
12156 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 162. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Oktober 1985
Vizepräsident Stücklen
und andere Anlaufstellen für Notfälle wie etwa auch das Nottelefon gefördert werden.
Von dieser Stelle aus möchte ich auch noch einmal auf die segensreiche Arbeit des Kinderschutzbundes hinweisen und für eine breite Unterstützung gerade dieser Organisation werben.