Rede von
Wolfgang
Roth
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Glos, die Tatsache, daß man sich, nachdem man jahrelang kollegial und vernünftig zusammengearbeitet hat, auch mit dem Menschen Graf Lambsdorff unterhält, sollte Sie nicht zu ironischen und dümmlichen Zwischenbemerkungen veranlassen.
Ich habe im übrigen — das ist im Anschluß an dieses Gespräch kein Vertrauensbruch — Graf Lambsdorff bei diesem Mittagessen gesagt, daß ich an dieser Stelle diese Aufforderung an ihn richten werde. Auch das, meine Damen und Herren, finde ich vernünftig und fair im Umgang zwischen der Opposition und der Bundesregierung, daß man das miteinander bespricht, bevor es in der Öffentlichkeit bekannt wird.
Meine Damen und Herren, nun zur Sache.
In dieser Debatte schwelgen die Redner der Koalition von Reden über den Wirtschaftsaufschwung.
Ich bin als einer, der die Wirtschaftspolitik seit Mitte der 70er Jahre hier im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages mitverfolgt hat, zutiefst beunruhigt über das Ausmaß von Selbstbetrug und Selbstgefälligkeit, das in den Reden der Koalition hier stattfindet, und zwar einfach deshalb, weil ich mich an gewisse Fehler — ich sage das ganz offen — aus unserer eigenen Regierungszeit erinnere.
3180 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983
Roth
Als im Jahre 1976 nach der Rezession 1974/75 die Zuwachsrate des Sozialprodukts nach der Schrumpfung im Vorjahr real 5,3 % — nicht 1 % — betrug und im nächsten Jahr, 1977, 2,8 % betrug, dann 3 %, dann 4 %, also über vier Jahre hinweg solche Zuwachsraten zu verzeichnen waren, haben ich und Freunde meiner Partei und teilweise damals noch der Koalition insgesamt daran erinnert, daß all diese Zuwachsraten des Sozialprodukts, all diese positiven Veränderungen des Volkseinkommens an der Situation der Massenarbeitslosigkeit nichts ändern würden. Ende der 70er Jahre hatten wir einen Sockel von 850 000 Arbeitslosen. Dann kam die Rezession 1979/80, Ölpreiskrise und die starke Verwerfung in der Volkswirtschaft. Und — das rechne ich Ihnen jetzt nicht zu — im Verlaufe dieser Wirtschaftskrise hat sich der Sockel an Massenarbeitslosigkeit von 850 000 auf jetzt weit über zwei Millionen Menschen erhöht. Jetzt kommt das Entscheidende. Alle Voraussagen, meine Damen und Herren von der Koalition, alle Prognosen, egal, ob Sie Sachverständigenrat oder das Wirtschaftsministerium, die Bundesbank oder die fünf Institute nehmen, die uns jährlich im Herbst und im Frühjahr beraten, gehen dahin: wenn das, was wir jetzt Wirtschaftsaufschwung oder -belebung nennen — das ist ja unterschiedlich im Begriff; manche reden nur von der Wirtschaftsbelebung, und dem würde ich mich anschließen —, einige Jahre stattgefunden hat, dann wird die nächste Rezession bei einer Arbeitslosigkeit von zwei Millionen Menschen beginnen. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir noch in den 80er Jahren beträchtlich über drei Millionen Arbeitslose in der Bundesrepublik bekommen werden.
Von diesem Sachverhalt, meine Damen und Herren, reden Sie nicht, redet auch der Wirtschaftsminister nicht. Dieser Sachverhalt wird Sie in den 80er Jahren einholen, und zwar schneller, als Sie glauben. Wir wissen, daß ein Konjunkturzyklus etwa fünf Jahre beträgt. Das heißt, die Aufschwungphase beträgt zwei, zweieinhalb Jahre. Wir haben ein Jahr hinter uns. Sie können ziemlich exakt absehen, wann der obere Wendepunkt der Konjunktur erreicht sein wird. Sie können ziemlich exakt absehen, wann Sie bei einem Sockel von zwei Millionen Arbeitslosen in eine Rezession kommen. Das ist das Problem der 80er Jahre. Das ist kein parteipolitisches Problem, sondern ein Problem, das Staat und beide soziale Gruppen, Unternehmer und Gewerkschaften, gemeinsam angeht.
Über dieses Problem müßte man hier reden. Man müßte, meine Damen und Herren, zu den Grundfragen der Wirtschaftspolitik mehr reden, als es heute geschieht, zu den kurzfristigen Prognosen, die dann in die Zukunft verlängert werden und erst recht Enttäuschung verursachen.
Grundfrage 1: Entkoppelung des Wirtschaftswachstums von der Beschäftigungsentwicklung. Das läßt sich mit einem ganz kleinen Sachverhalt für dieses Jahr belegen. Wir hatten im ersten Halbjahr 1983 ein Wirtschaftswachstum von 0,7 %, also unter 1 %. Wir hatten einen Produktivitätsfortschritt, also Leistungssteigerung pro Arbeitsstunde in der Volkswirtschaft, von durchschnittlich 2,5 %. Das heißt, die Kluft zwischen Produktivität und Nachfragewachstum und Produktionswachtsum ist weiter aufgegangen. Das bedeutet, trotz allen Wirtschaftswachstums wird sich am Arbeitsmarkt keine Wende ergeben. Das ist der Sachverhalt, über den Sie nicht reden.
Meine Damen und Herren, diesen Sachverhalt nimmt man im betrieblichen Geschehen, im Gespräch der Arbeitnehmer untereinander dauernd wahr, man spricht miteinander. Die Arbeitnehmer beobachten eine Debatte wie die heutige im Bundestag und entdecken, daß das Rationalisierungstempo in unserer Volkswirtschaft viel schneller geworden ist als das Wachstumstempo und daß dies in diesem Hause nicht zur Debatte steht, jedenfalls nicht von Ihnen.
Deshalb kommen Sie auch zu derart widersprüchlichen Aussagen zur Arbeitszeitverkürzung. Herr Kohl hat in einem — wo sonst? — ,,Bild"-Interview gesagt, die Forderung nach der 35-StundenWoche sei absurd, töricht und dumm. Nun stellen Sie sich einen Arbeitnehmer in der Automobilindustrie vor, zumal in einem Unternehmen, das gar nicht so schlecht geht, bei dem er am Ende eines jeden Jahres sieht, daß trotz des Wachstums in diesem Sektor etwa 5 bis 10 % der Arbeitsplätze abgebaut werden, wie der denkt, wenn er hört, daß der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zur Arbeitszeitverkürzung nur beizutragen hat: dumm, töricht und falsch. Meine Damen und Herren, hier werden Sie von den Forderungen der Arbeitnehmer eingeholt werden.
Und nun spielen Sie die Wochenarbeitszeitverkürzung gegen eine Vorruhestandsregelung aus. Das Groteske dabei ist, daß Sie schon, bevor wir hier im Bundestag darüber abstimmen, die Vorruhestandsregelung, die wir vorgeschlagen haben, demontiert und wirtschaftlich faktisch unwirksam gemacht haben. Das ist die Realität.
Sie denunzieren die Wochenarbeitszeitverkürzung als wirtschaftspolitisch falsch und demontieren gleichzeitig die Vorruhestandsregelung, d. h. die Verbesserung der Möglichkeit, aus dem Arbeitsleben auszuscheiden, wenn man dies wünscht.
Zur Grundfrage 1, Abkoppelung des Wirtschaftswachstums von der Produktivitätsentwicklung, gibt es keine Antwort von Ihrer Seite.
Grundfrage 2, die Wachstumsfrage schlechthin: Wir wissen, daß es von Wirtschaftszyklus zu Wirtschaftszyklus seit Anfang der 70er Jahre ein Absinken des Wachstumstempos gab. In den 50er Jahren lag die reale Wachstumsrate bei etwa 10 %, in den
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60er Jahren bei 6 bis 8 %, in den 70er Jahren bei 4 bis 6 %. Und wenn wir jetzt Glück haben, wird in der ersten Hälfte der 80er Jahre ein Wirtschaftswachstum von etwa 2 oder 1 % herauskommen. Aber die Produktivität wird stärker steigen.
Nun schlagen Sie zur Erreichung von Wirtschaftswachstum Abschreibungserleichterungen und alle möglichen Steuererleichterungen für Unternehmer vor. Sie schlagen ferner vor, auf der anderen Seite die Löhne zu kürzen und die übrigen Kosten der Wirtschaft zu senken. Hier laufen Sie in eine wirtschaftspolitische Sackgasse, die meines Erachtens von Ihrer Seite nicht einmal erörtert wird. Wie soll eigentlich eine Wirtschaft wachsen, bei der die Hauptnachfragekomponente, die Endnachfrage der Konsumenten, auf Grund sinkender Einkommen wegen niedrigerer Lohnabschlüsse und auf Grund von Streichungen von Leistungen im sozialen Bereich sinkt? Das ist eine tarifpolitische auf der einen und eine gesellschaftspolitische Frage auf der anderen Seite.
Dieser Widerspruch, meine Damen und Herren, wächst sich allmählich zu einem argumentativen Skandal auf Ihrer Seite aus.
Sie rechnen jetzt, ganz im Kontrast zu früheren Zeiten, nur noch mit einer Senkung der Sparquote, um das Wachstumstempo erreichen zu können, daß Sie eigentlich vorgesehen haben. Wenn ich heute früh den Bundeswirtschaftsminister richtig gehört
habe, dann war doch sein Argument: Bei uns ist es in diesem Jahr weitergegangen, weil die Arbeitnehmer endlich ihre Sparkonten aufgelöst haben. Das war die eigentliche Quelle der Nachfrage, die es im Konsumgüterbereich gegeben hat. Angesichts dessen frage ich mich wirklich: Wie argumentieren Konservative, wenn sie feststellen, daß Arbeitnehmer auf Grund sinkender verfügbarer Masseneinkommen gezwungen sind, ihre Sparguthaben aufzulösen, um die Nachfrage aufrechtzuerhalten, die mit dem aktuellen Einkommen nicht mehr stabilisiert werden kann? Hier ist doch der Widerspruch.
Nun können Sie zwar damit rechnen, daß auch noch in den nächsten Monaten Sparguthaben geplündert werden, aber darauf können Sie doch keine mittelfristige Wachstumsstrategie aufbauen.
Das können Sie auf diesem Gebiet nicht erreichen.
Grundfrage 3: In der Industriepolitik der Bundesrepublik Deutschland gibt es zwei Problemstellungen, über die heute von Ihrer Seite, zumal vom Grafen Lambsdorff, nicht geredet wurde. Über Glos will ich in Fragen der Wirtschaftspolitik schon gar nicht reden. — Erste Frage: Was machen wir mit den in
die Krise geratenen Industriesektoren Stahl, Kohle, Schiffbau
und denen, die zusätzlich in die Krise kommen werden?
Da mache ich eine Fußnote. Wir haben zur Zeit eine steigende Nachfrage nach Automobilen. Sind Sie so sicher, daß das, was manche Automobilboom nennen, in den nächsten zwei Jahren anhält? Sind Sie so sicher, daß zur Zeit im Investitionsbereich der Automobilindustrie nicht die Überkapazitäten der zweiten Hälfte der 80er Jahre vorprogrammiert werden? Sind Sie so sicher, daß wir uns nicht in zwei Jahren hier treffen, um über die Frage zu diskutieren, was wir in bezug auf die krisenhafte Entwicklung der Automobilindustrie tun können? Fragen Sie sich das selber.
Ich habe miterlebt, als im Jahr 1977/78 alle Fraktionen dieses Hauses über den Stahlboom beglückt gesagt haben: Endlich geht es beim Stahl aufwärts. Anschließend waren die Überkapazitäten da.
Meine Frage ist: Was machen wir in den krisenhaft sich entwickelnden Industriesektoren? Wo ist eine industriepolitische Antwort, wie sie beispielsweise Japan durch ein Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft tatsächlich gibt? Die vorschnellen Zwischenrufer von der CDU/CSU möchte ich daran erinnern — ich weiß nicht, wer das gesehen hat; ich habe es mir jedenfalls angeguckt —, daß Franz Josef Strauß gestern abend in der ,,Bilanz"-Sendung exakt diese Fragestellung aufgeworfen hat, übrigens verbunden mit einer handfesten Kritik an Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff. Er entwikkele keine Antworten, bezogen auf die krisenhaft sich entwickelnden Sektoren Stahl, Werften usw. Das ist auch unsere Kritik.
— Ich möchte diesen Gedanken ausführen, selbst angesichts einer Zwischenfrage eines CSU-Kollegen.
Die Tatsache, daß die bayerische Staatsregierung in bezug auf die Maxhütte gesagt hat, wir werden mit den Stahlnachfragern in Bayern sprechen, damit die Kapazität der Maxhütte ausgelastet ist — ich könnte auch die Firmen nennen, mit denen die bayerische Staatsregierung gesprochen hat —, begrüße ich. Wenn sich die bayerische Staatsregierung auf der anderen Seite bereit erklärt hat, diesen Teil des Klöcknerkonzerns aufzufangen — kapazitätsmäßig anzupassen, aber auch zu sichern —, dann halte ich das für eine industriepolitische Maßnahme, der ich nur zustimmen kann.
Ich bin froh, daß es wenigstens in Bayern auf Grund der finanzpolitischen Möglichkeiten, die dieses Land hat, eine gewisse Sicherheit in diesem Fall für die Arbeitnehmer in der Maxhütte gibt. Ich finde, das ist richtig. Nur frage ich: Wo ist Ihr Selbstverständnis als CSU-Abgeordnete und CDU-Abgeordnete, wenn Sie sehen, daß diese Koalition die
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schleichende Selbstzerstörung der Stahlindustrie im gesamten übrigen Bundesgebiet zuläßt? Das ist meine Frage.