Rede von
Dr.
Heiner
Geißler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das neue Jugendschutzgesetz, das heute verabschiedet werden soll, war überfällig.
Und wenn die Sozialdemokraten sagen, sie hätten im November 1982 die Initiative übernommen und eine Kleine Anfrage gestellt,
dann müßte die Frage eigentlich lauten: Warum hat denn die alte Regierung auf diesem Gebiet nichts getan? -
Es wird höchste Zeit, daß Regierung und Parlament der Eskalation an Gewalt und Brutalität, insbesondere auf Video-Kassetten, einen Riegel vorschieben. Es gibt kaum ein politisches Feld, mit Ausnahme der Frage des § 218 des Strafgesetzbuches, der der Schwangerschaftsunterbrechung, zu dem mich in den vergangenen Monaten und Jahren so viele Petitionen und Briefe erreicht haben wie hier angesichts dieser negativen Entwicklungen. Viele Eltern, Lehrer, in der Jugendarbeit Tätige warten seit Jahren auf dieses Gesetz. Mehr als ein viertel Million Bürger unseres Landes haben mir in letzter Zeit geschrieben mit der Forderung: Stoppt die Brutalisierung in Wort und Bild und — als Folge davon — auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
8008 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1984
Bundesminister Dr. Geißler
Der Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP vorlegen, ist einer für junge Menschen, für ihre Eltern, für die Familien. Die Forderungen nach einem verbesserten Jugendschutz entspringen nicht nur prüden Ängsten, einer Prüderie oder gar Vorstellungen, daß Zensur eingeführt werden müsse, sondern es geht im Gegenteil um die Würde der Menschen, um die freie Entfaltung von Jugendlichen, die durch die Brutalographie zerstört wird.
Und es geht um die Verantwortung der Eltern, die der Staat nicht abnehmen kann, die er aber unterstützen kann. Man kann es mit einem Wort zusammenfassen: Auf Kosten der Kinder und Jugendlichen dürfen keine brutalen Geschäfte mehr gemacht werden.
Das neue Jugendschutzgesetz dient dem Schutz des Schwächeren, so, wie es auch im Grundgesetz gefordert ist. Es ist deshalb kein rückschrittliches, sondern ein fortschrittliches Gesetz.
Ich möchte etwas zur Würde des Menschen sagen, die im Grundgesetz geschützt ist. Frau Schoppe, ich habe die Ausführungen dieses Rechtsprofessors im Hearing nicht nachlesen können, aber wenn tatsächlich einer gesagt haben sollte, die Würde des Menschen sei in unserer Gesellschaft gegen die Mehrheit oder gegen die anderen nicht zu schützen,
sondern jeder müsse seine Würde selber schützen: Sie finden für jeden Schwachsinn auch eine Professor. Das ist richtig.
Nur muß man die große Mehrzahl der anderen Professoren vor solchen Leuten, vor solchen Sprüchen in Schutz nehmen — ausdrücklich in Schutz nehmen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar", steht in unserer Verfassung. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Der Staat kann und darf nicht zusehen, wie manche Produzenten oder Verleiher von Video-Filmen dieses Verfassungsgebot mit Füßen treten. Die Bundesregierung begrüßt es daher ausdrücklich, daß künftig die Herstellung und die Einfuhr exzessiver, die Menschenwürde verletzender Gewaltdarstellungen strafrechtlich verboten sein muß.
Von seiten der Opposition ist in den Beratungen angezweifelt worden, ob ein solches Verbot verfassungsgemäß sei. Man hat argumentiert, hier stehe möglicherweise das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit und der Kunstfreiheit entgegen. Ich bin hier ganz anderer Meinung. Man kann sogar der Auffassung sein: daß dieser Zustand so lange angedauert hat, daß zugelassen worden ist, daß Videofilme dieser Art in der Bundesrepublik
Deutschland verkauft, verliehen werden konnten, widerspricht zumindest dem Geist der Verfassung. Was der neue § 131 des Strafgesetzbuches verbietet, hat mit Kunst nichts zu tun. Die Menschenwürde, wie sie im Grundgesetz verankert wird, ist keine dekorative Floskel und auch kein „schwammiger Begriff", wie kürzlich im „Spiegel" zu lesen war. Die Verfasser des Grundgesetzes haben den Schutz der Menschenwürde vielmehr vor dem Hintergrund der NS-Zeit, in der die Menschenwürde mit Füßen getreten wurde, bewußt zur zentralen Leitnorm unserer Verfassung gemacht. Sie wußten aus leidvoller Erfahrung, was es bedeutet, wenn Menschen zum Objekt gemacht, mißhandelt und abgeschlachtet werden. In zahlreichen Videofilmen wird genau dies dargestellt, wie Menschen zum Objekt gemacht, brutal mißhandelt oder auf bestialische Weise abgeschlachtet werden. Das Grausame und Unmenschliche solcher Vorgänge wird hier breit dargestellt zu dem einzigen Zweck, den Umsatz zu steigern.
Die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Forschung und Lehre — darauf legt die Bundesregierung Wert, dies festzustellen — wird durch ein solches Verbot nicht beeinträchtigt, ebensowenig wie die Meinungs- und Informationsfreiheit eingeschränkt wird. Der Artikel 5 des Grundgesetzes ist ein wichtiges, aber auch kein schrankenloses Grundrecht. Dokumentationen, Berichte über Ereignisse des Zeitgeschehens und der Geschichte werden von dem Verbot nicht tangiert, und zwar auch dann nicht, wenn grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen dargestellt werden. Der Holocaust, die Verbrechen der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern oder die Verbrechen von Kommunisten in Laos, Kambodscha, Vietnam oder in der Sowjetunion selber im Archipel GULag, alle diese Verbrechen verletzen die Menschenwürde, aber selbstverständlich nicht ihre Darstellung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten die Dinge und die Begriffe hier nicht verwirren. Dokumentationen über diese historischen Verbrechen und Horror und Brutalität auf Kassetten sind zwei verschiedene Dinge. Wir wollen diese verbieten, um auch dazu beizutragen, daß sich jenes nicht wiederholt.
Die Darstellung von Brutalität und Gewalt in den Medien ist jedoch nicht nur eine Herausforderung für den Jugendschutz und das Strafrecht. Wir alle müssen dazu beitragen, daß die Toleranzschwelle gegenüber Gewaltdarstellungen nicht weiter absinkt. Das ist eine Aufgabe für Eltern und Erzieher, vor allem aber auch für Zeitungen und Fernsehen: was auf Kassetten verboten ist, darf nach meiner Meinung im Fernsehen nicht erlaubt sein.
Die Sicherung des Friedens ist ein vorrangiges Ziel der Politik. Die Erziehung zum Frieden beginnt in den Kinderzimmern. Dort müssen Kinder lernen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Deswegen muß dieser Bereich von solchen Videokassetten frei gehalten werden. Das ist eine Frage der Verantwortung der Eltern. Es wäre nicht nur für die Jugendlichen, sondern für unser ganzes Volk verhängnis-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1984 8009
Bundesminister Dr. Geißler
voll, wenn Gewalt, Gewalttaten und Gewalttäter immer mehr zu Vorbildern im ganz wörtlichen Sinne für junge Menschen werden.
Werte Frau Schoppe, das eine will ich Ihnen hier sagen, was den Vergleich zu den Nazis anlangt: ich habe nie behauptet, daß Ihre Inhalte faschistisch sind, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es gewisse Merkmale totalitärer Entwicklungen gibt,
und zu diesen Merkmalen gehören Verschwörungstheorien, wie Sie sie auch vertreten, und zum Totalitären gehört eine elitäre Moral, wie Sie sie vertreten.
Das Rechtsbewußtsein der Menschen in diesem Lande wird auch zerstört, wenn Sie unter der Überschrift einer elitären Moral Sachbeschädigungen, Hausfriedensbruch, Nötigung, Blockaden als gewaltfreien Widerstand umdefinieren.
Hier wird das Rechtsbewußtsein ebenfalls zerstört. Und da sage ich Ihnen das eine: Diese Methoden haben Totalitäre auch in früheren Zeiten vertreten. Den Vergleich müssen Sie sich zurechnen lassen. Das ist der Punkt, um den es geht. Es geht nicht um die Inhalte.
Wir stehen auch nicht auf der Seite derer, die glauben, sie könnten das Demonstrationsrecht, vermummt zum großen Teil, zur Anwendung von Gewalt gegen Andersdenkende oder z. B. gegen die Polizei ausnützen. Das ist eher eine Konzeption, die Ihren Vorstellungen entspricht. Dies ist nicht unsere Auffassung. Wir sind dagegen, daß Gewalt zur Lösung von Konflikten in einer Demokratie angewendet wird — so oder so; da machen wir keinen Unterschied. Deswegen ist dieses Jugendschutzgesetz auch ein wichtiger Beitrag zur Friedenserziehung und zur Sicherung des Friedens in unserem Land.