Meine Damen und Herren, das Erbe, das wir in der Sozialpolitik zu übernehmen hatten, war noch schlimmer als das Erbe in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Bei der Arbeitslosenversicherung hatte sich für 1983 ein Finanzierungsloch in Höhe von 13 Milliarden DM aufgetan. Die Rentenversicherung drohte ab August 1983 zahlungsunfähig zu werden.
— Ich komme auf das, was wir für das kommende Jahr tun. — Die Beitragseinnahmen waren 1982 im Schnitt um 1 %, die Ausgaben aber um durchschnittlich 7 % gestiegen. Das Gebäude der Sozialversicherung stand vor dem Einsturz. Schnell wirkende Notmaßnahmen, Stützen für das krachende Gebälk, waren das Gebot der Stunde. Norbert Blüm hat es geschafft. Das Loch in der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit konnte gestopft, die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung konnte erhalten werden.
Der Kostenschub bei der Krankenversicherung wurde gebremst. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen haben seit Dezember des vergangenen Jahres ihren Beitragssatz durchschnittlich um 0,34 % gesenkt. Das entspricht einer Entlastung der Beitragszahler um rund 1 Milliarde DM für ein Jahr. Die Not- und Sparmaßnahmen in der Sozialpolitik waren schmerzhaft, aber ohne sie wären Konsolidierung und Aufschwung nicht möglich geworden.
Flankierend zu diesen Sparmaßnahmen werden durch gezielte wirtschaftliche Anreize für die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital der Wirtschaft neue Akzente gesetzt. Mit dem Vermögensbildungsgesetz beenden wir den 14jährigen Stillstand in der Vermögenspolitik.
Der Vermögenszuwachs wird nicht vom Staat verteilt; er wird von den Arbeitnehmern erarbeitet und in Tarifverträgen abgesichert. Wir werden weiterhin alles tun, um den Spielraum für eine breitere Eigentumsstreuung in der Wirtschaft beharrlich auszuweiten.
Drei große Probleme in der Sozialpolitik liegen in den kommenden Jahren vor uns: erstens die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Gleichstellung von Mann und Frau im Rentenrecht, zweitens die Einbeziehung von Zeiten der Kindererziehung bei der Berücksichtigung der Rentenhöhe und drittens das sich in den 90er Jahren rapide verschlechternde Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenempfängern.
Wir können diese Probleme nur mit den Mitteln und den Überzeugungen der sozialen Marktwirtschaft lösen. Zur sozialen Marktwirtschaft gehört notwendigerweise beides: Leistung und soziale Gerechtigkeit, Wettbewerb und Solidarität, Eigenverantwortung und soziale Sicherung. Die in diesem „und" zum Ausdruck kommende Balance zwischen solidarischem Schutz und Eigenverantwortung ist in den 70er Jahren in eine Schieflage geraten. Staatliche Sozialpolitik bestand vor allem darin, den Bürgern immer neue Leistungen anzubieten und sie zu animieren, diese auch bis zum letzten auszunutzen.
Beharrlich verschwiegen wurde dabei, daß das Geld dafür den Bürgern vorher oder nachher abgenommen werden würde.
Eine solche Politik konnte nur in der Sackgasse enden, und sie hat j a auch in der Sackgasse geendet.
Wir aber bekennen uns ohne Wenn und Aber zu den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft.
Wir wissen: Die Gesetze des Marktes allein schaffen noch keine soziale Friedensordnung.
— Hören Sie doch einmal zu, es ist gut für Sie.
Der Markt honoriert nur das ökonomisch Richtige, aber nicht das Gerechte. Deshalb stellen wir die Wirtschaft in den Dienst des Menschen.
Aber je mehr die Wirtschaft leistet, um so mehr können wir den Menschen dienen. Deshalb fördern wir die Wirtschaft und strangulieren sie nicht, wie Sie es getan haben!
Meine Damen und Herren, das Vorgetragene ist die Bilanz der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, die wir immer als Einheit begriffen haben, aus nur 14 Monaten der Bundesregierung Helmut Kohl. Im Namen der CDU/CSU-Fraktion spreche ich dem Bundeskanzler Helmut Kohl, dem Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg, dem Bundesarbeitsminister Norbert Blüm und der ganzen Bundesregie-
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Dr. Dregger
rung Dank, hohen Respekt und Anerkennung für diese großartige Leistung aus.
Auf dem Hintergrund dieser Bilanz möchte ich zu einigen aktuellen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen Stellung nehmen. Erste Frage: Kann die Arbeitslosigkeit durch eine Verkürzung der Arbeitszeit vermindert werden und, wenn ja, welche ist die richtige, die beste oder die am wenigsten schlechte Lösung?
Zuerst eine wichtige Feststellung zur Ausgangslage. In der Schaffung neuer Arbeitsplätze ist unser Land im letzten Jahrzehnt hinter allen Industrienationen mit Ausnahme Großbritanniens weit, teilweise sehr weit zurückgefallen. Ich beziehe mich auf das Statistische Taschenbuch 1983 des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Daraus ergibt sich: Zwischen 1970 und 1981 wurde die Zahl der Arbeitsplätze bei uns nur um 637 000 vermehrt, in Frankreich um 1,4 Millionen, in Italien um 1,5 Millionen, in Japan um knapp 8 Millionen und in den Vereinigten Staaten von Amerika um 18,5 Millionen netto; alles in diesem Zeitraum.
Ein anderer Vergleich: Über ein Drittel der heute in den USA außerhalb der Landwirtschaft bestehenden Arbeitsplätze ist in den letzten 20 Jahren entstanden, nämlich 36 Millionen von 90 Millionen. Von den Arbeitsplätzen, die es jetzt bei uns gibt, ist im selben Zeitraum nicht ein Drittel, sondern nur ein Achtel entstanden, nämlich 3 Millionen von 23 Millionen. Das zeugt nicht gerade von Vitalität, von Fortschritt, von Dynamik der deutschen Wirtschaft. Das ist aber das, was wir brauchen, meine Damen und Herren. Alles, was dem technischen Fortschritt, was der wirtschaftlichen Dynamik dient, ist notwendig, um wieder zu Vollbeschäftigung für Deutschland zu kommen.
Dieser Rückstand in der Schaffung neuer Arbeitsplätze, den die beiden sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen zu verantworten haben, ist um so erschreckender, als im gleichen Zeitraum ein nahezu ungebremster Zuzug von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden hat.
Meine Damen und Herren, wir bitten auch die anderen Fraktionen dieses Hauses und die Öffentlichkeit, unserer vernünftigen Ausländerpolitik auch im Interesse der deutschen Arbeitnehmer zuzustimmen.
— Ja, sagen Sie ruhig aha. Diese Position habe ich immer vertreten und werde sie weiter vertreten.
Wir wollen den Menschen der Dritten Welt vor allem in ihrer Heimat helfen und nicht dadurch, daß wir einen verschwindenden Bruchteil von ihnen hier in unser Land holen.
— Sie interessieren sich für alle in der Welt. Ich interessiere mich besonders für die Deutschen, weil ich ein Vertreter des deutschen Volkes bin. Deswegen kann ich doch mal seine Interessen hier im Deutschen Bundestag geltend machen.
Eine zweite Feststellung — zunächst ebenfalls ohne Wertung — möchte ich der Fragestellung, ob die Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung verringert werden kann, vorwegschicken! Wir Deutschen arbeiten schon jetzt weniger als nahezu alle Industrienationen. Nur die Belgier übertreffen uns in dieser Hinsicht noch geringfügig. Bei den Belgiern sind es 1 756 Stunden, bei uns 1 773 Stunden pro Jahr — normale Arbeitszeit, abzüglich Feiertage und Urlaub.
Eine dritte Feststellung: Bei einem internationalen Vergleich fällt auf, daß die Arbeitslosigkeit nicht in denjenigen Industrienationen am geringsten ist, in denen am kürzesten gearbeitet wird, sondern ausgerechnet in denen, in denen am längsten gearbeitet wird. Am längsten arbeiten die Japaner, nämlich 2 101 Stunden; ihre Arbeitslosigkeit beträgt im Jahresmittel 2,4 %. Die Schweizer, unser europäisches Nachbarvolk, arbeiten 2 044 Stunden, also nicht viel weniger als die Japaner; ihre Arbeitslosigkeit beträgt im Jahresmittel nur 0,4 %. Wir arbeiten, wie gesagt, 1 773 Stunden; unsere Arbeitslosigkeit lag 1982 im Jahresmittel bei 7,5 %.
— Natürlich, Erklärungen können Sie immer finden. Aber letzten Endes kommt es darauf an, daß die Menschen Arbeit finden. Dazu ist es notwendig, daß die Käufer unsere Produkte auf den Märkten kaufen; alles andere ist Gerede.
— Ich möchte mich jetzt nicht an Sie, sondern an den Deutschen Gewerkschaftsbund wenden. Ich möchte den Deutschen Gewerkschaftsbund, vor dem ich großen Respekt habe, insbesondere die Industriegewerkschaft Metall, die bereits Kampfmaßnahmen angedroht hat, bitten, an Hand dieser Zahlen darüber nachzudenken, ob die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden in der jetzigen Lage gut für die deutschen Arbeitnehmer ist; das ist doch die Fragestellung.
Das könnte doch — wenn überhaupt — nur dann der Fall sein, wenn wir die Japaner, die Amerikaner, die Schweizer, die Franzosen, die Briten und alle anderen dazu überreden könnten, mit uns
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gleichzuziehen, also ihre Arbeitszeit auch auf 35 Stunden zu verkürzen.
— Herr Wieczorek, Sie können sich ja einmal bemühen. Machen Sie doch einmal auf diesem Gebiet eine Missionsreise ins Ausland. — Aber die denken gar nicht daran. In der Schweiz haben sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gerade darauf geeinigt, nicht die 35-Stunden-Woche, sondern die 40-Stunden-Woche einzuführen, und zwar nicht jetzt, sondern 1986 und 1988 — und das nicht bei vollem Lohnausgleich; erstaunlich.
— Mitterrand hat mit seiner Arbeitszeitverkürzung ja Pech gehabt. So sehr ich seine Außenpolitik schätze, aber die Wirtschafts- und Finanzpolitik kann man — ich äußere mich über einen so geschätzten Mann nur ungern nicht positiv — wirklich nicht als Vorbild für die Welt hinstellen, auch nicht für die Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, hätte die IG Metall mit ihrer Forderung Erfolg, dann stiegen die Arbeitskosten im Schnitt mindestens um 14 %; es gibt Schätzungen, die darüber liegen. Vergleichbar wäre diese bezahlte Verkürzung der Wochenarbeitszeit mit einem bezahlten Zusatzurlaub von nahezu 6 Wochen im Jahr. Das ist wirklich das Wunderland, das Paradies — oder auch nicht.
Die Folgen eines derartigen Alleingangs — international gesehen wäre es ja ein Alleingang — liegen doch auf der Hand: Der Aufschwung würde gestoppt, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft würde weiter beeinträchtigt, noch mehr deutsche Betriebe gingen in Konkurs, die Arbeitslosigkeit in Deutschland stiege dramatisch. Das sollte niemand wollen, am wenigsten die Interessenvertreter der deutschen Arbeitnehmer.
Möge jetzt niemand sagen, das sei ein Eingriff in die Tarifautonomie, meine Damen und Herren!. Eine derartig drastische Veränderung der Arbeitszeit ist keine Privatangelegenheit der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Eine solche Veränderung betrifft die deutsche Volkswirtschaft als Ganzes und damit den Staat, für den wir, die Vertreter des deutschen Volkes, und vor allem die Bundesregierung Verantwortung tragen.
Genauso wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände das Recht haben, uns zu kritisieren — davon machen sie selbstverständlich auch reichlich Gebrauch —, genauso haben wir das Recht, unsere Bedenken ihnen gegenüber offen und ehrlich anzumelden und Kritik zu üben,
Ich begrüße es, daß es Gewerkschaften gibt, die der 35-Stunden-Woche ähnlich wie wir kritisch gegenüberstehen, wenn sie es auch nicht so deutlich sagen. Sie ziehen jedenfalls die Verkürzung der Lebensarbeitszeit vor. Auch diese Arbeitszeitverkürzung ist natürlich nicht ohne Probleme; aber die Verkürzung der Lebensarbeitszeit ist nicht unumkehrbar. Sie ist zunächst auf fünf Geburtsjahrgänge beschränkt; sie läßt sich mit der Tatsache rechtfertigen, daß in Deutschland in den 70er Jahren und Anfang der 80er Jahre ein besonders hohes Arbeitsplatzdefizit entstanden ist, das auch die neue Regierung nicht schlagartig beseitigen kann. In den Genuß der Verkürzung der Lebensarbeitszeit kämen die Jahrgänge, die es besonders verdient haben, weil sie dieses Land aus den Trümmern wieder aufgebaut haben. Auf jeden Fall ist dieser Weg der Arbeitszeitverkürzung besser, zumindest weit weniger gefährlich als die drastische Verkürzung der Wochenarbeitszeit.
Ich begrüße und unterstütze daher die Anstrengungen des Bundesarbeitsministers, zu einer ökonomisch vernünftigen und sozial vertretbaren Regelung zu kommen. Unser besonderes Augenmerk werden wir, wenn erforderlich, je nach Art der Regelung auf Schutzmaßnahmen für kleine Unternehmen mit niedriger Beschäftigtenzahl zu richten haben. Was wir jetzt haben, ist ein Diskussionsentwurf, und Norbert Blüm hat uns alle eingeladen, daran teilzunehmen; er ist offen für Verbesserungen.
Meine Damen und Herren, auch das soll nicht unausgesprochen bleiben: Man kann Menschen, die von Natur aus fleißig sind — solche gibt es doch auch —,
nicht dazu zwingen, in der Woche nur 35 Stunden zu arbeiten. Hören Sie doch mal zu und rufen Sie nicht soviel dazwischen, Herr Reents! Man kann doch Menschen, die von Natur aus fleißig sind, nicht dazu zwingen, in der Woche nicht mehr als nur 35 Stunden zu arbeiten.
Man kann doch nicht einen 59jährigen, einen 60jährigen zwingen, aus dem beruflichen Arbeitsleben überhaupt auszuscheiden. Das wäre doch diskriminierend.
Deswegen ist der Gesichtspunkt der Freiwilligkeit unverzichtbar,
und dabei denke ich noch gar nicht an die Folgen für den Schwarzmarkt und die Schattenwirtschaft.
Meine Damen und Herren, aus all diesen Überlegungen ergibt sich meines Erachtens: Arbeitszeitverkürzung kann kein Allheilmittel, sondern nur eine flankierende Maßnahme sein. Nicht die Vertei-
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Dr. Dregger
lung des Mangels und Resignation, sondern Aktion, wissenschaftliche Höchstleistungen, technische Innovationen, Optimismus — das ist das, was wir brauchen.
— Das ist Ihnen von den GRÜNEN völlig fremd, das ist mir klar; aber Sie repräsentieren nicht die deutsche Nation,
sondern einen sehr kläglichen Ausschnitt.
Meine Damen und Herren, ich bin jedenfalls nicht bereit, mich damit abzufinden, auch wenn die GRÜNEN noch so laut sind, daß uns Japaner und Amerikaner abgehängt haben, in der Mikroelektronik, in der Kommunikationstechnik, in der Biotechnologie. Die Technikfeinde in Deutschland, die ihre parlamentarische Vertretung jetzt in den GRÜNEN haben, haben Schlimmes angerichtet.
Wir aber fordern alle staatlichen Stellen, Forschungsstätten und Universitäten auf, ihre Leistungen zu steigern Höchstleistungen in diesen Massengebilden überhaupt wieder möglich zu machen und dafür zu sorgen, daß wir diesen technischen Rückstand in wichtigen Teilbereichen aufholen.
Ein reales Wachstum von 3 % über mehrere Jahre hinweg, das durchaus möglich ist, würde die Lage am Arbeitsmarkt grundlegend verändern.