Herr Dregger, ich wollte eigentlich einen zentralen Gedanken Ihrer Rede aufgreifen, aber ich muß ehrlich gestehen
— jetzt hören Sie doch erst einmal hin —, es gibt gar keinen. Außer geschönten Zukunftsprognosen, außer Appellen an Fleiß und Leistungsbereitschaft und der Zukunftsprognose, die Sie in Ihrem letzten Satz zusammengefaßt haben, „Wir werden Deutschland wieder nach vorn bringen" — man merke sich dieses Zitat —, habe ich nichts gehört, abgesehen von einem Vokabular, das an Blut-, Schweiß- und Bodenbegrifflichkeiten erinnert.
Weil ich ansonsten so wenig gehört habe, möchte ich mich gleich an den Herrn Bundeskanzler wenden.
Herr Bundeskanzler, wir GRÜNEN können uns einem gewissen politischen Mitgefühl nicht entziehen angesichts der Tatsache, daß Sie doch gestern wieder eine Ihrer großen Illusionen auf der Strecke der harten Tagespolitik haben lassen müssen. Die Europäische Gemeinschaft, deren Zukunft Sie noch im Sommer in Stuttgart in so leuchtenden Farben beschworen haben, ist mit ihrem Latein anscheinend am Ende.
Herr Bundeskanzler, pfälzischer Frohsinn, die europäische Kulturgemeinschaft auf den Lippen und das Herz auf dem rechten Fleck, diese politische Botschaft hat sich offenbar ganz plötzlich nicht als ausreichend erwiesen, um jene Harmonie herbeiführen zu können, an der Ihnen doch sonst immer so viel liegt.
Die bisher kunstvoll gestützte Fassade der politischen Union Europas ist — so viel ist offensichtlich — erst einmal bis auf ihre ökonomischen Grundmauern niedergebrannt. Die Europäische Gemeinschaft ist in nationale Egoismen mit unterschiedlichen Interessen zerfallen.
Während sich die agrarisch orientierten Länder hinter dem Projekt einer Fettsteuer und dem Abbau des Grenzausgleichs für die deutsche Landwirtschaft als einem finanziellen Sanierungsmittel verschanzt haben, ist demgegenüber für die Gruppe der Nettozahler das Sparen bei den Agrarsubventionen vorrangig. Das gilt besonders für die Bundesrepublik und Großbritannien. Im Moment scheint die Quadratur des Kreises eher wahrscheinlich als die Konsensfindung dieser EG-Länder.
Ganz entsprechend der in diesen Ländern vorherrschenden Naturwüchsigkeit des Marktprozesses scheint eine Verlustzuweisung, wenn denn überhaupt, allenfalls durch Drohung des Bankrotts möglich. Das scheint der einzige Ausweg zu sein, der hier noch eine Lösung denkbar erscheinen läßt.
Die Zeit scheint gekommen zu sein, in der Ihre großen Worte von der europäischen Völkergemeinschaft durch die Praxis des finanztechnischen Geschiebes auf ihre nüchternen ökonomischen Gehalte reduziert werden. Durch die Geschäftigkeit der pompösen Gipfeltreffen hindurch hat sich in den letzten Tagen eine tiefgreifende Strukturkrise der EG offenbart, über die auch der so gern zur Schau gestellte Berufsoptimismus nicht länger hinwegtäuschen kann. Um das sehr deutlich zu sagen: Für 1984 ist die Zahlungsunfähigkeit der EG angesagt. Für 1984 steht die Zahlungsfähigkeit der EG insgesamt in Frage. Der Agrarmarkt steht vor dem Zusammenbruch. Allenthalben hören wir protektionistische Töne. Fettsteuer und Grenzausgleich, das sind offenbar die profanen Stolpersteine für die großen Ideale der europäischen Völkergemeinschaft.
Angesichts der gegenwärtigen Probleme scheint die EG mehr und mehr zur bloßen Raketengemeinschaft verkommen zu sein, einer Raketengemeinschaft, die ihre internen Probleme dadurch zu verschleiern versucht, daß die Gemeinsamkeit der NATO-Interessen und die Verteidigungsfähigkeit des Westens beschworen werden.
Dieser Schulterschluß im Rahmen der Raketengemeinschaft ist offensichtlich auch das hauptsächliche Motiv, das hinter dem geplanten Beitritt von Spanien und Portugal steht.
Nach schlechter historischer Tradition scheint zunehmend die Gefahr zu bestehen, daß innenpolitische Konfliktfelder nach außen verlagert werden, daß die Einstimmung gegenüber dem vermeintlichen Gegner im Osten dazu benutzt wird, von inneren Problemen abzulenken. Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Hier in diesem Haus ist vor zwei Wochen jener Raketenbeschluß gefaßt worden, der die Kriegsgefahr auch in Mitteleuropa dramatisch verschärft hat und der zugleich die Abhängigkeit bundesdeutscher und westeuropäischer Sicherheitsinteressen von den Strategien, die im Weißen Haus und im Pentagon entwickelt werden, zementiert und vertieft hat, eine Abhängigkeit, die nicht nur in der Sicherheitspolitik besteht, sondern die auch im ökonomischen Bereich festgestellt werden muß, eine Abhängigkeit, die eine der Ursachen für die strukturelle Krise der EG und für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in der Bundesrepublik ist, eine Abhängigkeit, die im Zuge Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, ständig zunimmt. Anstatt Vasallentreue zu üben, wäre hier eine Loskoppelung notwendig, eine Loskoppelung im militärischen Bereich, aber auch eine Loskoppelung, die eine wirklich eigenständige europäische Entscheidungsmöglichkeit auch in der Wirtschaftspolitik eröffnen würde. Nicht nur die Abhängigkeit von USMilitärstrategien muß überwunden werden, überwunden werden muß auch die Abhängigkeit von der US-Ökonomie. Hohe Zinsen und Raketen dür-
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fen nicht länger der prägnanteste Importartikel des „American Way of Life" sein.
Schauen wir einmal genauer ins Innere der Bundesrepublik: Mehr als ein Jahr ist diese Regierung jetzt im Amt. Und Sie, Herr Kohl, haben sich seit dem 6. März häufig über die ökonomische Krise, über wirtschaftliche Zukunftsaussichten, über die Wege, die aus den ökologischen und ökonomischen Problemen herausführen sollen, in der Ihnen eigenen lebensphilosophischen Prägnanz geäußert. Sie haben sich oft und gerne über die Segnungen der Sozialen Marktwirtschaft geäußert, die — und ich zitiere jetzt den Herrn Bundeskanzler — „persönliche Freiheit, sinnerfüllte Arbeit, Gleichheit der Chancen" ebenso garantiere wie — ich zitiere wieder — „Eigentum und Wohlstand".
Mitunter äußern Sie sich sogar zu Krisenphänomenen der bundesdeutschen Wirtschaft. Dann allerdings, Herr Bundeskanzler, pflegen Sie diese lieber mit den Begrifflichkeiten eines moralisierenden Heilpraktikers zu kennzeichnen. Wenn es um Krisenprobleme geht, dann heißt es nämlich — und ich zitiere wieder —, es gehe darum, der Wirtschaft zu einer robusteren Konstitution zu verhelfen — als ob es darum gehe, einen schwächlichen Patienten durch Handauflegen wieder aufzupäppeln.
Auch für die Arbeitslosen haben Sie immer wieder trostreiche Worte parat. So heißt es z. B. in Ihrer Regierungserklärung vom Mai 1983 — ich zitiere —: Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist ein „Gebot der Mitmenschlichkeit". Wer diese Worte hört und wer diese Worte mit der Wirklichkeit des Jahres 1983 vergleicht, der muß sich angesichts der Diskrepanz zwischen diesen Sprüchen und der irdischen Realität stark wundern. Von praktizierter Mitmenschlichkeit ist da wenig zu entdecken.
Seit Herbst letzten Jahres ist die Arbeitslosenzahl auf 2,3 Millionen angewachsen. Sicher ist die Zunahme der registrierten Arbeitslosen in diesem Herbst geringer ausgefallen, als das eine Reihe von Prognosen vorausgesagt haben;
aber welche Ursachen hat das denn? Während Sie sich hier mit geschönten Zahlen schmücken, steigt doch in Wahrheit die Dunkelziffer bei der Arbeitslosigkeit ständig weiter an, meine Damen und Herren.
Es steigt die Zahl derjenigen, die als Dauerarbeitslose das Schicksal von Armut und sozialer Verelendung hinnehmen müssen. Schon jetzt ist die Zahl der Arbeitslosen, die kein Arbeitslosengeld bekommen, auf 1,3 Millionen angestiegen. Und diese Zahl wird weiter wachsen. Gleichzeitig ist in diesem
Herbst die Zahl der Kurzarbeiter von 400 000 auf 700 000 gestiegen.
Während die Unternehmererträge im Jahre 1983 drastische Steigerungsraten aufweisen — der Sachverständigenrat spricht von 12 % —, sind die Einkommen aus unselbständiger Arbeit in etwa gleichgeblieben, ja, sie sind vielfach sogar gesunken. Der Anstieg des Einkommens aus unternehmerischer Tätigkeit hat allerdings eines nicht aufhalten können: nämlich daß von 1982 auf 1983 erneut von einem Anstieg der Konkurse ausgegangen werden muß, diesmal von einem Anstieg von 16 000 auf 18 000.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung im Mai ausgeführt — ich zitiere —:
Wer mehr wagt, und wer sich mehr plagt, der hat auch Anspruch auf Erfolg und Gewinn.
Wie sieht es nun um die Einlösung dieses Anspruchs aus?
Der Erfolg und der Gewinn, von dem Sie gesprochen haben, Herr Bundeskanzler, besteht gerade für eine wachsende Zahl von Jugendlichen, von ausländischen Mitbürgern, von Frauen und von älteren Arbeitnehmern in nichts anderem als in Arbeitslosigkeit, und zwar in einer ziemlich dauerhaften Arbeitslosigkeit. Wenn Sie von Erfolg und Gewinn sprechen, dann meinen Sie offensichtlich den Erfolg und den Gewinn anderer Bevölkerungskreise, nicht den, von dem ich soeben gesprochen habe.
Die Gesamtbilanz zeigt: Der strahlende Glanz ihrer bestellten Gutachten steht in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Dunkelziffern der unerfreulichen Wirklichkeit.
Soweit diese Bundesregierung unter der Überschrift: Abbau der Arbeitslosigkeit überhaupt politische Initiativen unternommen hat, so waren das Initiativen, die stets als Vorsorgemaßnahmen für stabiles Geld, für die Minderung des öffentlichen Kapitalbedarfs und für die Förderung von Eigenkapitalbildung angelegt waren. In Ihren wirtschaftspolitischen Konzepten geht es vornehmlich um die Förderung von Investitionsanreizen, um die Verbesserung der Eigenkapitalausstattung der Unternehmen und um steuerliche Erleichterungen für die Unternehmer. Das Steuerentlastungsgesetz, das mit diesem Haushalt verabschieddt werden soll, bietet hierfür das deutlichste Beispiel. Das alles ist ungefähr so, als wenn man sich zur Bekämpfung eines Hausbrandes damit zufrieden geben würde, daß für die folgenden Tage Regen angesagt wird. Denn allein auf der Grundlage der vagen Hoffnungen, eine Förderung der Investitionstätigkeit könnte zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit irgendeinen nennenswerten Beitrag leisten, wollen Sie solche Gesetze beschließen, mit denen auf Milliardeneinnahmen verzichtet wird. Dabei liegt auf der Hand, daß selbst eine beträchtliche Zunahme der Investitionstätigkeit gerade keinen entscheidenden
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Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit wird leisten können. Diese Zunahme der Investitionstätigkeit wird eher noch zur Vernichtung weiterer Arbeitsplätze führen.
Dies zeigen die für 1983 vorliegenden Zahlen sehr deutlich. 1983 sind die Anlageinvestitionen um zirka 3,5 % gewachsen, ebenso das Bruttosozialprodukt um zirka 0,7 % bis 1 %. Aber dennoch ist die massive Vernichtung von Arbeitsplätzen weitergegangen. Etwa die Berechnungen des Ifo-Instituts zeigen darüber hinaus, daß 85% aller Investitionsmaßnahmen als Rationalisierungsinvestitionen vorgenommen werden, deren Ziel gerade die Vernichtung von Arbeitsplätzen ist.
Daß diese Grundorientierung Ihrer Wirtschaftspolitik gerade kein Mittel sein kann, auch nur die schlimmsten Auswirkungen der wirtschaftlichen und sozialen Krise zu beseitigen, hat schließlich kein geringerer als der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht erst jüngst bestätigt, jener Ministerpräsident, mit dessen Vorstellungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik uns GRÜNE ansonsten nun überhaupt nichts verbindet. Aber in einem hat der Herr Albrecht ganz zweifellos recht, nämlich mit der These, daß die Bundesregierung ohne eine drastische Veränderung ihrer Wirtschaftspolitik bis zum Jahre 1990 mindestens 4 Millionen Arbeitslose mitproduzieren wird.
Dies ist deshalb wahrscheinlich, weil Sie nach wie vor die einzig sinnvolle Alternative, die einer differenzierten Investitionspolitik in den gesellschaftlichen Feldern, in denen ein echter Bedarf besteht, bei gleichzeitiger drastischer Arbeitszeitverkürzung nach wie vor ablehnen. Meine Damen und Herren, wir haben wenig Hoffnung, daß der Nachfolger des jetzigen Wirtschaftsministers in dieser Richtung neue Töne anschlagen wird.
Nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen Strukturprobleme sind es, die sich seit Ihrer Regierungsübernahme noch weiter verschärft haben.
Verschärft hat sich das Sterben der Wälder. Das Waldsterben hat sich innerhalb der letzten anderthalb Jahre vervierfacht. 35 % des Waldbestandes in der Bundesrepublik sind heute schon davon betroffen. Heute schon liegen die Kosten, die das Waldsterben verursacht, bei mindestens 60 Milliarden DM. Daß hier eine Umweltkatastrophe schlimmsten Ausmaßes auf uns zukommt, das ist inzwischen derart offensichtlich geworden, daß das niemand mehr zu leugnen wagt. Das Waldsterben ist nur eines, wenngleich das schlimmste Beispiel für eine Schädigung von Natur und Umwelt, von Luft und Wasser, die durch Ihre Industriepolitik hervorgerufen wird, durch eine Politik, die am ungebremsten Wachstum festhält und die gesellschaftlichen Folgekosten für künftige Generationen allenfalls am Rande einkalkuliert.
Wir haben nicht das Recht, die Natur rücksichtslos auszubeuten. Dies hatte uns der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung im Mai von dieser Stelle aus wissen lassen. Er hat damals wirksame Gegenmaßnahmen angekündigt.
Was ist seither geschehen? Wenn wir die Bilanz aufmachen, werden wir feststellen müssen: Geschehen ist so gut wie gar nichts. Während das Waldsterben in einer Geschwindigkeit voranschreitet, die selbst schlimmste Befürchtungen früherer Jahre noch übertrifft, läßt Ihr Herr Innenminister verlauten, daß die Ursachen für das Waldsterben noch nicht genau bekannt seien, daß es zwar Anhaltspunkte dafür gebe, daß es dieses Waldsterben ohne die Luftverschmutzung nicht gebe, aber eben nur Anhaltspunkte; es müsse noch weiter geforscht werden. Dabei findet sich landauf, landab kein Umweltexperte mehr, der bestreiten würde, daß Schwefeldioxid und Stickoxide die Luftschadstoffe sind, die als Hauptverursacher des Waldsterbens gelten müssen.
Das Schwefeldioxid stammt zu 60 % aus Kohlekraftwerken und Fernheizwerken. Dennoch weigert sich diese Bundesregierung nach wie vor standhaft, wirksame Entschwefelungsprogramme zu beschließen.
Soweit überhaupt etwas passiert, soll hier das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt werden. Mit der Begründung, die Autos seien der allein entscheidende Schadstoffproduzent bei der Luftverschmutzung, wird auf eine wirksame Bekämpfung der Schadstoffemissionen bei Kraftwerken verzichtet und das umweltpolitische Heil allein von der Einführung bleifreien Benzins erwartet — eine Einführung, die ohnehin noch in den Sternen steht und die bei aller unbestrittenen Notwendigkeit nicht mehr sein kann, wenn sie denn überhaupt kommen sollte, als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Forcierte Industrialisierungspolitik ohne Rücksicht auf die tatsächliche Beschäftigungsentwicklung und bei Geringschätzung der Folgewirkungen dieser Politik für Natur und Umwelt, das sind die Stichworte, mit denen Ihre Politik gekennzeichnet werden muß. Während Sie in der Beschäftigungspolitik alles auf mehr oder weniger utopische Wachstumsraten setzen, während Sie angesichts der tiefgreifenden Strukturkrisen bei Stahl und Werften nicht viel mehr anzubieten haben als Sanierungsauflagen, die eine massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen einkalkulieren, ja, diese massenhafte Vernichtung sogar fordern, ohne daß gleichzeitig das Problem einer Produktionsumstellung angegangen würde, setzen Sie zugleich auf einen massiven Ausbau der Atomenergie.
Als wollten Sie die Krise im Steinkohlenbergbau Ihrerseits noch anheizen, propagieren Sie jetzt noch stärker den Ausbau der Atomenergie, statt mittelfristig der einheimischen Kohle als Energieträger eindeutig den Vorrang einzuräumen.
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Nach einem Jahr Rechtsregierung in Bonn, nach einem Jahr Kanzlerschaft Kohl stehen wir — und das ist die Bilanz —
tiefer in der ökologischen und sozialen Krise als jemals zuvor.
Es ist dies eine Krise — —
— Jetzt seien Sie doch mal still. An Ihrer Stelle würde ich jetzt mal zuhören. Vielleicht können auch Sie einmal etwas lernen.
Es ist dies nicht bloß eine Konjunktur- oder Strukturkrise der Wirtschaft. Es ist eine umfassende Krise, die aus grundlegenden Konstruktionsfehlern dieses auf bloßes industrielles Wachstum ausgerichteten Wirtschaftens erwächst. Und Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, hat im Lauf des letzten Jahres erheblich dazu beigetragen, diese Krise noch zu verschärfen.
Ich denke, daß wir GRÜNEN auch deshalb seit dem 6. März in diesem Parlament sitzen, weil wir mit vielen nachdenklichen Bürgern die Auffassung teilen,
daß es mit der ungehemmten Wachstumsgläubigkeit vergangener Jahre nicht mehr weitergehen kann,
wenn die Lebens- und Zukunftschancen künftiger Generationen nicht ruiniert werden sollen.
Auch die eine oder andere Äußerung zumindest in Ihren Sonntagsreden schien darauf hinzudeuten, daß auch bei Ihnen der Zweifel wächst, ob man mit den Konzepten aus der wirtschaftspolitischen Rezeptküche vergangener Jahrzehnte wirklich noch Perspektiven eröffnen kann.
Weil dies so ist, ist es sehr interessant, am Ende dieses Jahres zu bilanzieren, was wir von Ihnen, namentlich von den Regierungsparteien, in diesem Parlament erlebt haben.
Noch im März haben Sie verkündet — ich zitiere hier Ihren Geschäftsführer Schäuble —:
Wir werden für jede neue Anregung dankbar sein.
Wir werden sorgfältig prüfen, ob sie eine Verbesserung beinhaltet.
Und der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung ausgeführt — ich zitiere wieder —:
Meine Achtung gilt auch denen, die in der Minderheit geblieben sind. Der demokratische Staat braucht beide: Regierung und Opposition.
Ich zitiere den Herrn Bundeskanzler weiter:
Ich wünsche uns allen einen fairen Stil des Umgangs miteinander. Das dient der Sache und dient der politischen Kultur.
Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, auch hier sieht die Wirklichkeit ganz anders aus.
Was wir seit dem März hier erlebt haben, das spricht für vieles, aber für eines mit Sicherheit nicht, nämlich für Ihre Fähigkeit, auch nur einen einzigen neuen Gedanken wirklich aufzunehmen.
Und das gilt nicht nur für uns, die wir hier in diesem Parlament sitzen. Das gilt verstärkt für diejenigen, die außerhalb dieses Parlaments für eine andere Politik eintreten.
Nur allzu oft haben wir in den vergangenen Monaten erleben müssen, wie diejenigen, die angesichts der ökologischen Krise, angesichts neuer Rüstungsprogramme und angesichts sich zuspitzender sozialer Probleme neue Alternativen vorschlagen, von Ihnen als utopische Schwärmer eher herablassend abgetan, als „sogenannte" Friedensbewegung verleumdet, als „Verfassungsfeinde" verketzert, als „Handlanger Moskaus" verteufelt oder gar in die Nähe der Nazis gerückt worden sind, wie es kürzlich in diesem Hause passiert ist.
Und das ist passiert, obwohl gerade Sie von der CDU/CSU bei solchen Vergleichen wie dem letzten allen Anlaß hätten, außerordentlich vorsichtig zu sein.
Ich will hier das Thema diverser Geistesverwandtschaften, die im übrigen viel schlimmer als polternde Zwischenrufe sind, in diesem Zusammenhang gar nicht weiter vertiefen. Ich will auch der Versuchung widerstehen, an dieser Stelle darauf einzugehen, welche Vorstellungen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten anläßlich der Südafrika-Diskussion in der vorigen Woche bei einigen
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Rednern der größeren Regierungsfraktion deutlich geworden sind,
obwohl dies alles einschließlich der Frage der Geistesverwandtschaften eine ausführlichere Debatte wahrlich verdient hätte. Ich will mich an dieser Stelle mit einem Hinweis begnügen. Nicht nur die geplanten Verschärfungen des Demonstrationsrechts und das Verfahren mit Asylbewerbern, wie es im Fall Altun öffentlich sichtbar geworden ist, nicht nur die unglaublichen Ausfälle gegen die Friedensbewegung, durch die sich namentlich Herr Geißler hervorgetan hat, zeigen, daß es in der Innenpolitik tatsächlich so etwas wie eine Wende gegeben hat. Hier ist dieses Wort offensichtlich tatsächlich einmal zu Recht angebracht. Nicht nur die Töne, die man im Hause von Innenminister Zimmermann vor allem aus dem Munde des Herrn Spranger vernehmen konnte, der j a nicht nur für jenes ungeheuerliche Machwerk in Hunderttausenderauflage verantwortlich zeichnet, das die Friedensbewegung als von Moskau ferngesteuert darstellt und das in seiner Machart an Propagandavorbilder aus den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges erinnert, sondern der inzwischen offensichtlich auch der Auffassung ist, zu den vornehmsten Aufgaben eines Staatssekretärs im Bundesinnenministerium gehöre im Rahmen der sogenannten Terrorismusbekämpfung auch der Kampf gegen die Kubaner in Mittelamerika und die Befürwortung der Invasion eines souveränen Staates durch die USTruppen; nicht nur diese Töne machen deutlich, welch bedenkliche Wende sich hier abspielt. Nicht nur dies, auch Ihre Ausfälle hier im Hause, die sich in den letzten Wochen gehäuft haben, zeigen an, daß es mit Ihrer demokratischen Toleranz gegenüber abweichenden Positionen nicht allzu weit her sein kann. Wer die wahnwitzigen Vergleiche gehört hat, die der amtierende Generalsekretär einer in der Koalition vertretenen Partei am letzten Wochenende zwischen der Ermordung von Ponto und Schleyer einerseits und den gegen Minister Lambsdorff und andere ermittelnden Behörden andererseits gezogen hat, dem müssen angesichts des Fortgangs dieser innenpolitischen Wende die schwersten Befürchtungen kommen.
Vielleicht erleben wir demnächst wieder einmal einen Abgrund von Landesverrat, falls nämlich wieder einmal ein amtierender Bundesminister Gefahr laufen sollte, durch despektierliche Enthüllungen in die Bredouille zu kommen. Der Eindruck, so etwas könnte in den nächsten Jahren bevorstehen, verstärkt sich noch, wenn man daran denkt, daß der betreffende Herr, der das vor mehr als 20 Jahren ins Rollen gebracht hat, schon ante portas zu stehen scheint.
Die Grundlinien Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, sind die festere Anbindung an die US-Militärstrategie und -ökonomie nach außen, eine forcierte Industrialisierungs- und Wachstumspolitik bei eindeutigem Primat einer Angebotsorientierung, soziale Umverteilung von unten nach oben, Vernachlässigung gesellschaftlicher Folgekosten hinsichtlich der Schädigung von Natur und Umwelt nach innen. Diese Politik wird abzusichern versucht durch ein innenpolitisches Wendemanöver, das den Toleranzraum gegenüber Minderheiten in dieser Gesellschaft einschränkt und gleichzeitig eine beträchtliche Aufrüstung des staatlichen Gewaltapparates betreibt. Ich erinnere hier nur an die massive Aufrüstung des Bundesgrenzschutzes, die dieser Haushalt vorsieht.
Die Grundlinien kennzeichnen auch den vorliegenden Haushaltsplan für 1984. Wir diskutieren einen Haushalt der Güterverschwendung, einen Haushalt, dessen Maßnahmen künftigen Generationen hohe Folgekosten auferlegen. Wir diskutieren einen Haushalt der Hochrüstung und einen Haushalt der sozialen Demontage. Dieser Haushalt fordert von Millionen von Bürgern in diesem Lande erhebliche finanzielle Opfer. Diese Opfer werden vor allem eingetrieben bei den Arbeitern und Angestellten, sie werden eingetrieben bei den Arbeitslosen und bei den Kurzarbeitern, und sie werden eingetrieben bei den Rentnern und den Schwerbehinderten.
Ich darf in diesem Zusammenhang ein Zitat aus berufenem Munde zu Gehör bringen:
Es sind die Nichtorganisierten, die kinderreichen Familien, alleinstehende Mütter mit Kindern, alte Menschen, die Nichtarbeitsfähigen, Behinderte, zu deren Lasten Vorteile errungen werden können. Hier stellt sich die Neue Soziale Frage.
Wie wahr, möchte man angesichts auch der Kürzung des Mutterschaftsgeldes, angesichts Ihrer radikalen Eingriffe in das soziale Sicherungssystem sagen. Wie wahr, möchte man sagen angesichts Ihres Eingriffs in die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen. Ganz merkwürdig wird einem freilich zumute, wenn man weiß, wer der Autor dieser Zeilen ist, und wenn man weiß, daß es sich um ein Mitglied der Bundesregierung handelt. Es handelt sich um keinen Geringeren als den Bundesminister Heiner Geißler, der dies 1976 in seinem Buch „Die Neue Soziale Frage" geschrieben hat.
Nun macht es ganz den Eindruck, als hätte die Bundesregierung diese Strategieanweisung ihres Denunziationsexperten nur allzu wörtlich genommen, wörtlich genommen allerdings nicht, um eine Sozialpolitik zugunsten dieser benachteiligten Gruppen zu betreiben. Vielmehr möchte man meinen, die Geißlersche Bemerkung habe umgekehrt als Grundlage für den mit diesem Haushalt verbundenen Einbruch in das soziale Sicherungssystem gedient. Es sieht so aus, als ginge es der Bundesregierung geradewegs darum, die Geißlersche Logik vom Kopf auf die Füße zu stellen und direkt an Geißlers These von diesen sozialen Gruppen als neuer sozialer Klasse anzuknüpfen. Denn wenn Geißler recht hat und diese Gruppen tatsächlich eine neue soziale Klasse sind, dann ist die Politik der Bundesregierung tatsächlich als nichts anderes zu qualifizieren denn als Klassenkampf von oben.
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