Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hätte mir eigentlich gewünscht, daß die Diskussion über die Sozialpolitik und den dazugehörenden Bundeshaushalt, Einzelplan 11, in diesem Parlament mehr Raum eingenommen hätte; denn das ist ja nicht bloß der größte Einzelhaushalt im Bundeshaushalt, sondern im Zusammenhang mit diesem Haushalt kann auch für jedermann sichtbar dargestellt werden, wo und in welcher Größenordnung die Bundesregierung die Geldscheine einsammelt, nämlich bei den kleinen Leuten.
Verehrter Herr Bundesminister Blüm, dazu habe ich von Ihnen als dem zuständigen Ressortminister in Ihrer heutigen Rede sehr wenig gehört. Herr Blüm ist nicht da; ich hoffe, er wird im Laufe der Debatte noch kommen.
Das ermöglicht es schließlich dem Bundesfinanzminister, freudig zu verkünden, daß man das Klassenziel, die Nettokreditaufnahme deutlich unter 35 Milliarden DM zu senken, erreicht habe. Für welchen Preis, muß man allerdings hinzufügen.
In den nächsten Monaten — das ist das Ergebnis der Politik, wie sie Herr Blüm dargestellt hat; sie
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trifft vor allen Dingen die kleinen Leute — werden Millionen von Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Rentnern, Frauen und jungen Menschen spüren, was diese Politik für sie bedeutet. Doch davon haben wir in der heutigen Rede von Herrn Blüm auch nichts gehört.
Im November 1983 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sein Jahresgutachten vorgelegt, und die Bundesregierung hat ihre Eckwerte vom Beginn des Jahres für den Bundeshaushalt 1984 korrigiert. Die „Wirtschaftswoche" kommentierte diese merkwürdige Rechnung als „höchst zweckoptimistisch". Zwei große Ausgabenblöcke im Einzelplan 11, mit dem ich mich nun, meine Damen und Herren, in der Folge etwas näher beschäftigen möchte, werden davon mittelbar oder unmittelbar berührt.
Im ersten Ausgabenblock sind die Zuschüsse zur Sozialversicherung einschließlich der Krankenhausfinanzierung von 34,9 Milliarden DM enthalten, davon allein 24,2 Milliarden DM für die Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte. In den Jahren der sozialliberalen Regierungskoalition kritisierte der Herr Bundesarbeitsminister in der ihm eigenen blümigen Sprache den „Verschiebebahnhof Sozialversicherung" zum Ausgleich des jeweiligen Bundeshaushalts. Ich frage deshalb: Was haben Sie, meine Damen und Herren, denn im Jahre 1982 für den Haushalt 1983 getan, und was tun Sie jetzt zum Haushalt 1984?
Ich meine, mit Recht hat der Vorsitzende des Vorstands des VDR, Herr Dr. Werner Doetsch, wieder mehr Raum für Kontinuität in der Rentenversicherung gefordert.
Ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten, weil mir dies besonders wichtig erscheint:
Zur Entlastung des Bundeshaushalts 1983 wurden die Beiträge für arbeitslose Leistungsempfänger der Bundesansalt für Arbeit im Volumen um 5,1 Milliarden DM vermindert und der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung um 0,9 Milliarden DM gekürzt. Zum Ausgleich der fehlenden Einnahmen der Rentenversicherung ist die Anpassung der laufenden Renten jeweils auf den 1. Juli verschoben worden, was 3,3 Milliarden DM einbrachte. Dann wurde die Eigenbeteiligung der Rentner mit Einsparungen von rund 2 Milliarden DM eingeführt, wurden die Zahlungen an die gesetzlichen Krankenkassen für die Krankenversicherung der Rentner um 1,2 Milliarden DM vermindert und der Beitragssatz vier Monate früher angehoben, um hier nur die finanzwirksamsten Maßnahmen in Erinnerung zu rufen. Den Ausgabensenkungen standen Einnahmenkürzungen zugunsten des Bundeshaushalts in fast gleicher Höhe gegenüber. Mit dieser Politik nach dem Vorbild eines Rangiermeisters sollte es ein Ende haben.
Nichts anderes, meine Damen und Herren, gilt 1984 zum Beispiel bei der knappschaftlichen Rentenversicherung. Durch die verminderte Rentenanpassung gegenüber der bis 1982 gültigen Rentenanpassungsformel, Beitragssatzerhöhungen und die Einbeziehung des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner in den allgemeinen Belastungsausgleich wird der Zuschuß zur Knappschaft zugunsten des Bundeshaushalts um 982 Millionen DM gekürzt.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Haushaltsrisiko hinweisen, das zwar heute schon ein paarmal angesprochen und so dargestellt wurde, als gäbe es dies nicht, das aber in den letzten Monaten Schlagzeilen gemacht hat. Insbesondere Präsident Hoffmann von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und Herr Kolb vom VDR machten darauf aufmerksam, daß trotz veränderter Eckdaten bei den Entgeltsteigerungen und bei der Arbeitslosenzahl, die nunmehr bei den Rentenversicherungsträgern ebenfalls in deren Haushalte eingearbeitet wurden, beachtliche Liquiditätsengpässe für 1984 in Milliardenhöhe nicht ausgeschlossen werden.
Meine Damen und Herren, wenn man so — hier muß ich die Bundesregierung ansprechen — an der Liquiditätsgrenze entlangfährt und, wie hier bereits angekündigt, auch mit Kassenverstärkungskrediten rechnen muß, dann müßte es eigentlich bei der Bundesregierung Alarm geben.
Herr Bundesarbeitsminister, bei dieser Gelegenheit möchte ich doch in Erinnerung rufen, daß Sie, als Sie noch in der Opposition waren, keine Gelegenheit ausgelassen hätten, um die Finanzentwicklung der Rentenversicherung in einem solchen Fall in den düstersten Farben zu schildern.
Sie werden natürlich sagen: Damit keine Zahlungsschwierigkeiten entstehen, haben wir j a die Einnahmen der Rentenversicherungsträger verbessert. Natürlich sammeln Sie die dafür erforderlichen Pfennige oder Markstücke beim Weihnachtsgeld, bei den Jahresabschlußvergütungen und beim Urlaubsgeld, ja sogar beim Krankengeld für Arbeiter in Form von Beiträgen wieder ein. Für Sie gilt zukünftig — ich hätte dies eigentlich nicht gesagt, aber nachdem Sie heute meinen Freund Börner als „Dachlatten-Börner" zitiert haben, muß ich es doch tun — das Prädikat Sozialeinsammlungsminister.
Herr Dr. Doetsch vom VDR sagte am 23. November 1983 — ich darf erneut zitieren —:
Die gesetzlich vorgeschriebene Mindestschwankungsreserve von einer Monatsausgabe wird 1984 also nach derzeitigem Erkenntnisstand gerade noch überschritten. Sie reicht jedoch
— nach seiner Meinung —
zum Ausgleich der konjunkturellen und saisonalen Schwankungen nicht aus, insbesondere dann nicht, wenn man, wie bereits geschehen, die Beiträge für arbeitslose Leistungsempfänger der Bundesanstalt für Arbeit auf weniger
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als die Hälfte reduziert und damit das Arbeitsmarktrisiko der Rentenversicherung deutlich erhöht und wenn man beabsichtigt, die Sonderzahlungen, also hauptsächlich die Weihnachtsgelder, stärker in die Beitragspflicht einzubeziehen, und somit die saisonalen Unterschiede bei der Beitragseinnahmeentwicklung verstärkt.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie sind — das ist heute von meiner Kollegin Fuchs schon einmal gesagt worden — der erste Arbeitsminister in dessen Amtszeit die Rente auf Pump Wirklichkeit wird. Wir sind gespannt auf Ihre angekündigte Strukturreform. Das von Ihnen vorgeschlagene Vorruhestandsgeld ist in der Tat ein großes Geklingele um kleine Münze, wie die „Frankfurter Rundschau" vom 19. November 1983 geschrieben hat. Es wird Zeit, Herr Bundesminister, daß Sie klar sagen, was Sie wollen.
Es bleibt bei uns die Besorgnis, ob die von Ihnen geforderte Weltmeisterschaft neuer Ideen zur Stabilisierung der Staatsfinanzen nicht doch von Herrn George gewonnen wird, denn viel Spielraum haben Sie zwischen Herrn Stoltenberg und Herrn Albrecht sowieso nicht bekommen.
Übrigens, Ihre Rückkehrförderung für ausländische Arbeitnehmer kostet die Rentenversicherungsträger zusätzlich 1983 rund 100 Millionen DM und 1984 rund 580 Millionen DM — immer vorausgesetzt, meine Damen und Herren, daß nicht mehr als 20 000 davon Gebrauch machen. Denn sonst kostet es noch viel mehr.
Weil wir gerade bei den Renten sind: Wir bedauern es zutiefst, Herr Minister Blüm, daß Sie die Kürzung der persönlichen Beitragsbemessungsgrenze für Behinderte in beschützenden Werkstätten von 90 auf 70 % nicht verhindern konnten. Wie Sie es mit Ihrem sozialen Verständnis in Einklang bringen, den Schwächsten in dieser Gesellschaft, die hier über keine wirksame Lobby verfügen, die Renten zu kürzen, bleibt Ihr Geheimnis. Egal, welche Ausrede Sie auch immer dazu finden, wir sind der Meinung, daß dies zutiefst unsozial ist.
Noch ein weiteres Beispiel möchte ich in diesem Zusammenhang bringen. Die von Ihnen vorgesehenen Verschlechterungen bei der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente für neu eintretende Versicherungsfälle werden dazu führen, daß mehr als die Hälfte aller Frauen künftig bei der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente große Schwierigkeiten bekommen, es sei denn, sie zahlen den Mindestbeitrag von derzeit 84 DM monatlich freiwillig weiter. Dreimal darf man raten, wer von den Arbeitnehmerhaushalten sich das überhaupt noch leisten kann. Wo schlägt denn da das immer wieder erklärte familien- und frauenfreundliche Gewissen der Union?
Lassen Sie mich noch einen weiteren Schwerpunkt im Haushalt des Arbeitsministers hier deutlich machen. Im Kap. 11 12 wird zunächst die Arbeitslosenhilfe mit nunmehr 8,8 Milliarden DM dargestellt. In diesem Betrag ist eine Erhöhung gegenüber dem Haushaltsansatz um 1,301 Milliarden DM enthalten. Bereits für das Haushaltsjahr 1983 mußte dieser Titel mit überplanmäßigen Ausgaben von 1,8 Milliarden DM belegt werden.
Nun die Frage: Was steckt dahinter? Zunächst steckt dahinter für 1983 eine nicht erwartete —jedenfalls nicht in dieser Größenordnung — hohe Zahl von rund 90 000 zusätzlichen Arbeitslosenhilfeempfängern mit höheren Leistungsansprüchen. Und für 1984 muß die Quote der Leistungsempfänger von Arbeitslosenhilfe auf Grund der Entwicklung, von 20 auf 24 v. H., nämlich von 498 000 auf 571 200 heraufgesetzt werden. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß immer mehr auch qualifizierte Arbeitnehmer arbeitslos werden und in kürzester Zeit auf dieses fürchterliche Transportband der Arbeitslosenhilfe herunterfallen, das sie immer weiter von einer möglichen Beschäftigung hinwegträgt, daß sie für lange Zeit arbeitslos geworden sind.
Daran ändert auch die geschwächte Zunahme der allgemeinen Arbeitslosigkeit nichts, die hier schon als ein großer sozialpolitischer Fortschritt gefeiert worden ist. Wir wären froh, wenn sich die Anzeichen auf dem Arbeitsmarkt mittelfristig bestätigen würden. Doch ich sage Ihnen: Wir sind angesichts der Politik dieser Bundesregierung mehr als skeptisch.
Zur Frage, welche Beschäftigungswirkungen, welche Impulse überhaupt von diesem Haushalt ausgehen, hat mein Kollege Wieczorek bereits das Notwendige gesagt.
Die Sachverständigen in der Bundesregierung korrigierten die Arbeitslosenzahl für 1984 von 2,49 auf 2,38 Millionen im Jahresdurchschnitt, und die Korrektur der Arbeitslosenleistung-Empfängerquote um 0,5 % hat die Koalition beflügelt, die Liquiditätshilfe weiter um 180 Millionen DM zu kürzen.
Nicht weniger zimperlich sind Sie auch mit dem Votum der Selbstverwaltung umgegangen, die 200 Millionen DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den Haushalt der Bundesanstalt einzustellen. Ich habe es sehr bedauert, Herr Minister, daß Sie um diese 200 Millionen DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht gekämpft haben
obwohl Präsident Stingl deutlich gemacht hat, daß diese Kürzung dazu führt, daß es 8 000 weniger ABM-Beschäftigte gibt — 1984 sollten es sonst 70 000 sein —, so daß es 8 000 schwer vermittelbare Arbeitnehmer, Jugendliche usw. mehr geben wird, die Arbeitslosengeld und Arbeitshilfe beziehen werden, statt sinnvoll beschäftigt zu werden. Das ist die Konsequenz daraus.
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Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit hat noch einmal nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Vorausschätzungen für die neuen Arbeitslosenzahlen nur stimmen, wenn der Mittelansatz für die zentralen Bereiche der aktiven Arbeitsmarktpolitik 1984 erstmals gesteigert wird, d. h. im Bereich ABM auch im Haushalt die Mittel für die Beschäftigung von 70 000 Arbeitnehmern im Jahresdurchschnitt zur Verfügung stehen. Genau dies, Herr Minister Blüm, findet nicht statt. Mit Ihrer ursprünglichen Absicht, das Schlechtwettergeld neu zu regeln, sind Sie voll gegen die Mauer der Bauwirtschaft gelaufen. Auch die Bundesanstalt für Arbeit mußte Ihnen wie die Industriegewerkschaft Bau — Steine — Erden erst bestätigen, daß hier nichts gespart wird, sondern mehr arbeitslose Bauarbeiter beim Arbeitsamt landen werden.
Herr Präsident, ich nehme an, daß meine Fraktion mir noch die notwendigen Minuten genehmigen wird, um bis zum Ende kommen zu können. Ich glaube, es waren noch keine 20 Minuten.