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    Plenarprotokoll 10/36 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 36. Sitzung Bonn, Dienstag, den 22. November 1983 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung . . 2460B, 2567 A Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen in Verbindung mit Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Doppelbeschluß der NATO und Stand der . Genfer INF-Verhandlungen — Drucksache 10/617 — in Verbindung mit Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen — Drucksache 10/620 — in Verbindung mit Antrag der Fraktion der SPD NATO-Doppelbeschluß und Stand der INF-Verhandlungen — Drucksache 10/621 — Dr. Schäuble CDU/CSU (zur GO) . . . . 2459 B Fischer (Frankfurt) GRÜNE (zur GO) . 2459C Porzner SPD (zur GO) 2459 D Dr. Wörner, Bundesminister BMVg . . 2460 B Horn SPD 2469 D Präsident Dr. Barzel 2585D, 2586 A Biehle CDU/CSU 2475 B Frau Nickels GRÜNE 2481 C Vizepräsident Stücklen 2482 A Schäfer (Mainz) FDP 2483 C Waltemathe SPD 2488 D Frau Verhülsdonk CDU/CSU 2492 A Dr. Graf Lambsdorff, Bundesminister BMWi 2494 D Brandt SPD 2498 D Vizepräsident Wurbs 2503A, 2512 D Schily GRÜNE (zur GO) 2510 B Dr. Schäuble CDU/CSU (zur GO) . . . 2511 A Porzner SPD (zur GO) 2511 D Rühe CDU/CSU 2512 B Frau Kelly GRÜNE 2520 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 2524 A Vizepräsident Westphal 2527 B, 2568 A Schröder (Hannover) SPD 2527 B Dr. Kronenberg CDU/CSU 2530A Dr. Apel SPD 2533 B Reents GRÜNE 2536 A Dr. Feldmann FDP 2539 D Klein (München) CDU/CSU 2541 C Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 2547 B Horacek GRÜNE 2550 B Wischnewski SPD 2552 A Ertl FDP 2553 D Dr. Ehmke (Bonn) SPD 2556A Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 2560 C Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . 2563 B Reents GRÜNE (Erklärung nach § 30 GO) 2566 D Burgmann GRÜNE (zur GO) 2567 B II Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 36. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1983 Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 GO Dr. Haack SPD 2568 C Dr. Hirsch FDP 2569 B Krizsan GRÜNE 2569 D Sauermilch GRÜNE 2570 B Reents GRÜNE 2571 A Schwenninger GRÜNE 2571C Frau Dr. Vollmer GRÜNE 2572 B Dr. Jannsen GRÜNE 2572 D Bastian GRÜNE 2573 B Drabiniok GRÜNE 2573 D Frau Reetz GRÜNE 2574 B Schneider (Berlin) GRÜNE 2574 D Burgmann GRÜNE 2575 D Horacek GRÜNE 2576 C Stratmann GRÜNE 2577 A Frau Potthast GRÜNE 2578A Frau Schoppe GRÜNE 2579 A Frau Dr. Bard GRÜNE 2579 D Kleinert (Marburg) GRÜNE 2580 C Frau Kelly GRÜNE 2581 D Frau Dr. Hickel GRÜNE 2582 C Dr. Ehmke (Ettlingen) GRÜNE 2583A Verheyen (Bielefeld) GRÜNE 2584A Hoss GRÜNE 2584 C Vogt (Kaiserslautern) GRÜNE 2585A Schily GRÜNE 2585 C Namentliche Abstimmungen 2586 B, 2588 B, 2590 B Einspruch des Abg. Vogt (Kaiserslautern) gegen den am 21. November 1983 erteilten Ordnungsruf 2567 A Einspruch des Abg. Schily gegen den am 22. November 1983 erteilten Ordnungsruf 2567 B Nächste Sitzung 2592 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 2593* A Anlage 2 Unterschriften zur Erklärung nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung, vorgetragen von dem Abg. Dr. Dieter Haack . . . . 2593* A Anlage 3 Erklärung des Abg. Catenhusen (SPD) nach § 31 Abs. 1 GO 2593* B Anlage 4 Erklärung der Abg. Sielaff, Immer (Altenkirchen), Frau Blunck, Oostergetelo und Heyenn (alle SPD) nach § 31 Abs. 1 GO . 2594* A Anlage 5 Erklärung des Abg. Dr. Schöfberger (SPD) nach § 31 Abs. 1 GO 2594* B Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 36. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1983 2459 36. Sitzung Bonn, den 22. November 1983 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 35. Sitzung, Seite 2448 B, 7. Zeile von unten: Statt „Allergie" ist „Allegorie" zu lesen. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode —36. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1983 2593* Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Haehser 25. 11. Immer (Altenkirchen) 25. 11. Kastning 25. 11. Dr. h. c. Lorenz 25. 11. Offergeld 25. 11. Petersen 25. 11. Frau Dr. Wex 25. 11. Anlage 2 Unterschriften zur Erklärung nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung, vorgetragen von dem Abgeordneten Dr. Dieter Haack gez. Dr. Dieter Haack gez. Horst Grunenberg gez. Dr. Hans de With ) gez. Peter Würtz gez. Bruno Wiefel gez. Manfred Schulte (Unna) gez. Engelbert Sander gez. Horst Haase (Fürth) gez. Erwin Stahl gez. Dr. Axel Wernitz gez. Egon Franke (Hannover) gez. Lothar Löffler gez. Rudolf Purps gez. Kurt Vogelsang gez. Fritz Gerstl gez. Annemarie Renger gez. Dr. Müller-Emmert gez. Günter Herterich gez. Hans Matthöfer gez. Dr. Karl Ahrens gez. Erich Berschkeit Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Catenhusen (SPD) nach § 31 Abs. 1 Geschäftsordnung: Vor mehr als 20 Jahren formulierten die Heidelberger Thesen der Evangelischen Kirche: Das System der atomaren Abschreckung müsse für eine Anlagen zum Stenographischen Bericht gewisse Zeit hingenommen werden. Es verschaffe den politisch Verantwortlichen aber nur eine Gnadenfrist, um durch atomare Abrüstung das System der atomaren Abschreckung überwinden zu können. Diese Gnadenfrist ist in keiner Weise zu atomarer Abrüstung genutzt worden — im Gegenteil. Diese Gnadenfrist geht zu Ende. „Abschreckung" soll jetzt erreicht werden, indem man sich auf das lange Undenkbare — den Atomkrieg - vorbereitet, durch Strategien des Sieges im Atomkrieg ebenso wie durch die Entwicklung von Atomwaffen, die nicht mehr der politischen Abschreckung dienen, sondern zum Einsatz im Atomkrieg vorgesehen sind. Auch die Pershing-Il-Raketen dienen nicht mehr der politischen Abschreckung, sondern dem Einsatz im erwogenen Atomkrieg. Nicht nur ihr Einsatz, sondern schon ihre Produktion und ihre Stationierung sind für mich unverantwortbar. Wir haben kein Recht, die Vernichtung der Welt, der Schöpfung Gottes, planmäßig vorzubereiten. Ein Zweites bestärkt mich in meinem entschiedenen Nein zu weiterer atomarer Aufrüstung: Diplomatie, Rüstungskontrollverhandlungen sind für mich bislang letztendlich nur die Kulisse, hinter denen Entscheidungen über neue Rüstungstechnologien, neue Kernwaffensysteme getroffen werden. Dabei dominieren wirtschaftliche und militärische Interessen, politische Kontrolle findet weitgehend nicht statt. 15 Minuten, so berichtete Valentin Falin, habe das ZK der KPdSU dazu gebraucht, der Umwandlung einer geplanten neuen dreistufigen Langstreckenrakete in die zweistufige SS 20 zuzustimmen. Im Jahre 1978 erhielt die amerikanische Rüstungsfirma Marietta Martin den Auftrag, bis 1986 Pershing II herzustellen. Die Raketen sollten von vornherein in Europa stationiert werden. Eine politische Diskussion fand darüber weder in den USA noch in Europa statt. Der NATO-Doppelbeschluß beschleunigte lediglich den Fertigstellungstermin für die ersten Raketen um zwei Jahre. Mein Nein zur Raketenstationierung ist der Versuch, der Politik wenigstens die Chance zu geben, endlich auf den atomaren Aufrüstungsprozeß Einfluß nehmen zu können. Planspiele in Ost und West malen das Bild eines „fährbaren und gewinnbaren Atomkrieges". Uns wird versichert, kein vernünftiger Mensch könne jemals einen derartigen Versuch wagen. Aber wäre der Erste oder der Zweite Weltkrieg je zustande gekommen, wenn nicht auch deutsche Politiker und Militärs versucht hätten, das Unmögliche möglich zu machen? „Schlieffen-Plan" und „Blitzkriegstrategie" wollten doch das Unmögliche, einen Sieg Deutschlands über ganz Europa, möglich machen. Ich fürchte, daß erneut — auch im atomaren Zeitalter - Menschen der Versuchung erliegen könnten, das Undenkbare — den Sieg im Atomkrieg — denkbar und umsetzbar zu machen. Deshalb stimme ich gegen den Antrag der Regierungsfraktionen, mit der Aufstellung von Pershing II und Cruise Missiles auf deutschem Boden zu beginnen, und unterstütze das Nein meiner Fraktion. 2594* Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 36. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 22. November 1983 Anlage 4 Erklärung der Abgeordneten Sielaff, Immer (Altenkirchen), Frau Blunck, Oostergetelo und Heyenn (alle SPD) nach § 31 Abs. 1 GO: Die Vollversammlung des Ökumenischen Weltrates der Kirchen ist im Sommer dieses Jahres aus christlicher Überzeugung zu einer Erklärung gekommen, in der es u. a. heißt: Ein Atomkrieg ist unter keinen Umständen, in keiner Region und durch kein Gesellschaftssystem zu rechtfertigen oder als gerecht zu erklären, denn das Ausmaß der daraus folgenden Zerstörung steht in keinem Verhältnis zu dem Vorteil, den man sich davon verspricht. Das Konzept der Abschreckung, dessen Glaubwürdigkeit von der Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen abhängt, ist aus moralischen Gründen abzulehnen und ungeeignet, Frieden und Sicherheit langfristig zu wahren. Die Herstellung und Stationierung von Kernwaffen sowie deren Einsatz sind ein Verbrechen gegen die Menschheit. Dieses sind keine Aussagen für das Leben in einem paradiesischen Jenseits, sondern für unser Handeln heute. Wir kommen als Christen zum gleichen Ergebnis und werden uns auch in unserem politischen Handeln danach richten. Der Antrag der SPD entspricht in den wichtigsten Passagen dieser Zielsetzung. Deshalb stimmen wir dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zu. Anlage 5 Erklärung des Abgeordneten Dr. Schöfberger (SPD) nach § 31 Abs. 1 GO Zur Abstimmung über die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik gebe ich folgende Erklärung ab: Bereits am 26. Mai 1981 habe ich zusammen mit vier weiteren sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten gegen eine Stationierung gestimmt. Die Vorgänge in den letzten zweieinhalb Jahren, insbesondere der mangelnde Verhandlungswille der beiden Supermächte in Genf, aber auch der deutliche Mehrheitswille unserer Bürger wie die Argumente der Friedensbewegung haben mich in meinem Abstimmungsverhalten noch bestärkt. Ich bin sehr froh, daß mein NEIN heute im Einklang mit dem NEIN meiner Partei, der SPD, und im Einklang mit dem Mehrheitswillen meiner Fraktion steht. Mein NEIN ist weder zeit- noch situationsbedingt, sondern ein kategorisches NEIN, weil ich die denkbaren, die möglichen und die wahrscheinlichen Folgen dieser Stationierung vor meinem Gewissen nicht verantworten kann. Die Gründe für mein NEIN fasse ich wie folgt zusammen: 1. Die neuen Nuklearwaffen sind, wie im übrigen auch die sowjetischen SS 20, geeignet, Millionen friedlicher Menschen auf Knopfdruck in wenigen Minuten auszurotten und weite Teile Europas auf Jahrtausende hinaus zu verwüsten. Kein wie immer gearteter Zweck kann ihren Einsatz rechtferigen. Wer diese Waffen annimmt, nimmt, auch wenn er ihn nicht will, den Völkermord billigend in Kauf. 2. Mit den neuen Nuklearwaffen soll erneuter Schrecken über die osteuropäischen Völker verbreitet werden. Damit läßt sich vielleicht vorübergehend Krieg abschrecken, aber niemals ein dauerhafter Friede zwischen den Völkern begründen. Der Friede wächst nicht auf Raketen, sondern nur auf Entspannung, Aussöhnung, Verständigung und Sicherheitspartnerschaft über alle unverwischbaren ideologischen Grenzen hinweg. 3. Die Sicherheit unseres Volkes ist vielfach gewährleistet. Sie bedarf dieser neuen Nuklearwaffen nicht. Diese Waffen machen unser Volk nicht mehr sicherer, sondern unermeßlich bedrohter, weil sie gegnerische Atomschläge letzten Endes nicht abschrecken, sondern im Konfliktfall auf sich ziehen. 4. Die neuen Nuklearwaffen werden die Sowjetunion nicht zur Abrüstung veranlassen. Der Versuch, mit mehr und immer mehr Waffen zu weniger Waffen auf der Welt zu kommen, ist ein durch die jüngere Geschichte längst widerlegter Wahnsinn. Die neuen Nuklearwaffen werden die Sowjetunion zu weiterer Aufrüstung mit Kurzstreckenraketen veranlassen. Diese wiederum wird den Grund oder Vorwand für erneute „Nach"rüstung im Westen abgeben. Auf diese Weise kommt es mit zwangsläufiger Sicherheit zu einer neuen mörderischen Dynamik im weltweiten Wettrüsten. Wie die Menschheitsgeschichte in Hunderten von Fällen lehrt, steht am Ende einer solchen Hochrüstung nicht der Friede, sondern der Krieg. Der nächste Krieg ist aber nicht irgendeiner, den man schlecht oder recht überleben könnte. Er kann in der Vernichtung der Menschheit enden. 5. Die Stationierung neuer Nuklearwaffen und die damit verbundene ausschließliche Einsatzgewalt des Präsidenten der Vereinigten Staaten, zerstört die sowieso schon eingeschränkte Souveränität der Bundesrepublik im Wesensgehalt. Wie kann im übrigen die uns allen gemeinsame Lehre des 2. Weltkriegs beherzigt werden, wonach von deutschem Boden nie mehr wieder ein Krieg ausgehen darf, wenn in unserem Vaterland nukleare Vernichtungswaffen als Angriffswaffen stationiert werden und ein einziger Amerikaner über den Einsatz dieser Waffen entscheiden darf oder binnen weniger Minuten Warnzeit entscheiden muß?
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    Rede von Marieluise Beck-Oberdorf


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte, die wir hier in den letzten zwei Tagen geführt haben, hinterläßt einen sehr schalen Geschmack. Für diese Debatte mußte sich das sogenannte Hohe Haus verbarrikadieren hinter Tausenden von Polizisten,

    (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/ CSU)

    hinter Tränengas und Polizeiknüppeln.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Weil Sie sich nicht an die Ordnung halten!)

    Es sind dort nicht nur Menschen niedergeknüppelt worden, sondern es hat von seiten der Polizei auch Übergriffe gegen Abgeordnete dieses sogenannten Hohen Hauses gegeben.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Weil sie sich mit den Demonstranten verbunden haben!)

    Das beweist, daß Sie es sich zu leicht machen, wenn Sie behaupten, daß die Gewalttäter draußen stehen.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Sie haben es darauf angelegt!)

    Sie machen es sich leicht, weil Sie schlichtweg verdrängen, daß die Menschen draußen von der nackten Angst geplagt sind,

    (Klein [München] [CDU/CSU]: So haben die Nazis auch über das Parlament geredet!)

    von der Verzweiflung über die Beschlüsse, die in diesem Hause gefaßt werden

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    und daß die Menschen einem ungeheuren Ohnmachtsgefühl und der Wut ausgeliefert sind, weil ihnen das Recht abgesprochen wird, über Fragen von Leben und Tod selbst zu entscheiden.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Klein [München] [CDU/CSU]: Sogenannte Abgeordnete! — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das ist eine sogenannte Friedensbewgung!)

    Das, was Christa Nickels heute morgen so eindringlich geschildert hat, das ist das, was die Menschen draußen bewegt. Und Sie verdrängen diese Ängste.

    (Klein [München] [CDU/CSU]: Sie werden sich an die Demokratie gewöhnen müssen!)

    Sie denken diese Gedanken nicht konsequent zu
    Ende, weil Tod und Elend in der Politik zu einem



    Frau Beck-Oberdorf
    Tabu gemacht werden oder höchstens noch für Sonntagsreden gelten.

    (Beifall bei den GRÜNEN) Deswegen gibt es die Friedensbewegung.

    Sprecher der Mehrheitsfraktionen haben sich während dieser Debatte zu den geschmacklosen und geschichtsblinden Vergleichen aufgeschwungen, daß sich die Friedensbewegung der Methoden der Nazis bediene. Sie kennen den wesentlichen Unterschied zwischen den Boykottaufrufen rassistischer Gewalttäter gegenüber jüdischen Geschäften und der oft stumm jetzt vor Abgeordnetenwohnungen vorgetragenen Bitte um eine Entscheidung gegen die Nachrüstung. Obwohl Sie diesen Unterschied genau kennen, benutzen Sie den geschmacklosen Vergleich, weil Sie die Friedensbewegung verleumden wollen.

    (Klein [München] [CDU/CSU]: Wer hat denn Psychoterror ausgeübt?)

    Es ist bewundernswert, mit welcher großen Reife, mit welchen Anstrengungen, mit welcher Geduld und welcher Disziplin diese Bewegung im Angesicht der Raketendrohung immer wieder versucht hat, gewaltfrei zu bleiben.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Aber Sie sind bereit, die Mehrheit der Bevölkerung zu übergehen. Deswegen muß sich dieses Haus hier verschanzen. Deswegen stehen die Menschen draußen. Sie lassen ihnen keine andere Wahl mehr.
    Die USA wollten lieber stationieren als SS 20 beseitigen. Das ist ein richtiger Satz, und das hat die Friedensbewegung gewußt. Und sie hat recht behalten.
    In diesem Parlament wird heute nur abgesegnet, was lange beschlossen ist, was von seiten der USA gewünscht wird.

    (Eigen [CDU/CSU]: Was hier gewünscht worden ist!)

    Das ist ein beschämendes Dokument für den Zustand dieses Parlaments.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Sie können wissen, welche Risiken diese Stationierung in sich birgt. Es wäre nicht so schlimm, wenn Sie nur die Verantwortung für sich selbst tragen würden. Aber Sie entscheiden hier für uns alle

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Leider!)

    und hoffen dabei, daß Ihr atomares Vabanquespiel gutgeht.
    Die Menschen draußen wissen, daß es noch nie eine Zeit ohne Krieg gegeben hat, noch nie.

    (Berger [CDU/CSU]: Seit 38 Jahren!)

    — 38 Jahre reichen dabei nicht. Wie weit wollen Sie eigentlich denken?

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Die Frauen in Greenham Common — ich glaube, es sind nicht umsonst Frauen — haben genau verstanden, worüber hier verhandelt wird, daß es um Leben und Tod geht. Deswegen haben sie keine Angst mehr vor Strafe, keine Angst vor der Polizei und vor der Staatsgewalt. Und die nennen Sie dann Gewalttäter!

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Diese Frauen haben denen ihr Vertrauen entzogen, die unser Geschick einem gefährlichen Poker überlassen.

    (Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Wer das Recht bricht, bricht den Frieden!)

    Diese Frauen mischen sich ein, sie wehren sich, sie sind politisch geworden — viele von ihnen waren es bis vor einigen Jahren nicht —, sie wehren sich, weil Ihre sogenannte Sicherheitspolitik in Unheil führt. Ich wünsche mir, daß auch hier die Frauen aufstehen werden. In Mutlangen waren es Hunderte — Frauen mit ihren Kindern —,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die größte Geschmacklosigkeit!)

    die um das Depot der Amerikaner gezogen sind. Ich versichere Ihnen, daß es mehr sein werden, auch wenn Sie das nicht hören wollen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Denn dieser Tag heute wird einen Bruch markieren. Sie werden nicht mehr kaschieren können, daß Sie in der Frage der Stationierung in der Minderheit sind,

    (Lachen bei der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: Das werden wir gleich sehen!)

    eine gefährliche Minderheit, die die Bürger in Angst und Schrecken versetzt.

    (Berger [CDU/CSU]: Sie haben Illusionen!)

    Damit haben Sie das Recht verspielt, als Regierung Loyalität zu fordern.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Eine Regierung, die dem Volk das Recht verweigert, in einer Abstimmung zu dieser Lebensfrage gehört zu werden,

    (Uldall [CDU/CSU]: Was heißt denn hier „Recht"?)

    hat das Recht verloren, über den Widerstand von Menschen zu urteilen.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Berger [CDU/ CSU]: Das ist der totalitäre Staat! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Was sollen denn die Menschen hier tun,

    (Dr. Althammer [CDU/CSU]: Eine NaziRede halten Sie!)

    wenn Sie alle demokratischen Wege versperren?

    (Unruhe bei den GRÜNEN — Schily [GRÜNE]: Nazi-Rede? Das lassen wir uns nicht gefallen! — Weitere Zurufe)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Einen Augenblick, meine Damen und Herren! Ich konnte eben nicht



Vizepräsident Frau Renger
hören, was sich da abgespielt hat. — Wir werden das im Protokoll nachprüfen.
Ich bitte um Entschuldigung; fahren Sie bitte fort.

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    Rede von Marieluise Beck-Oberdorf


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich hoffe, daß die Protokollführer auch alles gut gehört haben.

    (Zuruf von der SPD: Das sind tüchtige Leute! — Weitere Zurufe)

    Ich behaupte noch einmal: Wenn Sie alle demokratischen Wege versperren — und das ist so, denn die Entscheidung vom 6. März ist keine Entscheidung für die Stationierung gewesen —,

    (Berger [CDU/CSU]: Damit setzen Sie die Verfassung außer Kraft!)

    sind Sie es, die die Menschen in diesem Land in den Widerstand zwingen.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    50 Jahre nach Hitlers Machtergreifung wissen wir, daß Widerstand zur rechten Zeit besser gewesen wäre. Wie groß ist denn die Schuld derer, die sich nicht dem Holocaust entgegengestellt haben? Wie groß wird unsere Schuld sein, wenn wir uns nicht mit aller Kraft der Gefahr des atomaren Holocaust entgegenstellen? Was erwarten Sie als Politiker in solchen Situationen eigentlich von Menschen, die noch ihre Vernunft behalten haben?
    Hier wende ich mich an Sie von der SPD. Sie haben sich jetzt zu einem Nein zur Stationierung durchgerungen. Wir begrüßen diesen Sinneswandel. Aber das enthebt Sie nicht der Verantwortung für diesen Doppelbeschluß, denn er beruht schließlich auf Ihrer Politik. Es sind die Konsequenzen Ihrer Sicherheitspolitik, die uns heute über den Kopf wachsen, und es reicht nicht, heute nein zu sagen. Wir fragen Sie, was Sie jetzt zu tun gedenken, vor allem dann, falls Sie wieder einmal an die Macht kommen sollten, aber auch vorher, jetzt. Ich denke, daß die Friedensbewegung, um die Sie in den letzten Monaten so sehr gebuhlt haben,

    (Lachen bei der SPD)

    Sie daran messen wird, was Sie tun werden, damit die Raketen wieder verschwinden.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Sie, meine Damen und Herren von der Mehrheit, werden sicherlich heute abend mit dem Gefühl aus dem Haus gehen, daß Sie einen Sieg errungen haben. Aber ich sage Ihnen, daß es ein Pyrrhussieg sein wird.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Vielleicht haben Sie die Hoffnung, daß das Volk sich nun beruhigen wird, wenn Sie erst einmal Fakten geschaffen haben, daß über diese Entscheidung Gras wachsen wird, wenn Sie nur durchhalten, daß der Protest verstummen wird, wenn Sie hart genug sind. Aber Sie können sicher sein: Diese Kontroverse, die jetzt aufgebrochen ist, die Diskussion über den Sinn der NATO und über den Sinn atomarer und konventioneller Rüstung, die Diskussion, die mit dieser Stationierungsentscheidung aufgebrochen ist, ist damit nicht beendet, sondern hat erst angefangen und wird weitergehen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Hinter den Millionen Menschen, die im Oktober auf die Straße gegangen sind, stehen Millionen weitere, die sich Ihrer Gedankenwelt nun entzogen haben. Jede neue Waffe, die Sie in Zukunft aufstellen wollen, jede neue Strategie, die Sie mit der NATO entwickeln, wird auf das geschärfte Bewußtsein der Bevölkerung treffen. Es hat eine ungeheure öffentliche Diskussion der Außen- und Sicherheitspolitik gegeben. Hinter diese Diskussion wird die Bevölkerung nicht mehr zurückgehen.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Der geistige und auch der praktische Widerstand gegen Ihre lebensbedrohenden Konzepte hat begonnen, sich festzusetzen. Abschreckungskonzepte, die dem Doppelbeschluß zugrunde liegen, sind nicht mehr konsensfähig. Auch werden Sie die Skepsis nicht mehr zudecken können, die Ihre leere Formel vom „Frieden in Freiheit" hervorruft. Ihr „Frieden in Freiheit" stellt die Freiheit über den Frieden.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja Unfug!)

    Das heißt, Sie halten Freiheit für wichtiger als Frieden, und das zeugt von einer falschen Rangordnung der Werte; denn angesichts der Möglichkeit eines Atomkrieges oder der unvorstellbaren Zerstörungen eines konventionellen Krieges kann Freiheit durch Krieg nicht mehr gesichert werden. Um Freiheit bewahren oder erringen zu können, muß man zuerst einmal leben. Das gilt für die Menschen im Osten und für die Menschen im Westen.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Diese Auseinandersetzung ist eröffnet und nicht beendet. Schon heute ist zu sehen, daß die Friedensbewegung ihre Kritik an Waffensystemen, mit der die Diskussion angefangen hat, ausweitet. Die Friedensbewegung wird die Diskussion um Sinn und Zweck unserer Freundschaft mit der USA verstärken. Die Zweifel am vermeintlichen Schutz der NATO werden wachsen. Das sage ich auch sehr deutlich zur SPD. Ich kann nur hoffen, daß sich die SPD weiter in dieser Richtung entwickelt. Es gibt ja schon einige zarte Stimmchen in Ihrer Partei, die diese Richtung andeuten.

    (Widerspruch bei der SPD — Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Der Wunsch, einen Weg aus der Konfrontation der Blöcke heraus zu bahnen, wird die Diskussion in diesem Land bestimmen. Die Diskussion um gesellschaftliche und ökonomische Ursachen von Kriegen steht an. Die Friedensbewegung wird eine Bewegung für eine friedvolle Gesellschaft sein, der jede innere Triebkraft zur Expansion nach außen fehlt. Das wird in der zukünftigen Zeit sicherlich sehr wichtig sein, denn diese Expansion nach außen haben wir vor einigen Wochen wahrlich sehr deutlich gesehen.
    Der beste Garant für Frieden ist immer noch eine nichtexpansive, nichtagressive Gesellschaftsord-



    Frau Beck-Oberdorf
    nung, die in ihrer ganzen Lebensweise anderen dokumentiert, daß sie so, wie sie lebt, keinen bedroht.

    (Uldall [CDU/CSU]: Nur mit Blut spritzt!)

    In diesem Zusammenhang haben wir in der Debatte sehr gefährliche Äußerungen über „unser Öl", „unsere Rohstoffe", „unsere Märkte" gehört. In solcher Rede liegt eine Quelle für den Weg in den Krieg.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Berger [CDU/ CSU]: Wollen Sie kein Öl? — Uldall [CDU/ CSU]: Wer hat denn mit Blut gespritzt?)

    — Wir werden in Zukunft immer wieder ansprechen, daß eine Gesellschaft wie die unsrige mit ihrer Gier nach Rohstoffen und billigen Arbeitskräften aus fremden Ländern, mit ihrer expansiven und aggressiven Weltmarktorientierung, mit ihrem Konkurrenzprinzip statt dem Prinzip der Solidarität nach innen und nach außen keine friedfertige Gesellschaft sein kann, daß wir eine andere brauchen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das merkt man an Ihnen besonders!)

    Die kommenden Auseinandersetzungen um die Außen- und Sicherheitspolitik und um eine friedvolle Gesellschaft sind von großer Bedeutung. Die Aufrüstung führt uns schrittweise näher an den Krieg heran. Wir müssen Schritte in Richtung auf den Frieden machen. Dazu haben wir nicht mehr alle Zeit der Welt. Aber machen Sie sich keine Hoffnung: Diese Friedensbewegung wird nicht in Resignation verfallen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Sie wird sich ausbreiten auf eben dieser Suche nach einer Chance für die Zukunft.

    (Beifall bei den GRÜNEN)