Rede von
Eckhard
Stratmann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Liebe Bürgerinnen und Bürger! Der Bundesfinanzminister hat sich soeben in seiner Haushaltsrede in der Pose des erfolgreichen Arztes bei einer Unfallstation dargestellt. Herr Stoltenberg, wenn Sie die angeblichen sozialpolitischen Segnungen Ihrer Haushaltskonsolidierung darstellen, fällt mir dazu ein, was hier in der Aktuellen Stunde zu Grenada gesagt worden ist: Ihre Haushaltskonsolidierung gleicht dem brüderlichen Überfall auf Grenada. Sie ist vergleichbar einem brüderlichen Überfall auf diejenigen, die unter Ihrer Sozial- und Konsolidierungspolitik zu leiden haben.
Herr Stoltenberg, ich war etwas enttäuscht sowohl über das politische wie auch das intellektuelle Niveau Ihrer Rede,
weil ich mich darauf eingestellt hatte, daß Sie an Ihre Haushaltsrede in der ersten Lesung anknüpfen, in der Sie ja den Anspruch erhoben haben, daß Ihre Konsolidierungspolitik die Voraussetzungen schafft für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung und für eine nachhaltige Investitionsbelebung, um damit Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Entwicklung der Wirtschaft, die Entwicklung des Arbeitsmarktes und auch — das füge ich hinzu — die Entwicklung der Umweltsituation werden damit zum Maßstab der Beurteilung Ihrer Haushaltspolitik.
Die konjunkturelle Entwicklung im Jahre 1983 und die Prognosen für 1984 sind nun keineswegs der vielbeschworene Aufschwung, sondern gleichen eher einem kurzlebigen Strohfeuer.
Die strukturellen Probleme unserer Wirtschaft, unserer Wirtschaftsweise und unserer Umweltsituation werden durch Ihre Haushalts- und Wirtschaftspolitik nicht etwa angefaßt und einer Lösung zugeführt, sondern das Gegenteil ist der Fall: Diese strukturellen Probleme verschärfen sich gerade infolge Ihrer Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Ich möchte das im einzelnen nachweisen.
Zunächst zur Kritik am Aufschwungmythos: Tatsächlich haben wir es im Jahre 1983 — das ist nicht zu bestreiten — mit einem sich beschleunigenden Wirtschaftswachstum zu tun, das im Jahresdurchschnitt ca. 1 % beträgt,
dem allerdings, Herr Kollege — das müssen Sie berücksichtigen —, eine Steigerung der Arbeitslosigkeit im Jahre 1983 um ca. 460 000 Arbeitslose gegenübersteht. In der registrierten Arbeitslosenzahl taucht die stille Reserve gar nicht auf, die sich nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in der Größenordnung zwischen 800 000 und 1 Million bewegt und insbesondere Frauen, Jugendliche und Ausländer umfaßt. Dies taucht nicht auf, und wenn wir diese stille Reserve zu den Arbeitslosenzahlen hinzuzählen, kommen wir auf eine Arbeitslosenzahl von über 3 Millionen.
Die Prognosen Ihrer Regierung und auch des Sachverständigenrates für das Jahr 1984 sind im bürgerlichen Lager selbst — ich beziehe mich auf die vorletzte Ausgabe der „Wirtschaftswoche" — ei-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983 3129
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ner grundlegenden Kritik unterzogen worden und eher als Ausdruck von politischen Vorgaben und von politischer Psychologie als als seriöse wirtschaftswissenschaftliche Prognosen dargestellt worden. Die „Wirtschaftswoche" selbst gibt an und analysiert, daß die positiven Indikatoren der Wirtschaftsentwicklung für das Jahr 1983 Sonderentwicklungen zu verdanken sind.
Erste Sonderentwicklung: Die Investitionszulage von 1982 bis 1983 läuft Ende des Jahres aus. Bei den Investitionen hat es viele Vorzieheffekte gegeben. Dieser Sondereffekt fällt für 1984 fort.
Zweitens. Das Wirtschaftswachstum ist entgegen Ihrer angebotsorientierten Politik, so zumindest Ihre verbalen Äußerungen, ganz wesentlich auf eine Steigerung der Nachfrage zurückzuführen, und diese Konsumnachfrage hängt damit zusammen, daß es infolge der Ausschüttung nach dem Vermögensbildungsgesetz eine Zunahme des Verbrauchs gegeben hat, die sich im Jahre 1984 ebenfalls nicht wiederholen wird.
Drittens. Die Nachfragesteigerung im privaten Wohnungsbau ist ebenfalls zeitlich begrenzt. Ein Viertel der Aufträge im Hochbau kommt von den Gemeinden, den Kommunen, und diese werden im nächsten Jahr ebenfalls im Rahmen ihrer Konsolidierungspolitik — das ist auch eine Folge der Bundesfinanzpolitik, der Verteilung der Lasten von oben nach unten — ihre Ausgaben streichen müssen, und dies wird negativ auf den privaten Wohnungsbau zurückschlagen.
Viertens. Daß wir es bei dem Wirtschaftsaufschwung nur mit einem kurzfristigen Strohfeuer und keineswegs mit einer anhaltenden Wirtschaftsbelebung zu tun haben, sieht man, wenn man die wirtschaftliche Entwicklung mit dem Aufschwung von 1976 bis 1979 vergleicht.
Wir haben in diesen Jahren durchschnittlich sehr hohe Wachstumsraten um 4 % gehabt. Diese mehrjährigen Wachstumsraten haben aber nicht verhindern können, daß der Sockel der Massenarbeitslosigkeit nicht wesentlich unter 1 Million Arbeitslose gedrückt werden konnte. Er ist zurückgegangen, aber er konnte nicht wesentlich unter 900 000 Arbeitslose gedrückt werden. Genauso werden wir es jetzt erleben. Selbst wenn sich das Wirtschaftswachstum im Jahre 1984 steigern sollte — ich bezweifle nicht, daß eine Steigerung um 2 oder 21/2 % möglich ist —, dann wird sich dadurch an dem Sokkel von 2 bis 21/2 Millionen Arbeitslosen nichts ändern. Das hängt damit zusammen, daß der Großteil der Investitionen — nämlich 53% — nach der IfoBefragung Rationalisierungsinvestitionen sein werden, um die Produktivität weiter zu steigern.
Ich bedaure, daß Herr Lambsdorff nicht da ist. Herr Lambsdorff hat in der ersten Lesung des Haushalts gesagt, daß der Denkansatz falsch sei, Produktivitätszuwachs führe zu Rationalisierung und Arbeitsplatzvernichtung. Herr Lambsdorff sagte — das war ein neuer Ton in seiner Argumentation —, dieser Denkansatz müsse dann nicht falsch sein, wenn Produktivitätszuwachs in Form von Arbeitszeitverkürzung weitergegeben werde.
Gucken wir uns die Pläne der Bundesregierung zur Arbeitszeitverkürzung mit der Reduzierung der Arbeitszeitverkürzung auf die Vorruhestandsregelung an, so müssen wir sagen: Die Beiträge der Bundesregierung zur Arbeitszeitverkürzung sind denkbar gering; sie blockt im wesentlichen ab. Sie blockt insbesondere die Bemühungen der Einzelgewerkschaften zur 35-Stunden-Woche ab.
Unsere Position ist: Die Produktivitätsgewinne müssen in Form von Arbeitszeitverkürzung, im kommenden Frühjahr insbesondere in Form der 35-
Stunden-Woche, weitergegeben werden, damit es nicht zu einer weiteren Erhöhung der Arbeitslosigkeit kommt.
Ich werde im weiteren Verlauf meiner Rede darauf eingehen, welche flankierenden Maßnahmen notwendig sind, damit die Arbeitszeitverkürzung, insbesondere die 35-Stunden-Woche, tatsächlich zu dem gewünschten Arbeitsplatzeffekt führt.
Ich fasse diesen Teil zusammen. Selbst wenn wir es mit einer Belebung der Wirtschaft und der Investitionstätigkeit zu tun haben, werden wir keine nachhaltige Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt erleben.
Beispiel: 1976 bis 1979. Das Aufschwunggerede ist nichts anderes als ein Aufschwungmythos.
Wenn das so ist, dann fragt man sich: Wie sind die theoretischen Grundlagen der Bundesregierung, des Sachverständigenrats zu beurteilen, die konzeptionell hinter der Haushaltspolitik und hinter der Wirtschaftspolitik stehen? Herr Stoltenberg, hier beziehe ich mich auf Ihre Haushaltsrede in der ersten Lesung, in der Sie einen ganz anderen Anspruch formuliert haben, als Sie heute eingelöst haben. Sie haben damals mit mehreren grundsätzlichen Überlegungen formuliert, daß die Haushaltskonsolidierung notwendig sei, um den Unternehmen, den privaten Investoren zusätzliche Spielräume für Investitionen zu eröffnen, damit Wachstum zu ermöglichen und damit neue Arbeitsplätze zu ermöglichen.
Ich möchte mich im einzelnen auf Ihre Argumentation einlassen, weil ich meine, daß gezeigt werden kann, daß sich Ihre eigene Politik schon von der Konzeption Ihrer Investitionstheorie her in Wider-
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Sprüchen verfängt und damit in sich zusammenbricht und zusammenbrechen muß.
Sie behaupten erstens: Schuld an der Investitionsschwäche in der Bundesrepublik sei eine zu hohe Steuerquote. Fakt ist, daß in der Bundesrepublik die unternehmensspezifische Steuerbelastung — sowohl für sich selbst betrachtet als auch im internationalen Vergleich — in den letzten Jahren nicht gestiegen ist, sondern im Gegenteil eher gefallen ist.
Zweitens. Sie behaupten, die Lohnkostenbelastung, insbesondere die Lohnnebenkostenbelastung der Unternehmen sei in der langfristigen Entwicklung zu hoch und beeinträchtige damit die Investitionsmöglichkeiten der privaten Unternehmen. Ich beziehe mich auf das Jahresgutachten des Sachverständigenrates 1982/1983, also auf eine für Sie höchst unverdächtige Quelle. Der Sachverständigenrat kommt in diesem Gutachten, in dem er sich Gedanken zu der Reallohnentwicklung und zu der Verteilungsentwicklung in der Bundesrepublik macht und diese Gedanken statistisch absichert, genau zu der gegenteiligen Einschätzung.
— Sie argumentieren doch immer mit langfristigen Entwicklungen. Dann können Sie nicht sagen: Ein Jahr später ist das alles schon überholt. Oder Sie machen sich selbst lächerlich.
Der Sachverständigenrat kommt im langfristigen Vergleich der letzten 20 Jahre zu dem Ergebnis, daß alle Faktoren zusammengerechnet, die die Lohnkostenbelastung der Unternehmen betreffen — Bruttolöhne und Bruttogehälter, Lohnnebenkostenwirkungen, verrechnet damit die Produktivitätseffekte, das Verhältnis von Ausfuhr- zu Einfuhrpreisen, Kapitalkosteneffekte —, ergeben, daß sich die Lohnkostenbelastung in den letzten 20 Jahren nicht verändert hat, daß die Verteilung der Einkommen zwischen abhängig Beschäftigten einerseits und Unternehmen andererseits im wesentlichen gleichgeblieben ist, vorübergehend mit einem Ausschlagen zu der einen bzw. zugunsten der anderen Seite.
Auch diese These von Ihnen entbehrt also jeder empirischen Grundlage. Quelle: Sachverständigengutachten 1982/1983.
Das hauptstrategische Argument von Ihnen ist, die Eigenkapitalquote in der Bundesrepublik sei zu gering, ebenfalls wieder im langfristigen Trend. Eben war noch Herr Molitor da.
Herr Molitor hat eine der letzten Sitzungen des Wirtschaftsausschusses miterlebt und dort feststellen können, daß die Verunsicherung über diese Investitionsideologie, über diese Ideologie von der sinkenden Eigenkapitalquote als Ursache der Investitionsschwäche bis in Ihre eigenen Reihen hinein Platz gegriffen hat. Fragen Sie Herrn Lammert, fragen Sie Herrn Molitor,
und lesen Sie den einschlägigen Artikel in der „Wirtschaftswoche" — Sie kennen ihn sicherlich — vom Mai 1983 nach. Dort wird nachgewiesen — —
— Ich denke doch, daß die „Wirtschaftswoche" gerade für Sie ein Blatt mit sehr bedenkenswertem Inhalt sein muß. Für mich ist es das jedenfalls. Dort ist nachzulesen, daß die Eigenkapitalquote in der Bundesrepublik gerade dann am stärksten gesunken ist, und zwar in den Jahren 1967 bis 1970, als sowohl die Unternehmenserträge als auch die Investitionen überdurchschnittlich angestiegen sind. Das ist ein empirischer Beleg, der Ihrer These von der sinkenden Eigenkapitalquote geradewegs ins Gesicht schlägt.
Ein zweiter empirischer Beleg: In der Zeit von 1977 bis 1979, ebenfalls charakterisiert durch Wirtschaftsaufschwung, durch eine relative Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt trotz eines hohen Sokkels an Arbeitslosigkeit, ist die Eigenkapitalquote gesunken, trotz steigender Unternehmenserträge und trotz steigender Investitionen. Wir können also sehen, die empirischen Belege für Ihre Ideologie der sinkenden Eigenkapitalquote sind nicht gegeben. Quelle: „Wirtschaftswoche".