Rede von
Prof. Dr.-Ing.
Karl-Hans
Laermann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich vor etwas mehr als zehn Jahren in dieses Parlament kam, stand das Thema Technikfolgenbewertung, Technikfolgenabschätzung schon auf der Tagesordnung. Ich habe es von meinem Vorgänger übernommen. Wir haben jetzt inzwischen alle möglichen Diskussionen zu diesem Thema geführt, z. B. darüber nach dem System des amerikanischen Office of Technology Assessment eine Minibürokratie einzurichten, mit Alibifunktion gegenüber dem Parlament, wir haben über einen Science Court, über ein Wissenschaftsparlament diskutiert. Aber ich denke, daß die Fragen der Technikbewertung und Technikfolgenbewertung eine wichtige und andauernde politische Aufgabe darstellen, eine Aufgabe, der sich heute im industrialisierten Zeitalter die Parlamente nicht entziehen können und nicht entziehen sollen. Sie haben damit eine große Verantwortung übernommen, über neue technische Entwicklungen, deren Chancen und Risiken, deren Wirkungen auf den einzelnen wie auf die Gesellschaft zu urteilen, diese Wirkungen zu erfassen und in die parlamentarische Arbeit mit einzubeziehen. Ich möchte an dieser Stelle auch schon deutlich sagen, daß es eine wichtige Aufgabe in dieser Auseinandersetzung mit neuen Technologien auch ist, sich nicht bloß auf Spekulationen, auf Emotionen zu verlassen; diese sind wenig hilfreich, sowohl nach der einen als auch nach der anderen Seite. Das hilft uns genausowenig wie Euphorie in bezug auf neue technische Entwicklungen und ihre unbegrenzte Nützlichkeit.
Verfolgt man die Geschichte der Umsetzung wissenschaftlicher, insbesondere naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in Technik und deren Nutzung, so wird man feststellen, daß es stets und zu allen Zeiten eine Art Bewertung neuer Erkenntnisse gegeben hat. Eine Befassung mit den Folgen solcher Erkenntnisse für den Menschen, insbesondere auch für die Gesellschaft oder die zum jeweiligen Zeitpunkt herrschende Staats- und Gesellschaftsform hat immer stattgefunden. Es hat also schon immer, solange wir die Geschichte der Menschheit zurückverfolgen können, eine Art Bewertung im Hinblick auf den Nutzen neuer Erkenntnisse für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft gegeben, allerdings mehr eine Bewertung in positiver Richtung, weil es bei lange währenden Prozessen in den Frühzeiten mehr evolutionäre Entwicklungen waren, die eher negativ zu beurteilenden Folgen entweder überhaupt nicht auftraten, im Verlauf der langen Entwicklungszeiten auch abgewehrt werden konnten und im Vergleich zu den erlangten Vorteilen nicht als hemmend empfunden wurden bzw. Ablehnung und Vorurteile sich im Verlauf einer Entwicklung als nicht zutreffend erwiesen und manches zunächst negativ Beurteilte infolge sozialer und geistiger Wandlungen dann später überhaupt anders beurteilt wurde, als dies im Augenblick der Gewinnung neuer Erkenntnisse geschehen ist und geschehen konnte.
Mit beginnender Industrialisierung im 19. Jahrhundert aber vollzogen sich Entwicklungen bereits immer rascher. Ihre Bewertungen bezogen sich in erster Linie — ich behaupte: nahezu ausschließlich — auf den ökonomischen Nutzen und in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in starkem Maße auch auf den militärischen Nutzen. Eine Vielzahl technischer Entwicklungen wurde gerade nicht aus dem uralten Streben der Menschheit nach ihrer Befreiung von der Naturbefallenheit hervorgebracht, sondern aus dem Wunsch nach Aufbau und Erhaltung von Macht, wirtschaftlicher und politischer Macht mit einer zwangsläufigen Tendenz zu immer größeren, konzentrierteren und komplexeren Systemen. Gewaltige Maschinenkombinate, Nachrichtensysteme, aber auch Verwaltungs- und Organisationsapparate in Verbindung mit für das Individuum, ja selbst für die gesetzgebenden Gremien unüberschaubaren EDV-Systemen sind im Laufe der letzten Zeit entstanden. So hat Istvan Illich zu Recht die Frage aufgeworfen, ob nicht die mächtigen Apparate und Maschinen den Menschen zum Sklaven machen und die politischen Systeme entmachten.
Der technische Fortschritt hat nun einmal wegen der enormen Geschwindigkeit der Entwicklungen, wegen der ungeheuren Fülle der Erkenntnisse, der Explosion der Gesamtheit des Wissens und der damit verbundenen unvermeidbaren „Verdummung"
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1984 8057
Dr.-Ing. Laermann
des einzelnen, wegen der nur auf wenige, sehr einseitige Aspekte gerichteten Folgenbewertungen zu schädlichen Neben- und Folgewirkungen, ja im Laufe der Zeit zu einer Kumulierung von schädlichen Wirkungen, zu einer Leben und Gesundheit bedrohenden Schädigung der Natur, aber auch zur Beeinträchtigung der sozialen Umwelt — Herr Kollege Vahlberg, dazu gehört für mich selbstverständlich auch die Arbeitswelt des Menschen —, zur Ausbeutung der Natur im weitesten Sinne dieses Begriffes geführt. So schreibt Fromm in seinem Buch „Haben oder Sein" — ich zitiere —:
Die industrielle Gesellschaft verachtet die Natur ebenso wie alles, was nicht von Maschinen hergestellt wird. Die Menschen sind heutzutage fasziniert vom Mechanischen, von der mächtigen Maschine, vom Leblosen und in zunehmendem Maße von der Zerstörung.
Meine Damen und Herren, gerade auf Grund dieser Worte ist es unsere Verpflichtung, die Verpflichtung des Parlaments, ist es unsere ungeheuer große Verantwortung vor der Zukunft, diesen Trend zum Positiven hin zu verändern. Eine vorausschauende Beurteilung und Folgenbewertung neuer technischer Entwicklung ist aus vielen Gründen erforderlich geworden. Manche Auswirkungen in politischer, wirtschaftlicher, sozialer oder ökologischer Beziehung hätten verstärkt werden können im Sinne positiver, also erwünschter Wirkungen, manche negativen Folgen im Sinne unerwünschter Nebenwirkungen hätten bei rechtzeitiger Erkenntnis und unter Berücksichtigung der damit verbundenen negativen Wirkungen vermieden werden können, zumindest teilweise vermieden oder durch entsprechende Maßnahmen aufgefangen werden können.
Ich muß an dieser Stelle die Frage offenlassen, wie und wer erwünschte und unerwünschte Wirkungen definiert. Es wird sicherlich ein Problem sein, aus der jeweiligen Position heraus festzustellen, was positiv oder negativ, was erwünscht oder unerwünscht ist.
— Sicherlich. Aber ich denke, in einem demokratischen Prozeß, Frau Kollegin Hickel, werden die Auseinandersetzungen um „erwünscht" oder „unerwünscht" in fairer Weise ausgetragen werden können und ausgetragen werden müssen. Das ist wohl letztendlich auch der Grund, warum wir uns für die Einrichtung einer Kommission zur Technikfolgenbewertung einsetzen.
Ich denke, daß diese Kommission wichtige Aufgaben wahrnimmt, nämlich als Kontakt- und Anlaufstelle, als Nahtstelle zwischen Politik und den Bürgern einerseits, aber auch zwischen der Politik und den Wissenschaften, der technischen Intelligenz andererseits. Dieses ist eine der wichtigsten Funktionen der Kommission, wie sie in den vorliegenden Anträgen gefordert ist.
Wenn sie dieser ihrer Querschnittsfunktion entsprechen und sie wirkungsvoll erfüllen soll, dann kann und darf sie nicht allein mit Technologen und Technokraten besetzt werden.
Das ist nicht eine Aufgabe, die nur die Techniker wahrnehmen können. Wenn die Kommission ihre Querschnittsfunktion erfüllen soll, dann muß sie ihrem Charakter nach interdisziplinär besetzt sein.
Ich habe in den vorbereitenden Gesprächen gesagt — ich wiederhole das, weil es für mich der Kernpunkt der ganzen Geschichte ist —: Es müssen alle politikrelevanten Bereiche in dieser Kommission vertreten sein. Hier sollte es nicht darum gehen, daß in erster Linie nach Fraktionskontingent besetzt wird, sondern danach, daß in erster Linie die verschiedenen Politikbereiche vertreten sind. Ähnliches müßte in bezug auf die Sachverständigen gelten. Ich halte dies für eine unverzichtbare Bedingung.
Ich will nun nicht im einzelnen auf die Anträge eingehen. Aber ich möchte ebenso wie der Kollege Lenzer Herrn Vahlberg und den Kollegen von der SPD-Fraktion gegenüber mein Bedauern darüber ausdrücken, daß wir hier nicht, wie doch im Forschungs- und Technologieausschuß ursprünglich beschlossen wurde, einen interfraktionellen Antrag einbringen. Sie sind ausgestiegen. Herr Kollege Vahlberg, wir wollen doch der Wahrheit die Ehre geben: Wir wollten Ihnen j a entgegenkommen. Wir wollten zu den Lebensbedingungen die Arbeitsbedingungen hinzufügen. Aber selbst dieses haben Sie nicht akzeptiert. So sind wir bei der alten Vereinbarung geblieben.
Was heißt denn eigentlich „Lebensbedingungen"? Muß man das im einzelnen so aufdröseln, wie Sie das tun? „Lebensbedingung" heißt selbstverständlich auch Einschluß der Arbeitsbedingungen, der Arbeitswelt.
So, wie Sie, Herr Vahlberg, es vorhin dargestellt haben, in dieser unheimlichen Breite, gibt Ihr Antrag das überhaupt nicht her. Gleichzeitig werfen Sie dem Antrag der übrigen Fraktionen vor, er sei zu breit und zu allgemein gefaßt. Wenn das, was Sie hier vorgetragen haben, Gegenstand der Arbeit werden soll, dann müssen Sie unserem Antrag, wie wir ihn ursprünglich formuliert hatten, zustimmen.
— Herr Stahl, Sie reden immer soviel. Ich kann Sie gar nicht verstehen. Lassen Sie mich noch einen Satz sagen, da hier schon das rote Lämpchen leuchtet. Sonst bekomme ich Ärger mit dem Präsidenten.
— Was ist denn das?
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß wir uns in den anschließenden Ausschußberatungen recht bald verständigen, daß Sie nicht bei
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Dr.-Ing. Laermann
Ihrer einseitigen Orientierung auf „Ausmaß, Struktur und Inhalt der Beschäftigung unter Berücksichtigung sektoraler und regionaler Aspekte" bleiben. Welche unzulässige und unvernünftige Einengung der Aufgaben einer solchen Kommission!
Ich sage noch einmal: Sie muß im wahrsten Sinne des Wortes philosophischer angesetzt sein, weiter übergreifend über alle Politikbereiche. Da kommen Sie mit sektoralen und regionalen Aspekten! Verdammt eng!
Danke schön.