Rede von
Udo
Tischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gleich zu Beginn möchte ich an dieses Hohe Haus die Kritik tragen, daß ich es für einen jämmerlichen Zustand halte, wenn eine Petition wie die des Herrn S ... aus Wolfsburg in nur fünf Minuten Redezeit abgehandelt werden muß.
— Piano, piano, langsam! Ich meine, daß eine Petition gerade in der Frage Schichtarbeit mehr Aufmerksamkeit finden muß, da neben Herrn S ... 15 bis 20 % der Erwerbstätigen Schichtarbeit leisten, die Sie dann einfach übergehen. Diese ca. 3,6 Millionen Schichtarbeiter — die Zahl stammt aus dem Buch „Humanisierung des Arbeitslebens in der BRD" — haben schon lange schwelende Probleme, die ich aus eigener Erfahrung meiner siebenjährigen Schichttätigkeit bei Videocolor in Ulm selber kennengelernt habe.
Schichtarbeiter verfügen in der Regel nicht über die Möglichkeit, sich abends am Stammtisch, in der Partei oder im Sportverein mit Freunden zu treffen, da sie entweder um 22 Uhr erst von der Arbeit kommen oder dann die Nachtschicht beginnen. Da ist also abends nichts los mit der Wahrnehmung von irgendwelchen Terminen. Besonders die Situation von Wechselschichtarbeitern zeigt auch auf, welche gesundheitlichen Störungen und Schäden Schichtarbeit mit sich bringt. Durch den wöchentlichen Schichtwechsel und die dadurch bedingten laufend wechselnden Ruhezeiten ist dem Organismus keine Möglichkeit gegeben, sich den Arbeitszeiten anzupassen. Kreislaufbeschwerden, Magengeschwüre und Schlafstörungen sind nur ein Teil typischer Krankheitsbilder betroffener Schichtarbeiter. Es kommt nicht von ungefähr, daß Schichtarbeiter z. B. dreimal schneller zu Schlafmitteln greifen oder dreimal schneller zum Genuß des Alkohols neigen; sie trinken das Doppelte dessen, was ein normal Arbeitender trinkt.
— Das steht alles in dem Buch „Humanisierung des Arbeitslebens in der BRD";
daraus können Sie die ganzen Zahlen entnehmen.
Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann melden Sie sich zu Zwischenfragen.
Wenn man sich den gesundheitlichen Zustand von Schichtarbeitern nach 15 oder 20 Schichtjahren ansieht, dann ist der Bogen nicht überspannt, wenn
man sagt, Schichtarbeit ist Mord und Selbstmord auf Raten. Die sozialen und gesundheitlichen Folgen langjähriger Schichtarbeit lassen die Schlußfolgerung zu, daß vor allem die Nachtschichtarbeit und aber auch die Wechselschichtarbeit überall dort verboten werden muß, wo sie nicht lebens- und überlebensnotwendig ist.
Dies ist keine Frage der Ideologie irgendwelcher Parteien, sondern eine Frage der menschlichen Rücksichtnahme aufeinander, der wir uns hier stellen müssen. Ich glaube, diesen Punkt, Herr Jagoda, haben Sie bei dieser Problematik gar nicht erkannt.
— Aus den Ausführungen, die Sie gerade eben gemacht haben.
Die Fraktion der GRÜNEN hat deshalb aus diesen menschlichen Motiven im Arbeitszeitgesetzentwurf, der bereits am 25. Oktober 1984 diesem Parlament vorgelegt wurde, überall dort ein Nachtschichtverbot gefordert, wo dies möglich ist. Die Fraktion der GRÜNEN hält die Forderung von Herrn Karl Heinz S ... und seiner Kollegen bei VW in Wolfsburg, Schichtarbeitern einen früheren Ruhestand zu gewähren, für sinnvoll und aus gesundheitlichen Gründen auch für notwendig.
Für meine Fraktion kann ich sagen, daß wir diese Forderung in unsere Überlegungen zur Schichtarbeit mit aufnehmen werden. Wenn Soldaten, wie jüngst beschlossen, zukünftig mit 46 Jahren in die Rente gehen können
und, Herr Jagoda, so etwas auch noch finanziert werden kann, dann kann auch die Forderung der Schichtarbeiter von VW keine Utopie sein.
Sie können nicht das eine für Utopie erklären und das andere zum Gesetz machen; so was funktioniert nicht.
Damit die Forderungen der Kollegen von VW in Wolfsburg nicht in den Akten auf Nimmerwiedersehen verschwinden, wie es die CDU ja gerne wünscht, wird die Fraktion der GRÜNEN die Petition des Herrn S ... zum Anlaß nehmen, mit parlamentarischen Initiativen das Problemfeld Schichtarbeit erneut aufzugreifen und zur Behandlung im Deutschen Bundestag zu bringen; da gibt es ja zum Glück noch Möglichkeiten. Die Bundesregierung, aber auch die Gewerkschaften, sind dazu aufgefordert, sich mehr als bisher für eine Lösung des Problems der Schichtarbeit zu engagieren.