Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte zunächst einige Anmerkungen zu der Erfolgsbilanz machen, die der Herr Bundeskanzler und die Herren Dregger und Genscher vorgelegt haben, weil sie sich auf Indikatoren stützt, die unter Umständen zu falschen Schlüssen führen könnten.
Vielleicht darf ich das an Hand weniger Beispiele erläutern.
Das erste Beispiel: Es ist behauptet worden, daß seit dem Amtsantritt dieser Regierung die Zinsen zurückgegangen seien. Nun, meine Damen und Herren, seit dem 6. März dieses Jahres sind in der Bundesrepublik die Zinsen um einen Prozentpunkt gestiegen. In allen anderen europäischen Ländern dagegen, mit Ausnahme der Niederlande, sind sie zurückgegangen. Diese Behauptung trifft also nicht zu.
Das Zweite — Sie können das im Sachverständigengutachten nachlesen; das ist die gleiche Quelle, die auch der Herr Bundeskanzler benutzt hat —: Es ist behauptet worden, daß wegen der Preisentwicklung die Realeinkommen gestiegen seien. Nun, das Sachverständigengutachten weist für dieses Jahr bei den Realeinkommen der Arbeitnehmer eine Null aus. Ich will gar nicht auf die Einkommen der übrigen Gruppen unserer Bevölkerung zurückkommen. Das heißt, die Arbeitnehmer haben keinen Pfennig mehr in der Tasche als ein Jahr zuvor. Wo sollte es auch herkommen?
Das Dritte, die Arbeitslosigkeit. Sie ist schon angesprochen worden. Sicherlich zeigen sich Wirkungen auf die Arbeitslosigkeit nicht von heute auf morgen, aber auch Wirkungen einer verstärkten Investitionstätigkeit zeigen sich nicht von heute auf morgen. Das, was Sie sich heute zugute halten, nämlich eine Investitionsgüterkonjunktur, die allenfalls zaghaft beginnt, ist darauf zurückzuführen, daß es bei der Investitionszulage Bestellfristen gegeben hat, die zu Investitionsgüterkäufen, die am Ende dieses Jahres auslaufen, führen mußten. Das ist die Erklärung.
Schließlich der private Verbrauch. Eine Erhöhung des privaten Verbrauchs bei Stagnation der Realeinkommen kommt einer Entsparung gleich. Die Sparquote ist zurückgegangen. Die Veränderungen des privaten Verbrauchs sind überdies auf Sonderfaktoren zurückzuführen. Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß Mitte dieses Jahres etwa 8 Milliarden DM allein aus Vermögensbildungsanlagen freigeworden sind, die auf den Markt kamen. Es ist sehr ungewiß, ob derartige Einflüsse auch im kommenden Jahr wirken werden. Und der Sachverständigenrat geht tatsächlich davon aus, daß weiter entspart wird. Woher diese Prognosekraft kommt, vermag ich nicht festzustellen.
Noch eine Bemerkung zu dem, was der Herr Außenminister gesagt hat. Er warf der sozialdemokratischen Partei Opportunismus vor und glaubte, dies am Beispiel Hessens festmachen zu können. Aber wenn die Sozialdemokraten dafür eintreten, mit staatlichen Maßnahmen, die im Bereich der Umwelt privat nicht finanzierbar sind, Arbeitsplätze zu schaffen, und wenn es in Hessen ein Programm „Arbeit und Umwelt" mit dem Ziel gibt, Arbeitsplätze zu schaffen, dann ist das kein Opportunismus, dann ist das doch das Gebot der Stunde.
Lassen Sie mich nun zu einigen außenwirtschaftspolitischen Überlegungen übergehen.
— Herr Glos, es ist sehr lieb, daß Sie mir einen Rat geben, aber bitte überlassen Sie die Ausführungen mir.
Ich wollte zu Europa sagen, daß das Bild, das hier gezeichnet worden ist, in seiner negativen Kontur sicherlich zutrifft. Es sieht nicht gut aus, wenn man sich die einzelnen Punkte, die Europa heute bietet, anschaut: Industrien sind am absterben, um deren Erhalt dann das eigene Land in einen Subventionswettlauf eintritt. Der gemeinschaftliche Binnenmarkt bröckelt allmählich ab. Die Gemeinschaft beginnt, sich nach außen abzuschotten. Es gibt immer weniger Unternehmen, die international konkurrenzfähig sind. Wir haben in Europa zersplitterte Forschungs- und Investitionsanstrengungen. Das alles gibt in der Tat nicht sehr zu frohem Mut Anlaß.
Man kann zwar sagen, daß Europa heute sicherlich noch eine Insel des Wohlstands ist. Aber ob sie eine Perspektive hat, ob sie eine Zukunft hat, das ist wohl mehr als fragwürdig. Denn hier fehlt es erkennbar am gemeinsamen Willen, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden, weil — wie schon darge-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1983 3077
Dr. Mitzscherling
stellt wurde — offenbar kurzfristige nationale Interessen, die heute die Gemeinschaft bestimmen, überwiegen. Die Zukunft ist also ungewiß.
Das ist — so muß man es wohl sagen — der Befund nach Athen. Das Paket ist nicht aufgeschnürt worden. Es ist mit all den Problemen und auch mit den Möglichkeiten an Präsident Mitterrand weitergereicht worden, die der Herr Außenminister noch im Juni dieses Jahres angesprochen hatte, nämlich neue Politiken, neue Gemeinschaftsaktionen innerhalb Europas zu entwicklen, die auf mehr technologische, auf mehr wissenschaftliche Zusammenarbeit gerichtet sind; alles Maßnahmen, die sicher notwendig sind und auf die Europa dringend angewiesen ist. Alles das ist hinausgeschoben. Wir werden weiter auf die Einlösung warten müssen.
Wir müssen uns darüber im klaren sein: Solange es diese zersplitterten Forschungsaktivitäten gibt, solange es an einer Kooperation der europäischen Unternehmen mangelt, solange werden uns die Planungsstrategen des japanischen Ministeriums für Technologie und Industrie und die amerikanischen Konzerne das Leben schwermachen. Wir werden ihnen nicht paroli bieten können.
Sicherlich, es darf nicht — das hat der Herr Bundeskanzler bemerkt — dazu kommen, daß die Zukunftsprodukte in Japan und in den USA hergestellt und bei uns nur noch angewandt werden. Das würde im Zweifel bei uns zu einer Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Herr Dregger hat diesen Aspekt angesprochen.
Wir unterscheiden uns aber in den Schlußfolgerungen für die Anwendung der geeigneten Politik. Wir sind der Auffassung — das mag Ihnen ordnungspolitisch vielleicht auch sehr gegen den Strich gehen —, daß es in Europa eine zukunftsorientierte Industriepolitik geben muß. Unsere überwiegend mittelständisch orientierten Betriebe werden gegen diese Giganten wohl kaum allein bestehen können. Deshalb begrüßen wir auch die Initiative Frankreichs für eine stärkere wissenschaftliche und industrielle Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.
Das, was dem Bundeskanzler vorzuwerfen ist und was ihm vorgeworfen worden ist, ist das Fehlen von aktivem Handeln auch eines oder zweier Regierungschefs allein. Als 1978 das europäische Währungssystem geschaffen worden ist, waren es Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing. Ich möchte wissen, ob nicht heute ähnliche Schritte notwendig wären, und ob der Bundeskanzler nicht gut beraten wäre, diese Schritte zu gehen und sie einzuleiten.
Denn es ist doch dringend erforderlich, daß Europa
schon deshalb zur Geschlossenheit zurückfinden
muß, damit es nach außen mit einer Stimme sprechen kann.
Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien: Mogeln Sie sich doch bitte nicht an den Unwägbarkeiten vorbei, die das Sachverständigengutachten durchaus deutlich anspricht.
Diese Unwägbarkeiten liegen in den außenwirtschaftlichen Einflüssen. Eins ist doch wohl sicher, Herr Althammer, daß es nämlich nach wie vor die überhöhten Zinsen sind, die für die Entwicklung unserer Wirtschaft die größte Gefahr darstellen. Es ist nun einmal so, daß dies überwiegend auf die amerikanische Wirtschaftspolitik zurückzuführen ist.
Wenn sich die amerikanische Regierung, die wirtschaftliche Führungsmacht des Westens, bei einem Leistungsbilanzdefizit, das jetzt auf 100 Milliarden Dollar zugeht, ein Haushaltsdefizit von 200 Milliarden Dollar leistet, dann lebt sie doch eindeutig über ihre Verhältnisse. Sie finanziert dies mit dem Sparkapital — auch aus der Bundesrepublik —, das sie durch ihr hohes Zinsniveau auf sich lenkt. Trotz des von Ihnen apostrophierten großen Vertrauens, das die neue Regierung hat, haben wir Kapitalabflüsse in die Vereinigten Staaten.
Diese amerikanische Politik ist nicht nur uns gegenüber, sie ist vor allem gegenüber den Ländern der Dritten Welt rücksichtslos. Ich werde dies noch erläutern.
Wir haben den Herrn Bundeskanzler rechtzeitig vor Williamsburg darauf hingewiesen, daß die amerikanische Wirtschaftspolitik geeignet ist, uns in den europäischen Ländern Schaden zuzufügen; denn die hohen Zinsen hemmen die Investitionstätigkeit, und sie verzögern die Modernisierung unserer Volkswirtschaften. Wenn dies stimmt, dann bedeutet die Hinnahme einer derartigen Entwicklung, daß uns die amerikanische Volkswirtschaft noch weiter vorauseilt und daß wir dabei in diesem Wettlauf weiter zurückbleiben, daß sich der Vorsprung Amerikas vergrößert. Das heißt, daß wir letztlich für eine amerikanische Wirtschaftspolitik zahlen, die sich auf die nationalen amerikanischen Interessen konzentriert, und zwar mit einer Verzögerung der Modernisierung unserer eigenen Wirtschaft.
Wir hatten den Herrn Bundeskanzler gebeten, daß er gemeinsam mit den anderen Regierungschefs auf eine Änderung der amerikanischen Wirtschaftspolitik hinzielt. Er hat bisher nichts erreichen können.
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Was ist die Folge? Jedes Land schlägt sich heute, allein auf sich gestellt, mit den hohen amerikanischen Zinsen und den Auswirkungen auf das jeweils inländische Zinsniveau herum. Gerade hier wären gemeinsame Aktionen dringend erforderlich. Europa — dies ist möglich — kann sich vom amerikanischen Zinsniveau abkoppeln, aber natürlich nur gemeinsam, nicht allein jedes Land für sich. Deshalb ist der Bundeskanzler aufgerufen, eine entsprechende Initiative zu ergreifen.
Die zweite von außen drohende Gefahr ist die internationale Verschuldungskrise. Sie kann noch immer jederzeit in eine internationale Finanzkrise umschlagen; denn niemand weiß heute, wie sich die Zinsen in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln werden, und niemand kann deshalb auch garantieren, daß die Industrieländer das für die Entschuldung notwendige kontinuierliche jährliche Wachstum von 3 % auch tatsächlich erreichen.
Noch weniger, meine Damen und Herren, ist abzusehen, ob es nicht im Zuge der Umschuldung der Länder der Dritten Welt, vor allem im südamerikanischen Bereich, eines Tages dazu kommen kann, daß die Bevölkerung dieser Länder unter der Last der Konditionen des Internationalen Währungsfonds diese Entwicklung, diesen Druck nicht mehr länger trägt oder daß das passiert, was Bundesbankpräsident Pöhl gesagt hat: das der „Kessel platzt". Es ist ausmalbar, was das für Konsequenzen haben würde.
Die Verschuldungskrise und ihre Verschärfung ist auch eindeutig eine Konsequenz der erhöhten amerikanischen Zinsen; denn Kreditverlängerungen bekommt man heute nur zu höheren Zinsen. Wer Kredite zurückzahlt, muß bei einem Dollar, der im Verhältnis zur D-Mark bei 2,75 DM angelangt ist, tiefer in die Tasche greifen, er muß mehr dafür aufwenden. Dies ist eine besondere Form der Ausbeutung, nämlich durch hohe Zinsen.
Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir auch hier in Europa, in Deutschland die Konsequenzen dieser Verschuldungskrise in zweifacher Hinsicht zu spüren bekommen. Einmal verlangen die Banken, um ihre faulen Kredite, ihre dubiosen Forderungen abschreiben zu können, höhere Zinsmargen, die wir zu bezahlen haben, die die Schuldner hier in ihren Krediten in Deutschland zu bezahlen haben. Höhere Zinsen bremsen das Wirtschaftswachstum und erhöhen die Arbeitslosigkeit.
Der zweite Punkt ist, meine Damen und Herren, daß wir auch deshalb für die Verschuldungskrise bezahlen, weil die Entwicklungsländer so verschuldet sind — —