Rede von
Manfred
Reimann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Die Aussagen der Wissenschaftler, Formaldehyd sei eindeutig krebserregend, ist nicht neu. Neu werden auch nicht die Ausreden und Aussagen der Bundesregierung und der Industrie sein, wenn es gilt, den Bericht des obersten wissenschaftlichen Beratergremiums der Europäischen Gemeinschaft zu diskutieren und zu kommentieren. Wahrscheinlich wird es wieder heißen, Frau Minister, daß die Tierversuche nicht ausreichen, um festzustellen, daß dieser Stoff krebserzeugend ist. Dann muß man sich natürlich einmal die Frage stellen: Warum machen wir denn überhaupt noch Tierversuche? Sollten wir denn nicht auf die Tierschützer Rücksicht nehmen und ihrem Wunsch nachkommen, Tierversuche abzuschaffen?
Es ist ein Jahr her, daß die Frage Formaldehyd diskutiert wurde. Es gab mehrere Feststellungen: erstens des Bundesgesundheitsamtes, zweitens des Amtes für Arbeitsschutz, drittens der Weltgesundheitsorganisation und viertens des Bundesumweltamtes. Sie alle hatten mehrheitlich festgestellt, daß dieser Stoff krebserzeugend sei. Nur der massive Streit der Wissenschaftler untereinander, der in den Gremien, einschließlich der MAK-Kommission, zu einem Kompromiß geführt hatte, hat die Einstufung „krebserregend" gebracht. Ich frage mich: Kann man überhaupt einen Kompromiß in dieser Frage von den Wissenschaftlern treffen lassen? Wäre man der damaligen Erkenntnis der Wissenschaftler, die sich für krebserzeugend und nicht für krebsverdächtig ausgesprochen haben, gefolgt, wäre dieser Stoff in der MAK-Liste nach A gekommen statt nach B, und wir hätten eine große Diskussion, wie auch heute wieder, nicht gehabt. Erzeuger und Verbraucher würden nicht in einen neuen Schock der Angst versetzt, einmal, was Absatz und Arbeitsplätze, zum anderen was Kauf und Verbrauch anbelangt.
Ich brauche mich auch nicht zu korrigieren, wenn ich meine Position von vor einem Jahr wiederhole, wo ich gesagt habe: Der Schrei nach einem Verbot hilft nicht. Aber die Einstufung in die Liste der krebserzeugenden Stoffe hilft. Nur so können Ökonomie und Ökologie unter einen Hut gebracht werden. Das hätte für die Industrie auch die Chance, sich intensiver um Ersatzstoffe zu bemühen, was sicherlich schon an der einen oder anderen Stelle geschieht. Es hätte aber auch die Chance, dem Verbraucher einen verbesserten Schutz zu geben.
Ich meine auch, daß die Bedeutung von Formaldehyd als Wirtschaftsfaktor nicht unterschätzt werden darf. Denn wenn die Zahlen stimmen, wird immerhin ein Jahresumsatz von 300 Milliarden DM erzielt und werden Arbeitsplätze von nahezu 3 Millionen damit in Verbindung gebracht. Man muß natürlich auf die Dauer davon ausgehen, daß nur gesunde Arbeitsplätze und gesunde Produkte die Arbeitsplätze sichern und die Produkte für die Zukunft verkaufbar machen.
In der gesamten Diskussion kommt meines Erachtens zu kurz, daß die Herstellung und der Verbrauch nicht unterschieden werden. Für die Herstellung von Formaldehyd scheint in der Tat kein Gesundheitsproblem zu bestehen, weil Formalin im geschlossenen Kreislauf hergestellt wird. Beim Verbrauch haben wir am Beispiel der Spanplattenherstellung bzw. bei der Verarbeitung und nach der Verarbeitung in Schulen, in Turnhallen, in Kindergärten Probleme gehabt. Das muß aufgegriffen werden, durch Verordnungen, durch neue Richtlinien, durch Auflagen, durch Mengenbegrenzungen, genauso wie die Kennzeichnungspflicht bei Kosmetika oder bei Arzneimitteln.
Wenn man das alles so sieht, kann man doch abschließend nur werten, daß der einzige Vorteil der heutigen Diskussion darin besteht, daß dieses Problem erneut auf der Tagesordnung ist, daß darauf hinzuwirken ist, daß die Industrie krebsfreie Stoffe entwickelt und daß die Industrie auch ihre gesamte Altlast auf Krebspotential hin zu untersuchen beginnt, um aus der negativen öffentlichen Diskussion herauszukommen und um den Menschen vor schädlichen Einwirkungen zu sichern. Es hat immerhin über 100 Jahre bedurft — denn so lange wird Formaldehyd schon hergestellt. Der Grund der Langzeitwirkung von Formaldehyd läßt erst heute die gesundheitsschädigenden Wirkungen zur Diskussion kommen. Erst nach langer Zeit wurden die gesundheitsschädigenden Wirkungen von Formaldehyd deutlich.