Rede von
Ottmar
Schreiner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, daß nach den Ausführungen des Herrn Schlottmann hier einige deutliche Worte notwendig sind. Wenn ihm in einem zuzustimmen ist, dann in der Aussage, daß es in Sachen Familienpolitik schwerwiegende Differenzen zwischen den großen Parteien gibt. Der Gesetzentwurf der Koalition ist nicht, wie der Bundesfamilienminister meint, der Durchbruch einer neuen Idee. Der Gesetzentwurf vermag auch nicht davon abzulenken, daß die Politik der Rechtskoalition unzählige Familien in materielles Elend gestürzt hat.
Das von Ihnen konstruierte Erziehungsgeld wird darüber hinaus keineswegs den bedrängten Familien helfen; im Kern zielt es darauf ab, den in Gang befindlichen Rausschmiß vieler Frauen aus dem Erwerbsleben zusätzlich zu beschleunigen.
Zur ersten These. In einer Erklärung des Kommissariats der Deutschen Bischöfe vom 7. September 1983 heißt es:
Unbestritten wirkt sich eine ganze Reihe von Sparmaßnahmen zu Lasten der Familie aus, angefangen von den Kürzungen beim Bafög bis zur Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Den katholischen Bischöfen kann von der Sache her leider nur zugestimmt werden. Die gewaltigen Umverteilungsmaßnahmen zu Lasten der sozial Schwächeren haben in der Tat in die Haushalte der Arbeitnehmerfamilien, der Rentner-, Arbeitslosen- und Behindertenfamilien — um nur einige zu nennen — große Löcher gerissen.
Es kommt noch erheblich dicker, Herr Minister, obwohl die Sache Sie augenscheinlich nicht interessiert. Am 26. Februar 1985 berichtet die „Westfälische Rundschau" über den öffentlichen Aufruf eines Iserlohner Diakoniepfarrers, Hungernden — Hungernden in der Bundesrepublik Deutschland! — mit Spenden zu helfen. Der Pfarrer wörtlich:
Irgendwann mußten sich doch die Folgen jahrelanger Arbeitslosigkeit und falscher Sozialpolitik bemerkbar machen.
Die renommierte Züricher „Weltwoche" versieht einen Bericht über Armut in der Bundesrepublik am 20. Mai dieses Jahres mit der Überschrift:
Wenn das Geld nicht einmal für das Essen reicht.
Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung" berichtet am 1. März 1985 über hungrige Mütter in der Bundesrepublik, von denen es immer mehr gebe, unter dem Titel:
Mütter aus Arbeitslosen-Familien essen sich in der Kur wieder satt.
Diese alarmierenden Meldungen lassen sich aus allen Teilen der Bundesrepublik nahezu beliebig fortsetzen.
Der amtierende Bundespropagandaminister — das ist die entscheidende Schlußfolgerung — ist drauf und dran, den Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland zu spalten.
Das ist der entscheidende Punkt. Immer mehr Menschen werden aus den eh schon hart zerzausten Systemen der sozialen Sicherung herausgekippt und in existentielle Not gestürzt, vor allem Frauen, aber auch viele Kinder in den betroffenen Familien.
Haben Sie, Herr Bundespropagandaminister,
jemals einen Blick in die Stuben der neuen Armut geworfen?