Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Beim Einzelplan 04, über den wir jetzt diskutieren, geht es nach bewährter parlamentarischer Übung nicht nur um den Etat des Bundeskanzleramts und der diesem Amt zugeordneten Behörden. Es geht vielmehr um die politische Verantwortung des Bundeskanzlers und der Bundesregierung in ihrer gesamten Breite. Es geht um Ihre Verantwortung für die Vergangenheit, für Ihr bisheriges Tun und Unterlassen, und um Ihre Verantwortung für die Zukunft, für das, was Sie künftig zu tun beabsichtigen.
Haushalte werden an ihren Schwerpunkten, an ihren Zielsetzungen und daran gemessen, ob sie den Grundsätzen von Klarheit und Wahrheit entsprechen. An diesen Kriterien messen wir auch Ihre Politik. Das Ergebnis ist unbefriedigend.
Das Bild, das Ihre Amtsführung und Ihre Regierung bieten, ist unklar, verschwommen und widersprüchlich.
Die großen Herausforderungen bleiben ohne Antwort. Ihre Zielsetzungen sind blaß und unpräzise. Ihr Führungswille ist undeutlich. Ihre Führungskraft ist schwach. Der Aufgabe nicht angemessen.
Ihr Anspruch auf moralisch-geistige Führung oder gar auf Erneuerung unseres Volkes bleibt ohne Substanz. Er überfordert Sie.
Ich gebe zu, dieses Urteil, Herr Bundeskanzler, schont Sie nicht. Aber es ist ehrlich. Außerdem ist es nicht die Aufgabe der Opposition, den Regierungschef zu schonen. Es ist Aufgabe der Opposition, das auszudrücken, was nicht nur meine Freunde und ich, sondern viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger immer deutlicher empfinden.
Die einen enttäuscht, weil sie von Ihnen mehr erwartet haben; die anderen ohne Überraschung, weil sie ohne Illusionen waren.
Aber alle sind besorgt, weil wir, weil unsere Republik, unser Volk gerade in der kritischen Phase, in der wir uns befinden, von der Politik Sensibilität, Diskussionsfähigkeit und Lernbereitschaft, aber auch Perspektiven, Konzepte und Orientierung fordern. Dieser Forderung werden Sie, Herr Bundeskanzler, nicht gerecht.
Dieses Urteil reicht bis weit in Ihr eigenes Lager hinein. Ich werde es begründen.
Übrigens, Herr Bundeskanzler, das Wort Verantwortung hat eine sinnfällige Bedeutung. Es besagt, daß der, der Verantwortung trägt, sein Tun erläutern und erklären, daß er auf kritische Fragen antworten muß. Wer auf solche Fragen schweigt, verantwortet sich nicht, er verschweigt sich. Es war nicht gut, daß Sie am 21. November 1983 auf die große Rede Helmut Schmidts geschwiegen haben,
auf eine Rede, an der Sie noch lange gemessen werden.
Antworten Sie wenigstens heute. Es wäre nicht gut, wenn Sie wieder schwiegen. Es läßt sich nicht alles aussitzen und ausschweigen, was an Problemen auf uns zukommt.
Ich sagte, Sie und Ihre Regierung bieten ein widersprüchliches Bild. Das ist noch höflich ausgedrückt. In Wahrheit gibt es kaum eine wesentliche Frage, in der nicht FDP und CSU miteinander strei-
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ten oder die Union uneins in sich ist oder Herr Strauß Ihnen fortgesetzt Knüppel zwischen die Beine wirft. Das gilt für wichtige außenpolitische Themen, etwa für die Auseinandersetzung über die Haltung Ihrer Regierung in der karibischen Krise oder den Koalitionsstreit über den SprangerSprung nach Grenada.
Das gilt für die Deutschlandpolitik, in der sich immer wieder ein Mann tummelt, dessen Unzuständigkeit bekannt ist.
— Meine Damen und Herren, ich freue mich über Ihre lebhafte Anteilnahme. Ich rate Ihnen: Schonen Sie sich. Sie werden noch viele Gelegenheiten haben, deutlich zu machen, ob Sie sich in der Anhörung gegenteiliger Meinungen von denen unterscheiden, die Sie ständig kritisieren, die aber mehr Disziplin zeigen als Sie. Ich darf das bei dieser Gelegenheit sagen.
Es gilt für die Kontroversen über die Ausländerpolitik, für den Streit zwischen den sozialpolitischen Konzepten der Herren Albrecht und George auf der einen und Ihren Sozialausschüssen auf der anderen Seite. Es gilt für den Streit, ob Steuern überhaupt gesenkt werden sollen, und wenn ja, wann und welche Steuern, die der Arbeitnehmer oder die der Unternehmer. Oder es gilt für den neuesten Streit über die Vorruhestandsregelung.
Das wird auch dadurch nicht besser, daß man zumeist voraussehen kann, wer schließlich die Oberhand behält, nämlich die wirtschaftlich Stärkeren, die Mächtigen, die Einflußreichen.
So war es bei den Hermes-Gebühren für die Exportversicherung. Deren schon beschlossene Erhöhung machten Sie rückgängig, weil die Wirtschaftsverbände protestierten.
Aber an der Kürzung des Mutterschaftsurlaubsgeldes halten Sie fest. Da protestieren ja nur die Gewerkschaften und die Familienverbände.
So war es auch bei der Beschneidung von Auswüchsen des sogenannten Bauherrenmodells, mit dessen Hilfe ein einziger Hochverdienender mehr Steuern in einem Jahr sparen kann, als ein normaler Arbeitsloser in einem ganzen Jahr an Arbeitslosengeld oder gar an Arbeitslosenhilfe erhält.
Auch hier haben Sie im Ausschuß Ihre eigene Regierungsvorlage korrigiert, aber natürlich nicht zu
Lasten der Hochverdienenden, wie die Arbeitnehmergruppe in der Union es wollte, sondern zugunsten der Hochverdienenden, zu deren Vorteil Sie auf Steuereinnahmen von rund einer halben Milliarde DM sogar gegenüber Ihrer eigenen Vorlage verzichten, weil deren Lobby das verlangt. Das spricht sich allmählich herum, auch in Ihren Reihen.
Im Organ der Katholischen Arbeitnehmerbewegung — Vorsitzender: Herr Kollege Müller — schreibt der Bundesschatzmeister der CDUSozialausschüsse wörtlich:
So ist denn das Gezerre an der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung kein Zufall, sondern Ausdruck der Orientierungslosigkeit, die nicht auf die Meinungsführer radikaler Wendeerwartungen beschränkt ist.
Weiter schreibt er:
Unverzichtbare Ordnungselemente wie Tarifautonomie oder Mitbestimmung werden in Frage gestellt.
Da kann man nur sagen: Sehr wahr. Aber wahrscheinlich ist dieser Abgeordnete Ihrer Partei auch ein Klassenkämpfer oder zumindest ein Miesmacher, wenn er solche Sätze schreibt und ausspricht.
Ich weiß: Sie sagen, solche Kontroversen in der Koalition und in Ihrer eigenen Fraktion seien selbstverständlich und ein belebendes Element der Demokratie. Aber gilt das auch für die personellen Kontroversen, Herr Bundeskanzler, etwa für den Dauerstreit darüber, ob die Ressorts den Koalitionsparteien oder einzelnen Personen zugeteilt worden sind? Halten Sie diese Streitigkeiten auch für belebend?
Wenn man Sie beobachtet, gewinnt man den Eindruck, daß Sie diese Art von Belebung Ihres Geschäfts nicht als besonders animierend empfinden, sonst würden Sie nicht mit so säuerlichen Erklärungen an die Münchener Adresse antworten.
Uns, Herr Bundeskanzler, ist es im Grunde herzlich gleichgültig, ob Herr Strauß in Ihr Kabinett eintritt oder nicht. Freude an ihm werden Sie weder da noch dort haben.
Gewiß: Ein kluger Beobachter, ein kluger Publizist schrieb neulich, der Münchener Vulkan spucke nur noch Asche. — Aber am Kabinettstisch ist auch Asche hinderlich, insbesondere dann, wenn sie in großen Mengen gespuckt wird.
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Das quantitative Potential ist j a noch immer erheblich.
Es ist Ihre Sache, Herr Bundeskanzler, mit welchen Mitteln Sie Ihren Männerfreund vom Kabinett fernhalten. Mit einer Ausnahme: Dagegen, daß Sie, um Herrn Strauß zu verhindern, Graf Lambsdorff im Amt lassen, wenden wir uns mit aller Einschiedenheit.
Es ist wahr, in Spendendingen hat sich keine der Parteien, die schon länger dem Bundestag angehören, mit Ruhm bedeckt; ich füge hinzu, auch die meine nicht. Aber — und das ist ein Unterschied, den man nicht beiseite schieben kann —: Gegen Graf Lambsdorff hat die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn Anklage wegen des Verdachts der Bestechlichkeit erhoben. Selbstverständlich streitet auch für ihn die Unschuldsvermutung. An diesem rechtsstaatlichen Grundprinzip lassen wir nicht rütteln.
Ich sage auch bei dieser Gelegenheit: Natürlich kann das Verfahren auch mit der Nichtzulassung der Anklage oder mit einem Freispruch enden. Aber ein Mann, der sich eines solchen Verdachts zu erwehren hat,
kann keinen Tag länger Bundesminister in dieser Bundesregierung bleiben.
Sie wissen es doch selbst, und Sie haben es selber wo Sie in der Verantwortung stehen, Hunderte Male praktiziert: Jeder kleine oder mittlere Beamte würde schon bei einer Anklage wegen weniger bedeutsamer Delikte sofort und noch am gleichen Tage suspendiert. Für einen Bundesminister kann nichts anderes gelten. Das verlangt auch das äußere Ansehen der Bundesrepublik. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, daß die Bundesrepublik künftig bei internationalen Wirtschaftsverhandlungen oder Konferenzen von einem Minister vertreten wird, von dem jedermann sagen darf, er stehe wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit unter Anklage. Dies geht doch nicht.
Noch ein Wort zu Ihnen, Graf Lambsdorff. Sie lieben es, andere hart und — Sie wissen das — mitunter verletzend zu kritisieren. Zuletzt noch in der Stationierungsdebatte haben Sie eine Kostprobe abgelegt. Ich verzichte bewußt darauf, in dieser Weise zurückzuzahlen.
Deshalb sage ich Ihnen, Graf Lambsdorff: Es geht
nicht darum, ob Sie die Kraft haben, Ihr Strafverfahren als Bundesminister durchzustehen. Es geht
überhaupt nicht um Sie als Person und darum, was man Ihnen zumuten kann.
Es geht darum, ob eines der wichtigsten Bundesressorts künftig von einem Mann geleitet wird, der seinen Kopf nicht für die Regierungsgeschäfte frei hat, der ihn gar nicht frei haben kann, weil er seine Rechte in einem komplizierten und vielschichtigen Verfahren wahrnehmen muß und dazu einen großen Teil seiner physischen und psychischen Kraft braucht. Darum geht es.
Es geht darum, ob man der Bundesrepublik Deutschland zumuten kann, das erste Mal in ihrer Geschichte nach innen und nach außen durch ein Regierungsmitglied repräsentiert zu werden, das wegen eines solchen Verdachts unter Anklage steht. Ich bitte Sie, auch als ehemaliger Kabinettskollege: Machen Sie diesem Zustand ein Ende. Lassen Sie sich nicht als Mittel im Machtkampf zwischen den Herren Kohl und Strauß mißbrauchen. Treten Sie zurück!
Diese Notwendigkeit, ich sage: diese Staatsnotwendigkeit können Sie auch nicht mit dem Argument entkräften, in Großbritannien wäre in dem Fall gegen Sie wegen der ständigen Vorveröffentlichungen während des Ermittlungsverfahrens keine Anklage mehr möglich; denn in Großbritannien wären Sie nach solchen Veröffentlichungen schon lange nicht mehr im Amt. Und wenn Sie sich an internationalen Maßstäben messen, dann lesen Sie doch, was der „Daily Telegraph", der „Guardian", „Le Monde", die „Berner Zeitung" und viele andere internationale Zeitungen zu dieser Situation sagen.
Noch untauglicher ist der Versuch, den Sie beständig unternehmen, von der Hauptsache dadurch abzulenken, daß man das pflichtgemäße Handeln der Strafverfolgungsbehörden in Zweifel zieht. Sie warnen doch sonst, meine Damen und Herren, bei jeder Gelegenheit vor der Erschütterung des Rechtsbewußtseins. Sie und wir alle verlangen, daß die Justiz als dritte Gewalt respektiert wird. Aber Sie schweigen — jedenfalls Sie, Herr Bundeskanzler, und andere auch, von denen ich ein Wort erwartet hätte —, wenn sich einer der Sekretäre des Herrn Strauß zu der unglaublichen Äußerung versteigt, „daß hier bewußt oder unbewußt in einem anderen Bereich so gehandelt wird, wie es andere mit der Exekution von Ponto und Schleyer vorgenommen haben". Wie hätten Sie gelärmt, meine Damen und Herren, wenn ein Sprecher einer anderen Partei etwas Derartiges gesagt hätte, wenn ein an-
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derer es gewagt hätte, Staatsanwälte und Terroristen auf eine Stufe zu stellen?
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage das eher leise: Unsere Rechtsordnung, unsere Verfassungsordnung, ist ein hohes Gut. Sie reden ununterbrochen davon, daß dieses Gut durch die Aktivitäten junger Menschen gefährdet sei, durch Hausbesetzungen, durch Sitzblockaden, durch gemeinsames Tragen von Tüchern in der Bannmeile. Ich billige diese Aktivitäten nicht. Aber spüren Sie denn nicht, daß dies alles, was Sie so beständig tadeln, harmlos ist im Vergleich zu dem Rammstoß, den hier ein maßgebender Repräsentant der zweitstärksten Koalitionspartei gegen eben diese Ordnung geführt hat?
Wer will denn das alles, meine Damen und Herren, einem jungen Menschen noch erklären? Und Sie sprechen von geistig-politisch-moralischer Erneuerung, Herr Bundeskanzler!
Graf Lambsdorff, klare Analysen und konsequente Schlußfolgerungen waren einmal Ihre Stärke. In der eigenen Sache, so fürchte ich, sind Ihnen diese Fähigkeiten abhanden gekommen. Graf Lambsdorff, Sie täuschen sich auch in der Standfestigkeit Ihrer Freunde, der wirklichen — das sind nicht so viele — und der vorgeblichen, die auf offenem Markte schon längst über Ihre Nachfolge verhandeln — und die sind zahlreicher.
Falls Sie die Kraft zur einzig möglichen Schlußfolgerung nicht aufbringen und falls der Herr Bundeskanzler dieser Führungsaufgabe nicht gerecht wird, dann wird der Bundestag noch in dieser Woche auf unsere Initiative hin darüber zu entscheiden haben, ob er wirklich die Mitverantwortung für Ihr weiteres Verbleiben im Ministeramt tragen will.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, das Bild, das Sie, Herr Bundeskanzler, das Ihre Regierung schon knapp neun Monate nach Beginn dieser Wahlperiode bietet, ist bedrückend. Das sind nicht nur Abnutzungserscheinungen, wie sie bei jeder Regierung auftreten und von denen auch unsere Regierungen nicht verschont geblieben sind,
und das ist auch nicht nur eine Regierungskrise, von der der Vorsitzende der CSU mit erkennbarem Vergnügen bei jeder Gelegenheit spricht; das ist mehr. Im Zustand Ihrer Regierung offenbart sich ein Mangel an Präzision und an Perspektiven.
Herr Bundeskanzler, Sie lächeln, wenn Ihnen eine Neigung zu unscharfen Allgemeinheiten nachgesagt oder der häufige Ausfall von Kabinettssitzungen vorgehalten wird.
Sie lächeln auch, wenn Ihr eigenes Amt, Ihre eigene Umgebung, als „Bermuda-Dreieck" charakterisiert wird, in dem zwar nicht Schiffe mit Besatzungen, aber Akten, Informationen und Initiativen spurlos verschwinden.
Mag sein, Herr Bundeskanzler, daß Ihr Vorgänger im Amt die Liebe zum Detail und zur Präzision sehr weit getrieben hat — mancher in seinem Kabinett hat darüber gestöhnt —, aber es ist besser, Minister stöhnen darüber, daß der Chef zu gut Bescheid weiß, und wenn sie wissen: Die Kabinettssitzungen gehen allem anderen vor, auch im Terminkalender des Bundeskanzlers.
Noch bedenklicher ist der Mangel an Konzepten, an Perspektiven. Sie hatten in der Opposition viele Jahre Zeit, Konzepte zu erarbeiten.
Sie haben auch so getan, als ob Ihre Schubladen mit Konzepten ausgefüllt seien, randvoll. Aber — um es wieder mit den Worten eines ganz unbefangenen Publizisten auszudrücken — jetzt zeigt sich immer deutlicher, Herr Bundeskanzler: Ihre Schubladen sind leer; wer sie aufzieht, findet im wesentlichen tote Fliegen, aber keine Konzepte.
— Ich freue mich, meine Herren, daß Sie schon so wach sind am frühen Morgen. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden noch viel wacher werden.
Dem Bundeskanzler ist es vorhin nicht gelungen, Sie so aufzuwecken und lebhaft zu machen. Ich freue mich, daß mir das gelingt.
Dabei ist die Zahl der Herausforderungen, vor denen wir stehen, groß. Wir spüren, daß die herkömmlichen Antworten bei mehr und mehr Herausforderungen nicht mehr weiterhelfen, daß wir uns in Sackgassen zu verfangen drohen, an deren Ende nicht Stoppschilder oder einfache Barrieren stehen, sondern an deren Ende sich Abgründe auftun.
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Einer aus Ihren Reihen, Herr Biedenkopf, hat das mit einem anderen Bild umschrieben. Er hat gesagt: Wir haben uns im Gipfel verstiegen und stehen jetzt am Abgrund. Mit „wir" meint er Sie ebenso wie unser ganzes Volk. Wir müssen umkehren.
Der Betreffende hat das in bezug auf die nukleare Abschreckung und die Friedenssicherung geäußert, und er hat hinzugefügt, die nukleare Abschreckung sei nicht mehr lange konsensfähig. Übrigens, zu den Damen und Herren von der FDP: Herr Klumpp, Vorsitzender eines FDP-Landesverbandes und Mitglied Ihres Bundesvorstandes, hat erst vor wenigen Tagen mit seinen Worten genau das gleiche gesagt. Das sind Themen, meine Damen und Herren, um die wir vor zwei Wochen viele Stunden lang gerungen haben. Wir sind dafür eingetreten, die Chance eines Kompromisses zu nutzen, bei dem drastische Reduzierungen der Zahl der sowjetischen Systeme die Stationierung auf unserer Seite überflüssig gemacht hätten.
Wir wollten den Teufelskreis immer rascherer Vor-und Nachrüstungen an einem Punkt durchbrechen. Sie haben das abglehnt.
Sie haben einer Stationierung zugestimmt, die den nuklearen Rüstungswettlauf beschleunigt und die Spannungen verschärft, statt sie abzubauen.
Was immer Sie jetzt zur Verharmlosung der neuen sowjetischen Stationierungen sagen — Stationierungen, die wir für ebenso vernunftwidrig halten wie die auf unserer Seite, denen wir deshalb mit dem gleichen Nachdruck widersprechen —:
Es ist doch nicht wahr, daß sich die Menschen in Deutschland, in Mitteleuropa seit dem 22. oder 23. November sicherer fühlen. Ganz im Gegenteil, die Unsicherheit und die Sorge wachsen seit dem 23. November bei uns und unter den Menschen in der DDR. Uns alle sollte es betroffen machen, wenn die Synode der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen in einer Erklärung in der letzten Woche wörtlich sagt, der Mehrheitsbeschluß des Bundestages erfülle sie mit Erschrecken und Enttäuschung. Das sind doch die, denen Sie, denen wir alle ständig unsere besondere Verbundenheit bekunden. Dazu gehört auch, auf diese Menschen zu hören, wenn sie ihre Stimme erheben.
Wie soll es jetzt nach Ihrer Vorstellung weitergehen? Wollen Sie jetzt auch hier die weitere Entwicklung einfach abwarten und auf die Selbstheilungskräfte vertrauen? Hoffen Sie etwa wie andere in Ihren Reihen, daß sich die Sowjetunion auf Grund wirtschaftlicher und anderer Zwänge auf die Dauer nicht mehr in der bisherigen Art am Wettrüsten beteiligen könnte? Mit Helmut Schmidt sage ich:
Das wäre ein schwerer Fehler. — Herr Bundeskanzler, Sie dürfen nicht warten, Sie müssen handeln. Fordern Sie einen beiderseitigen Stationierungsstopp, drängen Sie auf neue Verhandlungen, unterstützen Sie die Vorschläge des kanadischen Ministerpräsidenten Trudeau.
Hören Sie auf, das Bündnis dadurch zu beeinträchtigen, daß Sie uns aus parteitaktischen Gründen als Gegner des Bündnisses diffamieren. Jammern Sie nicht über den angeblich zerbrochenen Konsens in der Stationierungsfrage, den es so, wie Sie ihn behaupten, nie gegeben hat.
Stärken Sie vielmehr den Konsens, indem Sie so, wie Helmut Schmidt Ihnen das geraten hat, deutsche Interessen initiativ vertreten.
Mit den Worten Helmut Schmidts, auf den Sie sich doch so gern berufen,
fordere ich Sie auf: „Nutzen Sie die Sorgen, die vielfältig im deutschen Volk formuliert und vorgebracht werden; nutzen Sie die Sorgen, die Sie in beiden Teilen unseres Volkes, die Sie auch im Parlament spüren. Machen Sie unseren Verbündeten klar, daß Sie es gegenwärtig in der öffentlichen Meinung Deutschlands nicht ganz leicht haben. Machen Sie unseren Freunden klar, warum das so ist und welche Hilfe und welche Zurückhaltung Sie infolgedessen von unseren Freunden und Verbündeten erwarten müssen."
Der Namensartikel, den Sie, Herr Genscher, in der letzten Woche veröffentlicht haben, enthält dazu einige Gedanken, die uns diskussionswürdig erscheinen und die wir gern in der weiteren Aussprache mit Ihnen vertiefen wollen.
Wir jedenfalls setzen dem Rüstungswettlauf, dem sich erneut beschleunigenden Wettrennen zum Abgrund unsere Politik entgegen. Das sind ihre wichtigsten Elemente:
Erstens, die Rückkehr zu einer umfassenden Gesamtstrategie des Westens, die neben, nein, vor den militärischen Aspekten ökonomische, psychologiche und soziale Aspekte umfaßt.
Zweitens, Weiterentwicklung der militärischen Strategie des Bündnisses in eine Richtung, die uns die allmähliche Abkehr von der Doktrin der nuklearen Abschreckung und zunächst die Anhebung der Nuklearschwelle ermöglicht. Das ist nicht nur ein ethisch-moralisches Gebot, worauf die Kirchen hinweisen; es ist ein Gebot der Vernunft, nein, es ist ein zwingendes Gebot der Logik.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat das so formuliert:
Die Kriegsverhütung durch nukleare Abschreckung kann niemals absolut gewiß sein.
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Technische Fehler sind möglich. Ein einziges Versagen der Kontrolle im Jahrhundert genügt zur Katastrophe. Fehlkalkulationen über die Eskalation sind noch wesentlich wahrscheinlicher. Es ist gewiß richtig, daß die Größe des erwarteten Schadens etwa umgekehrt proportional zur Bereitschaft sein wird, ihn zu riskieren. Aber wenn die Kriegswahrscheinlichkeit nicht auf Null sinkt, während der erwartete Schaden über alle Grenzen steigt, so ist das Abschreckungssystem nicht auf die Dauer akzeptabel. Es gewährt eine Atempause,
— so Carl Friedrich von Weizsäcker —
die morgen zu Ende gehen kann.
Diesen Feststellungen ist kein Satz hinzuzufügen.
Drittens, die Fortsetzung der Entspannungspolitik, insbesondere der Deutschlandpolitik. Diese hat ihre Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft. Damit meine ich gar nicht in erster Linie die Einfädelung und Gewährung von Milliardenkrediten.
Viertens, Inangriffnahme eines weltweiten Entschuldungs- und Unterstützungsplans für die Dritte Welt, der den Entwicklungsländern hilft, ohne ihre Identität zu zerstören oder sie in neue Abhängigkeiten geraten zu lassen,
Finanzierung eines solchen Plans aus Einsparungen an den Rüstungsausgaben beider Militärbündnisse.
Hier muß die Initiative gerade auch von uns ausgehen.
All das kann der Realität ein Stück näher gebracht werden, wenn die Politik endlich wieder die Führung übernimmt, gegenüber den Militärstrategen die Führung übernimmt und gegenüber der Waffentechnik. Politik muß endlich wieder mehr sein als eine Funktion der Waffenentwicklung. Sie muß aus dem Satz, daß die Völker dieser Erde nur gemeinsam überleben können, endlich tatsächliche Konsequenzen ziehen.
Dazu gehört, daß wir das Gewicht Europas stärken, auch und gerade im Bündnis, aber auch durch die Bewahrung und Konsolidierung der Europäischen Gemeinschaft. Der gestern zu Ende gegangene Athener Gipfel hat das Gegenteil bewirkt; Sie haben das gerade vor mir eingestanden. Die Zukunft der Gemeinschaft erscheint gefährdeter denn je. Alles, was Sie, Herr Bundeskanzler, vor und nach Stuttgart gesagt haben, erweist sich nun als Fehleinschätzung, als Fehleinschätzung einer Krise, die die Gemeinschaft in ihrer Substanz bedroht und die dazu führen kann, daß sich Portugal und Spanien von der Gemeinschaft abwenden.
Was sind nun eigentlich all die Freundschaftsbeteuerungen wert, die Sie von Ihren europäischen Reisen mitgebracht haben? Es wäre besser gewesen, weniger allgemeine Freundschaftsbeteuerungen auszutauschen und dafür konkreter über das Detail der Sache zu reden.
Jetzt bedarf es eines neuen politischen Ansatzes, einer Initiative, wie sie seinerzeit in einer vergleichbaren Krise der europäischen Einigung 1955 von der Konferenz von Messina ausging. Entwickeln Sie einen solchen Ansatz! Greifen Sie auch unsere Vorschläge auf, die wir in der letzten Woche hier eingebracht haben! Wir sind auf diesem Gebiet zur Kooperation bereit. Wir stimmen überein: Es gibt zur Europäischen Gemeinschaft für uns keine Alternative.
Noch etwas zur Außenpolitik. Wir haben nichts gegen Ihre Auslandsreisen. Ihre Ergebnisse sind zwar nicht immer sehr konkret. Aber solche Reisen können unseren Interessen dienen und Horizonte erweitern.
Wir haben sehr viel dagegen, Herr Bundeskanzler, daß Sie bei solchen Reisen Staaten außerhalb der Allianz die Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen zusagen. Das haben Sie in Saudi-Arabien getan.
Solche Zusagen bedeuten entweder nichts; dann erwecken sie Illusionen und schlagen auf uns zurück.
Oder aber sie sind ernst gemeint; dann sind sie geeignet, uns in fremde Konflikte hineinzuziehen,
etwa in den israelisch-arabischen Konflikt oder in die Konfrontation im Libanon, die von Tag zu Tag in besorgniserregender Weise eskaliert. Das wäre für und geradezu lebensgefährlich. Und — ich füge hinzu — im Hinblick auf Israel auch aus den Gründen unakzeptabel, die allein durch Zeitablauf nicht an Gewicht verlieren.
Das gilt auch für die Frage der Waffenexporte, die in der vorhergehenden Regierung in einem schwierigen Meinungsbildungsprozeß zu einem negativen Ergebnis gekommen war. Die Warnung vor Waffenexport gilt um so mehr, als Herr Strauß erst dieser Tage gesagt hat, auch er sei zwar grundsätzlich der Meinung, man solle — so drückte er sich aus — „am Export des Todes" nicht verdienen, man müsse die Welt jedoch so nehmen, wie sie sei. Deshalb, so sagte er, sei er für die Forcierung des Rüstungsexports, und zwar auch in Spannungsgebiete. Herr Bundeskanzler, sagen Sie uns hier, ob dies auch Ihre Meinung ist. Die unsere ist es nicht. Wir werden hier entschiedenen Widerstand leisten.
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Über die Wirtschafts- und Finanzpolitik werden wir uns morgen gesondert auseinandersetzen. Auch hier stellt sich die Frage nach Ihrem Konzept. Sie sagen, die Konjunkturdaten seien günstiger, als noch vor einigen Monaten angenommen worden war.
Sie berufen sich auf das Jahresgutachten des Sachverständigenrats. Wir beklagen die dort erwähnten Daten nicht; wir begrüßen sie.
Aber auch in diesem Gutachten wird doch gesagt, es sei ungewiß, ob die Entwicklung zu einem nachhaltigen Aufschwung führe.
Und von einem fühlbaren Abbau der Arbeitslosigkeit ist in diesem Gutachten schon gar nicht die Rede.
Im Gegenteil. Die Annahme, daß wir, wenn nichts geschieht, es mindestens bis 1990 mit einer Arbeitslosigkeit in bedrückender Höhe zu tun haben werden, ist noch immer wahrscheinlicher als die günstigeren Annahmen. Ende November hat die Arbeitslosigkeit jedenfalls mit knapp 2,2 Millionen den höchsten Stand erreicht, der seit 1948 jemals in einem November verzeichnet worden ist.
Mit welchem Konzept, Herr Bundeskanzler, wollen Sie diese Arbeitslosigkeit überwinden? Der Vorwurf, der DGB treibe mit Horrorzahlen eine unverantwortliche Panikmache, den Sie in internen Rundschreiben verbreiten und der in auffälligem Gegensatz zu den unverbindlichen Liebenswürdigkeiten steht, mit denen Sie die DGB-Vorsitzenden in Ihren Kaminrunden traktieren, wird wohl kaum ausreichen. Was wollen Sie gegen die Stahl-, Werften- und Kohlekrise tun? Wie wollen Sie den Abbau von 100000 Arbeitsplätzen allein bei der Bundesbahn verhindern oder zumindest sozial erträglich machen? Wie wollen Sie die 740000 jungen Menschen unterbringen, die nächstes Jahr eine Lehrstelle suchen, und die 40 000, die trotz ihres Versprechens in diesem Jahr noch ohne Ausbildungsplatz sind?
Wir stehen übrigens in dieser Frage nicht allein. Die Gewerkschaften, die Wirtschaft, ja Ihre eigenen Freunde stellen sie ebenso dringend und beschweren sich darüber, daß sie auf diese Frage keine Antwort bekommen.
Das sind unsere Antworten.
Erstens: Arbeitszeitverkürzung. Wir stehen an der Seite der Gewerkschaften.
Wir unterstützen das Ringen der Gewerkschaften,
und zwar nicht nur aus Solidarität, sondern auch
deshalb, weil das, was die Gewerkschaften fordern, in der Zielsetzung vernünftig ist und Unterstützung verdient.
Sie haben eine andere Meinung. Sie halten beispielsweise die Forderungen der IG Metall — um Sie wörtlich zu zitieren — für „absurd", „töricht", „dumm" und „niemals akzeptabel". Mit solchen Äußerungen, Herr Bundeskanzler, haben Sie einen sehr berühmten Vorgänger. Der sagte 1890 etwas höflicher, aber mit der gleichen Tendenz zur damaligen Gewerkschaftsforderung nach dem AchtStunden-Tag wörtlich:
Würde ein Normal-Arbeitstag von acht Stunden ... herbeigeführt werden, so ist in sittlicher Beziehung zu befürchten, daß der erwachsene Arbeiter seine freie Zeit im Wirtshaus zubringt, daß er mehr als bisher an agitatorischen Versammlungen teilnimmt. ... In wirtschaftlicher Beziehung ist zu erwägen, daß durch eine zu weitgehende Arbeiterschutzgesetzgebung eine unverhältnismäßige Belastung der deutschen Industrie gegenüber der ausländischen herbeigeführt und die erstere in dem Wettbewerb im Weltverkehr beeinträchtigt wird.
Das, Herr Bundeskanzler, war Kaiser Wilhelm H., der sich in dieser Weise äußerte.
Kaiser Wilhelm II. ist durch die Entwicklung widerlegt worden. Ihren törichten Äußerungen, die Sie heute offenbar selbst erheitern, wird es nicht anders ergehen. Sie werden ebenfalls widerlegt werden.
Zu diesem Punkt noch zwei Bemerkungen. Ihr Versuch — und er ist ja angekündigt —, die Forderungen nach Verkürzung der Lebensarbeitszeit und nach Verkürzung der Wochenarbeitszeit gegeneinander auszuspielen, ist vordergründig und durchsichtig. Wir fallen auf diesen Versuch nicht herein.
Außerdem: Wenn Ihnen die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, meine Damen und Herren von der Koalition, so am Herzen liegt, warum haben Sie denn dann bis heute keinen Gesetzentwurf über den Vorruhestand zustande gebracht und in diesem Parlament vorgelegt?
Warum beraten Sie dann nicht wenigstens unseren Entwurf, der schon seit Monaten im Ausschuß liegt, wenn Sie schon selbst keinen solchen Entwurf auf die Beine bringen?
Zweitens: pfleglicher Umgang mit der Massenkaufkraft. Ihre Wirtschaftspolitik vernachlässigt konstant die Nachfrageseite. Mit den von Ihnen vorgelegten Begleitgesetzen kürzen Sie die Massenkaufkraft der Rentner, Arbeitslosen, Behinderten und Sozialhilfeempfänger
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— ich verstehe, daß Ihnen das sehr unangenehm ist; ich verstehe, daß Sie das nicht gerne hören —
allein im Jahre 1984 um weitere 11,5 Milliarden DM. Diese Kürzungen sind sozial ungerecht. Es ist aber auch ökonomisch unvernünftig. Jede Mark, die Sie hier wegstreichen, fehlt sofort bei der Nachfrage. Warum greifen Sie statt dessen nicht bei denen zu
— etwa mit einer Ergänzungsabgabe, die diesen Namen verdient —, die hohe Beträge der Zinsen wegen im Ausland anlegen, statt sie bei uns zu investieren?
Drittens: wirksamere Hilfen für Strukturen und Regionen, die unter der Krise besonders leiden, also für den Stahl, die Kohle und die Werften, für das Ruhrgebiet, das Saarland und die Küste. Dabei geht es wieder in erster Linie um Konzepte, nicht nur um Geld. Wir haben unsere Konzepte vorgelegt.
Sie zaudern und zögern. Wenn Sie uns nicht glauben, dann hören Sie wenigstens, was Ihnen ein Mann der Wirtschaft, was Herr Gödde Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat. Er sagt:
Es muß eine handfeste Initiative geben, und die kann nur Bonn bieten. Dann jedenfalls käme wieder Bewegung in die Stahllandschaft. Nach den Gesetzen der Marktwirtschaft läßt sich das Desaster nämlich nicht mehr lösen.
Weiter sagt er:
Eine Bundespolitik für Stahl muß sich auch um Konzepte kümmern. Und die müssen nicht nur erarbeitet, sondern auch mit Druck aus Bonn durchgesetzt werden.
Wollen Sie vielleicht auch den Herrn Gödde als verkappten Klassenkämpfer und Sozialisten abtun?
Viertens: gezielte Förderung für die kleinen und mittleren Unternehmen, die sich als arbeitsplatzstabiler erwiesen haben als viele große und deren Innovationskraft wir für die Modernisierung der Volkswirtschaft besonders benötigen.
— Herr Waigel, Sie müssen sich allmählich über eine Bewertungsskala klarwerden, denn dieser Zwischenruf kommt jedesmal. Ihr geistiger Vorrat ist offenbar sehr beschränkt, sonst sollte Ihnen vielleicht einmal etwas anderes einfallen.
Ich kann mir ja vorstellen, daß Sie bei CSU-Veranstaltungen mit einem einzigen Zwischenruf, den Sie
jedesmal wieder machen, durchkommen, aber bei mir nicht. Bei mir nicht, Herr Waigel!
— Was sagen Sie? Keinen Humor? Vielen Dank, Herr Waigel, das gibt mir als altem Münchener Gelegenheit, dem Bundeskanzler zur Verleihung des Narhalla-Preises zu gratulieren, der Ihnen, Herr Bundeskanzler, für einen Satz zugesprochen worden ist, der erst noch näher identifiziert werden soll. Vielleicht können wir bei der Suche behilflich sein!
Zu dieser Förderung gehört eine aktive Industriepolitik — —
— Bei der Verleihung dieses Preises handelt es sich nicht um eine Bosheit von Franz Josef Strauß; das ist ganz selbständig zustande gekommen.
Dazu gehört also eine aktive Industriepolitik, die unsere Konkurrenzfähigkeit gerade auf den Feldern erhöht, auf denen ein qualitatives Wachstum möglich ist, ein Wachstum, das weder den Landschafts- noch den Energieverbrauch in unvernünftiger Weise steigert.
Fünftens: staatliche Initiativen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze auf Gebieten, auf denen ein dringender gesellschaftlicher Bedarf vorhanden ist, insbesondere auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Die hessische Landesregierung hat dazu konkrete Vorschläge gemacht
und mit ihrer Umsetzung begonnen.
Das alles, meine Damen und Herren von der Koalition, ist auch finanzierbar.
Verzichten Sie auf die Steuersenkungen, insbesondere auf die Senkung der Vermögensteuer! Machen Sie mit den Steuerersparnissen der Höherverdienenden, die diese bei Abschreibungsgesellschaften erzielen können, Schluß! Führen Sie eine echte Ergänzungsabgabe ein! Ziehen Sie die zusätzlichen Bundesbankgewinne für diese arbeitsplatzschaffenden Maßnahmen heran! Das allein ergibt schon einen Deckungsbetrag von über 7 Milliarden DM.
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Ich frage nach Ihren sonstigen Konzepten. Haben Sie ein sozialpolitisches Konzept oder ein Konzept zur Verbesserung der Gemeindefinanzen? Wie steht es mit der Medienpolitik und mit Ihrer Bildungpolitik? Wie steht es mit der Wahrung der inneren Liberalität?
Warum, Herr Bundeskanzler, muß sich — um nur das jüngste von vielen Beispielen zu nennen — der Präsident des Goethe-Instituts, Herr von Bismarck, öffentlich gegen Versuche wehren, das Goethe-Institut zu gängeln und einzuschüchtern
und damit der Gefahr der Selbstzensur auszusetzen?
Die Debatte hat schon Gelegenheit geboten und wird sie noch bieten, auf diese Fragen einzugehen, Gegensätze und, wo es sie gibt, Übereinstimmungen deutlich zu machen und konzeptionellen Unterschieden nachzugehen. Ich beschränke mich deshalb auf ein Wort zur Sozialpolitik.
Wir wissen, daß starke Kräfte in der Union den Sozialstaat in Frage stellen. Herr Albrecht z. B. wird nicht müde, seine Forderungen nach Einschränkung und Abbau des Jugendarbeitsschutzes, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, des Behindertenschutzes und des Kündigungsschutzes, aber auch nach einer Aushöhlung der Tarifautonomie zu wiederholen.
Der Widerspruch Ihrer Sozialausschüsse kümmert Herrn Albrecht wenig, und die Ordnungsrufe des Herrn Kollegen Dregger fruchten bei ihm ebensowenig wie bei Herrn George.
Im Gegenteil: Da, wo die Umstände es erlauben, haben Sie schon mit der Verwirklichung dieser Forderungen begonnen, etwa bei der ARBED-Saarstahl, die unter Ihrem Druck aus dem allgemeinen Tarifvertragssystem ausscheiden mußte; ein gefährlicher Schritt.
Ich kann nur von neuem warnen. Wir werden all diesen Bestrebungen den stärksten Widerstand entgegensetzen. Wir werden damit nicht allein bleiben. Wir warnen Sie, spielen Sie nicht mit dem sozialen Frieden!
Das, was ich da ausgeführt habe, dringt allmählich ins allgemeine Bewußtsein.
Eine andere Tatsache steht den Menschen hingegen noch nicht hinreichend vor Augen, eine Tatsache, die die soziale Ungerechtigkeit Ihrer Politik geradezu erschreckend beleuchtet, die Tatsache, nämlich, daß Ihre Kürzungen und die neuen Belastungen fast ausschließlich Empfänger von mittleren und niedrigen Einkommen und besonders hart die Empfänger von Sozialleistungen treffen, und die weitere Tatsache, daß Sie dabei die Familien noch
stärker belasten als die Alleinstehenden und von den Alleinstehenden die Frauen wiederum deutlich stärker als die Männer.
Erleichterungen gewähren Sie nahezu ausschließlich Empfängern von höheren oder hohen Monatseinkommen oder Vermögensteuerpflichtigen. Oder auch die Tatsache, daß die Mieten im Jahresvergleich 1982/83 um 5%, also fast doppelt so stark gestiegen sind wie die allgemeinen Lebenshaltungskosten. Ist das alles gerecht? Ist das die Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, die Sie versprochen haben?
Und sind Sie sich selbst dieser Tatsachen überhaupt bewußt? Wissen Sie, daß ein hoher Richter, der Präsident des Bundessozialgerichts, das Haushaltsbegleitgesetz wegen seiner sozialen Ungerechtigkeit öffentlich als verfassungsrechtlich bedenklich bezeichnet hat,
daß gerade die Familienverbände, die doch so große Hoffnungen auf Sie gesetzt haben, Ihnen jetzt mit steigender Empörung eine Verschärfung sozialer Ungerechtigkeiten gegenüber den Familien vorwerfen? Verlassen Sie sich darauf, meine Damen und Herren, wir werden dafür sorgen, daß diese Zusammenhänge den Betroffenen klar werden, daß die Betroffenen immer darüber ihr Urteil fällen können, wenn sie zu Wahlen aufgerufen werden,
so wie sie das in Hessen und Bremen bereits getan haben.
Ihr Lieblingswort war lange Zeit die geistig-moralische Erneuerung,
die geistig-politische Führung. In letzter Zeit sind Sie damit etwas zurückhaltender geworden, um so zurückhaltender, je mehr Ihr Versprechen eingefordert wird. Es drängt sich der Eindruck auf, daß Sie auch hier mehr versprochen haben, als Sie zu leisten vermögen. Ich habe dazu schon in meiner Erwiderung auf Ihre Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 konkrete Fragen gestellt.
Ich habe Sie eingeladen, mit uns um die richtigen Antworten zu ringen, den Bürgern zu erläutern, welches Menschenbild und welches Staats- und Gesellschaftsverständnis Sie Ihrer Politik zugrunde legen, Zustimmung oder Widerspruch zu dem Satz zu äußern, daß wir unsere technische Entwicklung zu einem Grad an Perfektion getrieben haben, der eine ebensolche Vollkommenheit der politischen Einsicht und des moralischen guten Willens verlangt, damit es nicht zu uns bisher nicht vorstellbaren Katastrophen kommt. Ich habe die Perspektiven der Gentechnologie angesprochen und vorgeschlagen, darüber zu diskutieren, ob es inzwischen nicht
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1983 3021
Dr. Vogel
mehr nur ein Alptraum, sondern eine reale Möglichkeit sei, daß die Zeugung menschlichen Lebens einer Art technischem Produktionsprozeß überantwortet wird, daß sogar menschliche Individuen in ihrer körperlichen Beschaffenheit und ihren Charaktereigenschaften nach Bestellung angefertigt und geliefert werden. Ich habe empfohlen, der Sorge der Menschen vor drohender Entmündigung durch allzu große Apparate die Wiederbelebung des Genossenschaftsgedanken entgegenzusetzen. Ich riet Ihnen, aus dem Subsidiaritätsprinzip nicht immer nur die eine Folgerung zu ziehen, daß nämlich die kleinere Gesellschaft leisten soll, was sie ebensogut oder besser zu leisten vermag als die größeren Gemeinschaften, sondern auch die umgekehrte, daß die größere Einheit, letzten Endes also der föderal gegliederte Gesamtstaat, eintreten muß, wenn die kleineren Einheiten ihre Aufgabe nicht mehr sozial gerecht bewältigen können.
All diese Fragen — daran ändert natürlich auch Ihr Geschrei nichts, meine Damen und Herren —,
Einladungen und Aufforderungen gingen leider ins Leere. Sie sind auf diese Fragen nicht zurückgekommen. Ich wiederhole sie deshalb und füge neue Themen und neue Fragen hinzu,
über die wir miteinander sprechen, mit denen wir uns auseinandersetzen und bei denen wir uns, wenn es sein kann, sogar einigen sollten. Wenn Sie wirklich geistig-politische Führung leisten wollen, kommen Sie an diesen Themen und Fragen nicht vorbei.
Ich frage, ob Sie wirklich glauben, daß alles immer weiter wachsen kann und daß es sinnvoll ist, Wachstum überall zu forcieren. Ein Mann, dessen Wort Beachtung verdient, hat dazu eine Alternative gefordert.
Er hat gesagt, die Politik müsse jetzt von der Expansion zum dynamischen Gleichgewicht führen. Er hat seine Vorstellungen an einem anschaulichen Bild so erläutert: Denken Sie an einen Wald. Er bedeckt eine bestimmte Fläche, er hat eine bestimmte Durchschnittshöhe, ändert also sein Volumen nicht. Trotzdem wächst in diesem Wald alles beständig. So sei das auch in einer Wirtschaft mit dynamischem Gleichgewicht. Dem hat er noch die interessante Bemerkung hinzugefügt, daß die Vorboten einer solchen Entwicklung im Wirtschaftsdenken die GRÜNEN gewesen seien. Sie hätten als erste, so sagt er, der Einsicht politischen Ausdruck verliehen, daß eine Politik, die nur mit Wachstum regieren könne, auf Dauer nicht sinnvoll sei.
Das alles ist so intelligent und so provokativ, daß es ohne weiteres von Erhard Eppler stammen könnte. Was ich zitiert habe, stammt aber gar nicht von ihm. Es stammt von einem Mann, der einmal Ihr Generalsekretär war und der sie 1976 als erster zum Kandidaten für das Amt vorgeschlagen hat, das Sie heute innehaben. Es stammt von Kurt Biedenkopf und ist von ihm erst vor wenigen Wochen formuliert worden.
Herr Späth sagt inzwischen ähnliches.
Teilen Sie diese Meinungen, Herr Bundeskanzler? Wenn nicht: Warum tragen wir den Streit darüber nicht hier im Bundestag aus? Wir wissen, daß sich die Wachstumsraten der 60er Jahre nicht wiederherstellen lassen, j a, daß sie gar nicht wünschenswert wären. Wir wissen, daß wir neue Antworten brauchen, weil wir sonst mit gesteigertem Tempo in Sackgassen rennten, deren Ende sich schon absehen läßt. Ich fürchte, Sie halten diese Sackgassen noch immer für die offenen Tore zur Zukunft, von denen Sie immer wieder reden.
Eine andere wichtige Frage ist die nach unserer nationalen Identität. Der engagierte Meinungskampf um den richtigen Weg zur Friedenssicherung, die auch von Ihnen zu Recht konstatierten Gemeinsamkeiten zwischen beiden deutschen Staaten, die gleichzeitige und auch, wenn ich an die Kirchentage in Magdeburg, Wittenberg und Worms denke, gemeinsame Erinnerung an Martin Luther aus Anlaß seines 500. Geburtstages
und nicht zuletzt der von beiden Staatsführungen beständig wiederholte Satz, von deutschem Boden dürfe nie wieder ein Krieg ausgehen, haben die Frage stärker als zuvor in unser Bewußtsein gerückt. Auch unsere Nachbarn beginnen, sich mit ihr zu beschäftigen. Wir können und dürfen dieser Frage nicht ausweichen. Manchen in Ihren Reihen genügt leider schon diese Feststellung, um uns Sozialdemokraten, die Sie noch kürzlich wenn schon nicht mehr als vaterlandslose, so doch als geschichtslose Gesellen bezeichnet haben, Linksnationalismus vorzuwerfen. Manchen gerät eben alles zu vordergründig polemischer Gegnerschelte.
Aber darum geht es nicht. Es geht um die Herstellung von Normalität. Gewiß, die 12 Jahre zwischen 1933 und 1945 ziehen sich wie ein tiefer Graben durch die Kontinuität unserer Geschichte. Der Verlust der Nationalstaatlichkeit durch die Entstehung von zwei Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches macht den Bruch der Kontinuität noch spürbarer. Dem Grundgesetz ist ein Brückenschlag über diesen Graben hinweg, ist die Anknüpfung an positive Überlieferungen unserer Vergangenheit, etwa an das liberale und rechtsstaatliche Gedankengut der bürgerlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, an die sozial-ethischen
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Bewegungen und — in Grenzen — auch an die soziale Reformtradition der Arbeiterbewegung, gelungen. Aber ihm, dem Grundgesetz allein, meine Damen und Herren, kann es auf Dauer nicht gelingen, unser Volk wieder zu einer Geschichts-, Gefühls-, Kultur- und Sprachgemeinschaft werden zu lassen, die ihren Gliedern Halt, Selbstbewußtsein und Orientierung gibt und dabei auch diejenigen im Blick behält, die dem anderen deutschen Staat angehören.
Dazu müssen wir uns auf unsere Geschichte besinnen, sie uns mit ihren Licht- und Schattenseiten wieder aneignen, und wir müssen auch den richtig verstandenen Nationbegriff wieder mit Leben erfüllen, nicht im Sinne pathetischer Redenarten, aber im Sinne einer Normalisierung unseres Lebensgefühls, das anderen Völkern völlig selbstverständlich ist und das wir wie die anderen in die Europäische Gemeinschaft und in das Bündnis einbringen müssen, ein Lebensgefühl, das uns gerade auch in kritischen Zeiten einen festeren Stand und mehr Beharrlichkeit geben wird.
Das alles, Herr Bundeskanzler — so verstehe ich das —, gehört zum Thema der geistig-politischen Führung. Dazu gehören auch abschließend noch drei Bemerkungen.
Erstens. Führung war und ist in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Friedensbewegung gefordert. Herr Bundeskanzler, ich fürchte, Sie haben sich dieser Auseinandersetzung entzogen. Sie haben ausgegrenzt, Sie haben Diffamierungen zumindest zugelassen, und Sie verdächtigen sogar die, die an Ihrer Stelle diese inhaltliche Auseinandersetzung auf sich genommen haben, die den Konsens eben nicht zerbrechen lassen wollen. Was Sie auf diesem Gebiet getan haben, war nicht Führung, sondern Verweigerung von Führung.
Fällt Ihnen übrigens auf, daß noch nie so viele Menschen gegen die Politik einer Bundesregierung demonstriert haben wie in der Zeit, in der Sie Verantwortung tragen? Glauben Sie wirklich, das sei alles gesteuert oder Folge von subversiven Machenschaften? Oder könnte das etwas mit Ihrer Politik zu tun haben, vielleicht sogar mit dem Mangel an Führung, über den ich gerade gesprochen habe? Vielleicht wären die Zahlen geringer, wenn es diese große geistige und inhaltliche Auseinandersetzung gäbe.