Rede von
Helmut
Wieczorek
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich, Herr Dr. Stoltenberg, gleich zu Beginn ein paar Worte an Sie richten. Ich bin sehr froh darüber, daß Sie selbst gesagt haben, daß Sie kein Supermann sind. Das ist, wie ich glaube, eine richtige Einschätzung.
Es ist auch unbestritten, daß Sie in der Regierung ungeheuer gearbeitet haben. Ich glaube, das können alle beurteilen, die mit Ihnen zusammenarbeiten. Aber, meine Damen und Herren, irgend jemand in dieser Regierung muß ja auch arbeiten,
sonst kommen wir wohl nicht weiter.
Ich möchte mit einigen anderen von Ihnen angesprochenen Dingen beginnen, bevor ich meine eigenen Ausführungen mache, Herr Dr. Stoltenberg. Ich bewundere Sie immer, mit welcher Freundlichkeit Sie Unverschämtheiten sagen können.
Ich will mich auch bemühen, vor allen Dingen nach dem Appell des Herrn Bundespräsidenten gestern abend beim Abendessen, in Freundlichkeit fortzufahren, obwohl mir das, ehrlich gesagt, etwas schwerfällt, zumal Sie es hervorragend verstehen, mit einem seriösen Habitus Halbwahrheiten zu sagen.
Mir wäre es in der Haushaltsdebatte, in der Debatte
um Zahlen und Fakten, lieber, wir würden uns
exakt an die gebotene intellektuelle Redlichkeit halten und unsere Argumente austauschen. Wenn ich nämlich sehe, wie geschickt Sie in der Vergangenheit in einem Pilgerschrittverfahren, Herr Stoltenberg, dem deutschen Volk große Belastungen auferlegt haben und das dann als Erfolg haben feiern lassen, so ist das schon eine große Leistung, zu der Sozialdemokraten Ihnen nur höchste Bewunderung aussprechen können. Wir bringen so etwas nicht fertig.
Ihr Verfahren ist sehr klar und deutlich zu erkennen. Im Pilgerschrittverfahren heißt ja: zwei Schritte vor, einer zurück! Bei Ihnen gehen zwei Schritte in die falsche Richtung; Sie nehmen dann einen wieder zurück, und das ist Erfolg.
Das sind so Probleme, die wir immer und überall haben.
Ich möchte das ganz gern nur an einer Zahl deutlich machen. Als die sozialliberale Koalition auseinanderging, geschah das, weil die Nettokreditaufnahme von 30 Milliarden DM, die zwischen den Koalitionspartnern vereinbart war, nicht eingehalten werden konnte. Die höchste Nettokreditaufnahme der sozialliberalen Koalition lag bei 33,8 Milliarden DM.
Als Sie die Regierung übernahmen, haben Sie diese Nettokreditaufnahme künstlich auf mehr als 40 Milliarden DM hochgerechnet und haben die 37 Milliarden DM, die dann herauskamen, als Erfolg gefeiert.
Herr Stoltenberg, dazu muß man Ihnen große Bewunderung aussprechen.
Das gleiche gilt für Ihre Ausführungen zum Haushalt 1983. Sie sprechen hier zum deutschen Volk, aber denken Sie daran: Sie haben hier auch Insider vor sich, die das Zahlenwerk sehr genau kennen. Wir haben damals prognostiziert: Sie werden einen Nachtragshaushalt brauchen. Er ist nicht gekommen; Sie haben das sehr geschickt gemacht. Ich möchte nur fragen, ob es auch noch so günstig ist, wenn wir Anfang oder Ende Januar 1984 die Abrechnung über das Jahr 1983 wirklich vor uns haben, oder ob sich dann nicht Ihre still ausgesprochene Haushaltssperre in den einzelnen Häusern auswirkt. Die Häuser können bei weitem nicht mehr die Ansätze ausgeben, und sie werden im Bodensatz noch einiges haben, was sie dann als Überkipper mitnehmen. Ich wollte das nur sagen, damit hier nicht ein falscher Eindruck entsteht.
Herr Dr. Stoltenberg, wenn man eine Analyse und Bewertung der Haushaltspolitik dieser Regierung vornimmt, dann kann das natürlich nur an Hand des Zahlenwerkes des vorliegenden Haushaltes vorgenommen werden; aber man muß auch über
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983 3119
Wieczorek
den vorliegenden Haushalt hinausschauen. Es wäre eine Verengung der Betrachtung auf die notwendigen ökonomischen Ausrichtungen der Haushaltsund Finanzpolitik, wenn wir dem nicht gerecht würden. Die Verfassung sowie das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz schreiben ausdrücklich vor, daß die Finanz- und Haushaltspolitik an gesamtwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu orientieren ist. Es ist in allen Fraktionen dieses Hauses unbestritten, daß das am stärksten beeinträchtigte Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gegenwärtig das Beschäftigungsziel ist. Also ist der Bundestag als Organ des Bundes durch Verfassung und Gesetz geradezu gezwungen, den Haushalt und die mittelfristige Finanzplanung besonders unter dem Beschäftigungsaspekt zu prüfen, zu beraten und zu beschließen. Der Bundesfinanzminister wiederholt dagegen immer nur, daß er die Haushaltspolitik ausschließlich unter das Oberziel der Konsolidierung gestellt hat. Wenn Konsolidierung, Herr Dr. Stoltenberg, aber schon das oberste Ziel ist, dem Sie alles andere unterordnen, werde ich mich zunächst einmal mit diesem Ziel beschäftigen.
Wenn man sich mit dieser Politik beschäftigt, kann ein Blick in die Geschichtsbücher durchaus sinnvoll sein. Man stößt dann aber unweigerlich auf den Namen Brüning. Brüning hat den Wettlauf mit dem Defizit aufgenommen, indem er Steuern und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung mehrfach erhöht, die Beamtengehälter laufend herabgesetzt und die Sozialleistungen gekürzt hat. Die Zeiten damals waren sicherlich anders als heute, aber sicherlich ist Brüning auch daran gescheitert, daß er die Wirkungen seiner Deflationspolitik auf die Einkommen der breiten Massen und auf den Arbeitsmarkt ökonomisch falsch eingeschätzt hat,
dies 'auch vor dem Hintergrund, daß antizyklische Finanzpolitik damals noch eine unbekannte Größe war. Ich will nicht behaupten, Herr Dr. Stoltenberg, daß Sie auf dem Wege sind, Brüningsche Politik nachzuvollziehen. Sie haben schließlich im öffentlichen Dienst auch noch keine generelle absolute Senkung der Gehälter vorgenommen,
und Sie haben auch bisher noch nicht die neue 4-
Pfennig-Münze in Auftrag gegeben, um die Ausgaben um 20 % zu senken. All das ist nicht der Fall.
Aber, Herr Dr. Stoltenberg, ich befürchte, daß Sie Konsolidierung als Selbstzweck sehen und daß dieser Selbstzweck in den Mittelpunkt gerückt wird.
Eine gesamtstaatliche Konsolidierung — auch dafür trägt der Bundesfinanzminister eine erhebliche Mitverantwortung — kann nur bei einer Betrachtung aller Gebietskörperschaften beurteilt werden. Daß von allen diesen Haushalten erhebliche ökonomische Impulse auf die Gesamtwirtschaft und die Beschäftigungslage ausgehen, ist genauso unbestritten wie die Tatsache, daß eine Stagnation und eine Senkung der realen Ausgaben in diesen Haushalten eine Dämpfung der Wirtschaftstätigkeit, der Nachfrage und der Beschäftigungslage zur Folge hat. Diese Restriktionswirkungen durch den Bundeshaushalt und die Haushaltsbegleitgesetze 1984 auf die gesamtwirtschaftliche Belebung wurde von allen wissenschaftlichen Gutachtern bestätigt.
Wir haben dazu bei der öffentlichen Anhörung des Haushaltsausschusses einiges gehört. Den Dämpfungseffekt der Konsolidierungspolitik stellen das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut, das Münchener Ifo-Institut, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin und das WSI heraus. Auch die Bundesbank umschrieb sehr vorsichtig, daß Konsolidierungsmaßnahmen den Anstieg des Sozialprodukts in der Größenordnung von 2,5 % nicht gefährden. Als der Kollege Carstens im Hearing die Frage aufwarf, ob der Aufschwung des Jahres 1983 sich 1984 fortsetzen werde, beeilten sich die Institute, von solcher Euphorie abzulenken. Man könne höchstens von einer vorübergehenden Belebung sprechen, aber nicht von einem Aufschwung. Ich möchte an dieser Stelle gern Herrn Dr. Schlesinger zitieren. Er führte aus:
Ich würde in diesem Zusammenhang von einem weiteren Anstieg der Produktion sprechen; das Wort Aufschwung verwende ich nicht.
Eine Ursache für den unzureichenden Aufschwung ist Ihre eigene Haushaltspolitik.
Denn Sie, Herr Dr. Stoltenberg, produzieren mit Ihrer Politik eine neue, eine hausgemachte Arbeitslosigkeit.
Sie haben eben gesagt, Sie wollten die Früchte Ihrer Konsolidierungspolitik ernten. Sie ernten sie. Sie bekommen Arbeitslose in Größenordnungen, die Sie nicht wollen, die Sie aber in Kauf nehmen. Das halten wir für verhängnisvoll.
Meine Damen und Herren, eine Ursache für den unzureichenden Aufschwung ist diese — das wiederhole ich — hausgemachte Arbeitslosigkeit durch Ihre Haushaltspolitik. Sie tun nichts, Herr Dr. Stoltenberg, um die schwierigen Strukturprobleme bei Kohle, Stahl und Werften zu lösen.
Zur Bewältigung dieser Strukturkrisen wird den Selbstheilungskräften der Wirtschaft eine zentrale Rolle zugewiesen. Dies ist Ihre Auffassung von sozialer Marktwirtschaft. Aber dies ist keine Marktwirtschaft; denn sie räumen den Wettbewerbern in Branchen, in denen wir am Markt gute Aussichten
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haben, nicht die entsprechenden Marktchancen ein.
Sie schaffen einem Wettbewerber nicht die Möglichkeiten, daß er am Markt frei operieren kann.
Das ist auch keine soziale Politik; denn Sie setzen an die Stelle einer sozialen Abfederung von Krisenbewegung den Versuch, auf Arbeitnehmer und Gewerkschaften Druck auszuüben.