Rede von
Dirk
Schneider
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Da wird dann von der Linderung der Not von Landsleuten gesprochen, wo andere von Menschenhandel reden.
Warum kritisieren wir diesen Haushalt hier so hart? Weil in diesem Titel die ganze Heuchelei in Zahlen geronnen ist, die die derzeitige Deutschlandpolitik auszeichnet.
Die Regierung ist auch noch besonders stolz darauf, zur Kontinuität der Adenauerschen Politik vergangener eiskalter Zeiten zurückgekehrt zu sein.
Diese Politik war darauf gerichtet, die Bundesrepublik mit Haut und Haaren in die Atlantische Allianz einzubinden, und jeder Versuch, mit der Sowjetunion zu einer Vereinbarung zu kommen, wurde als Paktiererei mit dem Bösen verdammt.
Es ist erschreckend, daß der gleiche unnachsichtige, geradezu infantil trotzköpfige Geist, der alle Möglichkeiten des ersten Nachkriegsjahrzehnts, zu einem geeinten und neutralen, sprich blockfreien Deutschland zu kommen,
ohne langes Federlesen verwarf, heute wieder die Reden der Regierungspolitiker bestimmt.
Während der zweitägigen Debatte über die drohende Aufstellung der neuen amerikanischen Angriffsraketen wurde in allen Stimmlagen von der roten Gefahr aus dem Osten getönt, die Sowjetunion würde nur auf Unterwerfung, Aggression und Erpressung des Westens unter ihre Knute hinarbeiten, um mit allen denkbaren Mitteln die öffentliche Meinung in den westlichen Ländern zu beeinflussen.
3004 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 42. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 6. Dezember 1983
Schneider
Das neue alte Credo lautet: Die Russen sind entspannungsfeindlich, militärisch überlegen und streben nach der Weltherrschaft. Da helfe nur Gürtel enger schnallen, soziale Verzichte und verstärkte Rüstung. Herr Dregger hat das in der Aussprache zur Regierungserklärung so ausgedrückt: Wir müssen viel mehr Geld für die Verteidigung ausgeben, und wir müssen viel mehr Truppenverbände aufstellen, wenn wir das ändern wollen.
Er und andere Scharfmacher der Wendekoalition meinten mit diesen Truppenverbänden offensichtlich die Bedienungsmannschaften der neuen schrecklichen Vernichtungswaffen, die das deutsche Volk in seiner Mehrheit, und zwar in beiden deutschen Staaten, auf keinen Fall hier und auch nicht anderswo aufgestellt haben möchte.
Herr Dregger — und viele andere Politiker der CDU mit ihm — meinte dies, obgleich die Regierung genau weiß, daß der Westen der Sowjetunion wirtschaftlich, technologisch und militärisch überlegen ist.
Herr Windelen faßte die Deutschlandpolitik der Regierung in folgendem Satz zusammen. Er sagte:
Das Verteidigungsbündnis mit den westlichen Demokratien ist die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland und auch die Räson ihrer Deutschlandpolitik.
Priorität — das wollen diese Worte ausdrücken — haben also der Bestand, die Wohlfahrt, die Sicherheit und die sogenannte Freiheit der BRD, bevor an die Bürger der DDR gedacht werden kann.
Alle offenen Überlegungen für eine zukunftsweisende Deutschlandpolitik müssen also auf den Sankt-Nimmerleins-Tag warten, weil die geltende Ideologie und die immer noch bestehenden Ansprüche der Bundesrepublik auf die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches
in den Grenzen von 1937 eine Lösung der deutschen Frage nur auf dem Boden der Gesellschaftsordnung der BRD denkbar machen.
Es fehlt hier jede Phantasie, und es fehlt der Wille, eine andere Politik zu machen.
Dann müßte man ja auch die DDR ohne Wenn und Aber anerkennen.
Die Hunderte von Millionen von DM, die hier in diesem Haushalt verpulvert werden sollen, dienen einzig dazu, den überholten Anspruch, für ganz Deutschland zu sprechen und für ganz Deutschland zuständig zu sein, aufrechtzuerhalten.
Das ist eine teure Farce. Das Geld dieses Haushalts kann höchstens ein paar Wunden lindern, heilen kann es nichts. Der Haushalt ist ein Ausdruck des schlechten Gewissens wegen einer verfehlten Politik.
Dreieinhalb Jahrzehnte deutscher Teilung als Folge des Hitler-Krieges und später des Kalten Krieges gegen das östliche Weltsystem haben eine Realität hervorgebracht, die das Gefühl für eine gemeinsame Nationalität verschüttet hat.
Die Deutschen in Ost und West werden zwar jedem Demoskopen gegenüber ihren Zusammengehörigkeitswillen bekunden, aber ob sie etwas für die erträumte Einheit tun oder gar opfern würden, steht auf einem anderen Blatt. 35 Jahre unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklung gehen nicht spurlos an den Menschen vorüber.
Etwas Gemeinsames lebt derzeit allerdings wieder auf, und zwar ein gesamtdeutsches Gefühl der Bedrohung durch die Stationierung. In den Briefen von kirchlichen Gemeinden an den Generalsekretär Honecker, die, für viele überraschend, auch im „Neuen Deutschland" abgedruckt wurden, lebt diese gemeinsame Mahnung, genauso eindringlich und unüberhörbar wie in der Flut der Zuschriften, Bittbriefe und Unterschriftensammlungen an die Politiker der Bundesrepublik.
Die Menschen in Ost und West spüren, daß die Kriegsgefahr wächst und daß wir in Deutschland hüben und drüben die ersten sind, die sterben werden, wenn z. B. der Computerfehler eintritt, der angeblich nie passieren dürfte.
— Ich rede hier über die Raketen, weil sie jede alternative Deutschlandpolitik verunmöglichen. Derzeit gilt das Wort von der Schadensbegrenzung, und die Regierung greift gierig danach, weil sie damit die eigene Starrheit und Konzeptionslosigkeit kaschieren möchte.
Es ist der Gipfel des Zynismus, auch noch so zu tun, als ob die Stationierung auch im Interesse der DDR-Bürger liege, die von den Folgen noch härter betroffen sind als wir in der Bundesrepublik. Wenn
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 42. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 6. Dezember 1983 3005
Schneider
es in der Zukunft keine Eiszeit gibt, so ist das kein Verdienst der Regierung Kohl, sondern es resultiert aus der Vernunft und dem Zwang zum Überleben auf der östlichen Seite.
Die über eine halbe Milliarde DM des Haushaltspostens 27 dient nur einem Zweck: der Aufrechterhaltung der Illusion, daß die Bundesregierung eine Politik macht, die die Menschen in beiden deutschen Staaten zusammenbringen wird. Diese Illusion aufrechtzuerhalten — dazu dienen die vielen Sonntagsreden, die Papierfluten des Ministeriums oder die Besuchsreisen zur deutsch-deutschen Grenze. Die Aufrechterhaltung dieser Illusion ist falsch und gefährlich. Wir brauchen eine realistische Politik des Dialogs und des Ausgleichs mit den östlichen Staaten und nicht die Konfrontation mit dem ideologischen Schrott von Alleinvertretung und gesamtdeutscher Anmaßung.
Die Fraktion der GRÜNEN lehnt den Einzelplan 27 ab.