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ID1002900200

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    Plenarprotokoll 10/29 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 29. Sitzung Bonn, Freitag, den 14. Oktober 1983 Inhalt: Glückwünsche zur 30jährigen Mitgliedschaft der Abgeordneten Frau Renger, Dr. Czaja und Dr. Dollinger im Deutschen Bundestag 1925 A Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Schily und der Fraktion DIE GRÜNEN Kriegsvölkerrechtliche Grundsätze — Drucksachen 10/163, 10/445 — in Verbindung mit Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Schily und der Fraktion DIE GRÜNEN Kriegsvölkerrechtliche Verträge — Drucksachen 10/164, 10/445 — Dr. Mertes, Staatsminister AA 1925 B Voigt (Frankfurt) SPD 1932 C Schily GRÜNE 1934 C Schäfer (Mainz) FDP 1937 D Kolbow SPD 1941 A Klein (München) CDU/CSU 1943 C Fischer (Osthofen) SPD 1948 A Ronneburger FDP 1950 B Dr. Todenhöfer CDU/CSU 1951 C Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordnetengesetzes — Drucksache 10/470 — Dr. Barzel, Präsident 1954 B Dr. Schäuble CDU/CSU 1955 C Hoss GRÜNE 1957 C Wolfgramm (Göttingen) FDP 1960 A Becker (Nienberge) SPD 1962 B Nächste Sitzung 1964 A Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 1965* A Anlage 2 Amtliche Mitteilung 1965* C Anlage 3 Aufwendungen für die Aufklärung der deutschen Bevölkerung über das Wettrüsten und die Gefahren eines Atomkriegs sowie über die „in der Friedensbewegung lauernden Gefahren" MdlAnfr 24 07.10.83 Drs 10/457 Dr. Schöfberger SPD SchrAntw StSekr Boenisch BPA . . . . 1965* D Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 29. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. Oktober 1983 1925 29. Sitzung Bonn, den 14. Oktober 1983 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 14. 10. Frau Dr. Bard 14. 10. Biehle 14. 10. Bindig 14. 10. Conradi 14. 10. Duve 14. 10. Engelsberger 14. 10. Ertl 14. 10. Frau Fuchs (Köln) 14. 10. Frau Geiger 14. 10. Gobrecht ** 14. 10. Dr. Hackel 14. 10. Frau Dr. Hamm-Brücher 14. 10. Handlos 14. 10. Herterich 14. 10. Heyenn 14. 10. Frau Dr. Hickel 14. 10. Frau Huber 14. 10. Huonker 14. 10. Ibrügger 14. 10. Jansen 14. 10. Jung (Düsseldorf) 14. 10. Dr. Klein (Göttingen) 14. 10. Klein (München) ** 14. 10. Dr. Köhler (Duisburg) 14. 10. Kroll-Schlüter 14. 10. Lennartz 14. 10. Menzel 14. 10. Dr. Meyer zu Bentrup 14. 10. Milz 14. 10. Möllemann 14. 10. Dr. Müller * 14. 10. Müller (Wadern) 14. 10. Frau Dr. Neumeister 14. 10. Offergeld 14. 10. Dr. Pinger 14. 10. Poß 14. 10. Reents 14. 10. Reuschenbach 14. 10. Roth (Gießen) 14. 10. Dr. Scheer 14. 10. Schemken 14. 10. Schmidt (Hamburg) 14. 10. Frau Schmidt (Nürnberg) 14. 10. Schröer (Mülheim) 14. 10. Dr. Soell ** 14. 10. Spranger 14. 10. Dr. Stark (Nürtingen) 14. 10. Dr. Stercken ** 14. 10. Dr. Stoltenberg 14. 10. Stücklen 14. 10. Tietjen 14. 10. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an der 70. Konferenz der Interparlamentarischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Traupe 14. 10. Verheugen 14. 10. Voigt (Sonthofen) 14. 10. Frau Dr. Wex 14. 10. Dr. Wittmann 14. 10. Wissmann 14. 10. Dr. Zimmermann 14. 10. Zink 14. 10. Anlage 2 Amtliche Mitteilung Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat dem Bundestagspräsidenten mit Schreiben vom 27. September 1983 eine Vorlage betreffend Unterrichtung des Deutschen Bundestages über den Stand der Arbeiten zur Lösung der Zweitanmelderproblematik übermittelt. Der Ältestenrat hat in seiner Sitzung am 13. Oktober 1983 beschlossen, diese Vorlage dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zuzuleiten. Sie wird nicht als Bundestagsdrucksache gedruckt und verteilt. Anlage 3 Antwort des Staatssekretärs Boenisch auf die Frage des Abgeordneten Dr. Schöfberger (SPD) (Drucksache 10/ 457 Frage 24): Wieviel Geld hat die Bundesregierung bislang ausgegeben, um im Anschluß an die UN-Resolution vom 30. Juni 1978 die deutsche Bevölkerung über das weltweite Wettrüsten und die damit verbundenen Gefahren eines Atomkrieges aufzuklären, und wieviel will die Bundesregierung demgegenüber aufwenden, um die deutsche Bevölkerung vor den „in der Friedensbewegung lauernden Gefahren" aufzuklären und zu warnen? Im Haushaltsplan und damit auch in den Planungen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung sind Mittel für eine Aufklärung der deutschen Bevölkerung über das weltweite Wettrüsten und die damit verbundenen Gefahren eines Atomkrieges nicht ausgewiesen. Die Bundesregierung erfüllt vielmehr laufend ihre Pflicht, über alle Probleme der äußeren Sicherheit zu unterrichten. Zum zweiten Teil Ihrer Frage: In der Planung der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung sind ebenfalls keine Aufwendungen vorgesehen, um die deutsche Bevölkerung vor den - ich zitiere Ihre Worte - „in der Friedensbewegung lauernden Gefahren" aufzuklären und zu warnen. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, über Sicherheitspolitik zu informieren. Insgesamt wurden für sicherheitspolitische Öffentlichkeitsarbeit seit Mai 1983 rd. 1,6 Millionen DM aus dem Ansatz 1983 von den Ressorts ausgegeben.
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    Rede von Dr. Alois Mertes


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegenstand der heutigen Aussprache sind Fragen des humanitären Kriegsvölkerrechts, die, soweit ich sehe, das Plenum des Deutschen Bundestages in dieser
    Ausführlichkeit bisher noch nicht beschäftigt haben. Allerdings hatten wir eingehende Beratungen vor der Unterzeichnung der beiden Zusatzprotokolle von 1977 zu dem Genfer Abkommen von 1949 durch die Bundesregierung Ende 1977 im Auswärtigen Ausschuß und im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages.
    Als erste Fraktion hat die damalige CDU/CSU-Opposition dieses Thema im Rahmen einer Großen Anfrage — „Erhaltung und Festigung des Friedens durch Sicherheit, Rüstungskontrolle, Abrüstung und den Abbau der politischen Spannungsursachen" — vom 23. November 1978 zur Sprache gebracht, desgleichen das Thema Waffenbeschränkungskonferenz der Vereinten Nationen. Die damalige Bundesregierung hat unter dem Datum vom 16. Februar 1979 eine Antwort gegeben, zu der auch die heutige Bundesregierung steht. Ich zitiere die damalige Bundesregierung:
    Die Bundesrepublik Deutschland hat sich an den bisherigen internationalen Bemühungen um Stärkung und Verbesserung des Völkerrechts bei bewaffneten Konflikten aktiv beteiligt, insbesondere an der „Diplomatischen Konferenz über die Neubestätigung und Weiterentwicklung des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts". Das Gebot, nach Kräften zu diesen Bemühungen beizutragen, ergibt sich für die Bundesrepublik Deutschland nicht zuletzt daraus, daß ihr Gebiet im Falle einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West unausweichlich Kriegsschauplatz werden würde. Das deutsche Volk wäre daher in einem bewaffneten Konflikt zwischen den Bündnissystemen in besonderer Weise von der Vernichtungskraft moderner Waffen bedroht. Ausgangspunkt aller Überlegungen der Bundesregierung war und ist jedoch die Überzeugung,
    — immer noch Zitat aus dem Jahr 1979 —
    daß der Humanität in erster Linie durch eine aktive Politik der Erhaltung und Sicherung des Friedens gedient wird. Unverzichtbares Element der friedenserhaltenden Politik der Bundesregierung ist es, die unverminderte Sicherheit zu gewährleisten, die auf der lückenlosen



    Staatsminister Dr. Mertes
    Abschreckung und der Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der Bündnisstrategie beruht.
    Dieses Zitat zeigt: Die heutige steht wie die damalige Bundesregierung zum Primat der Friedenssicherung, zu der doppelten Aufgabe Friedenserhaltung und Friedensgestaltung, zur Absage an jeden politischen Mißbrauch des Kriegsvölkerrechts zu Lasten der verläßlichen Sicherung des Friedens.
    In der Tat: Das humanitäre Kriegsvölkerrecht ist Recht, das in einem Krieg gilt, der stattfindet. Die politisch-militärische Strategie unseres Bündnisses bewirkt aber, daß ein Ost-West-Krieg gar nicht erst stattfindet. Eine politische oder gar agitatorische Nutzung des Kriegsvölkerrechts, das die Kriegsverhütung behindert und den Krieg wahrscheinlicher macht, wäre eine sinnwidrige und damit verantwortungslose Absurdität.
    Die Fraktion der GRÜNEN sollte auch wissen, daß die Fraktion der CDU/CSU in den Jahren nach der Unterzeichnung der beiden Zusatzprotokolle mit den Bundesministern des Auswärtigen und der Verteidigung — übrigens auch mit dem Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Bonn — eine ausgedehnte Korrespondenz zum Thema dieser Debatte, zum Spannungsverhältnis zwischen humanitärem Kriegsvölkerrecht und politisch-militärischer Friedenssicherung, hatte, wobei ich die kooperative Haltung der damaligen Bundesregierung und die der US-Regierung anerkennend hervorheben möchte.
    Damals wie heute ging es um den Primat der Friedenssicherung, d. h. der wirksamen — nicht verbalen, der wirksamen — Verhütung eines Krieges, jedes Krieges überhaupt; denn der Begriff „konventioneller Krieg" — da stimme ich mit Heinrich Böll überein — ist in Europa angesichts der Vernichtungsfähigkeit sogenannter herkömmlicher, konventioneller Waffen, bei ihrem heutigen Perfektionsgrad, in Wirklichkeit eine nicht mehr zu vertretende Schönfärberei geworden.
    Als Gemeinschaft von 15 repräsentativen, parlamentarischen, rechtsstaatlichen Demokratien kommen wir leider — ich sage noch einmal: leider — ohne das militärische Instrumentarium einer glaubwürdigen Sicherung des Friedens nicht aus. Mit dieser Paradoxie müssen wir leider noch leben. Wollten wir ihr etwa im Namen des humanitären Kriegsvölkerrechts oder der Ethik davonlaufen, würde der Friede unsicherer und der Krieg wahrscheinlicher.
    Die GRÜNEN selbst haben in ihrer Großen Anfrage „Kriegsvölkerrechtliche Verträge" dankenswerterweise auf den Grund für diese Lage hingewiesen: „Die Staaten des Warschauer Pakts" — so sagen die GRÜNEN — „haben totalitäre Regierungen, die von der Bevölkerung weder gewählt noch abgewählt werden können." So die Charakterisierung durch die GRÜNEN in ihrer Großen Anfrage.

    (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Trotzdem wird verbreitet, wir würden von der KPdSU geleitet! — Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

    — Meine verehrten Kollegen, die Themen „Humanitäres Kriegsvölkerrecht" und „Sicherung des Friedens" sind eine so ernsthafte Angelegenheit daß ich Sie bitte, jede Form der Agitation aus Respekt vor der Bedeutung des Gegenstands zu unterlassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Sagen Sie das mal den Verfassern dieses Schmierblatts hier!)

    Ich wiederhole, was die GRÜNEN gesagt haben „Die Staaten des Warschauer Pakts haben totalitäre Regierungen, die von der Bevölkerung wede] gewählt noch abgewählt werden können." Solche Regierungen — das sage jetzt ich, und das sagt da: Atlantische Bündnis — haben nach aller Erfahrung der Geschichte ein anderes Verhältnis zur Gewalt ein anderes Verhältnis zur Gewaltandrohung, zur Verängstigung schwacher Nachbarn, zu Druck, Er pressung und, wenn ihnen keine glaubwürdige Abschreckung entgegentritt, letzten Endes auch zu Gewaltanwendung und Aggression als demokratische Regierungen.
    Mit dieser totalitären Realität im Hintergrung der atomaren Frage — ich gebrauche nochmals die zutreffende Vokabel der Fraktion der GRÜNEN in ihrer Großen Anfrage — müssen wir leben. Da: heißt auch, wir müssen mit der Realität leben, dal die Sowjetunion ihre militärische Macht nicht nur als ihr Verteidigungspotential im Falle einer Agres sion von außen betrachtet, sondern auch als Instrument der Repression in ihrem Machtbereich – deshalb gibt es im sowjetischen Machtbereiel keine Friedensdebatte, die auch nur entfernt mit der unseren vergleichbar wäre — und als Instrument zu politischer Einflußexpansion nach außer d. h. als Mittel zur Brechung des politischen Selbst behauptungswillens kleiner Nachbarn durch Ein schüchterung, Druck, Drohung oder gar Erpressung, aus eigenem Überlebensinteresse — aber unterhalb der Schwelle eines Kriegs, der das Risik der Eskalation in einen nuklearen Krieg in sich trii ge. In Moskau regieren keine Selbstmörder, son dern rationale Kalkulatoren. Auch deshalb ist da Risiko eines großen Ost-West-Krieges, in dem da humanitäre Kriegsvölkerrecht zu gelten hätte, fas gleich Null. Aber auch das „fast" ist noch zuviel Jeder zusätzliche Grad verläßlicher Sicherung de Friedens ist willkommen.
    Zu den Großen Anfragen, die die Fraktion de GRÜNEN in den Bundestagsdrucksachen 10/16 und 10/164 am 16. Juni 1983 gestellt haben, liege Ihnen die Antworten der Bundesregierung vor.
    Es geht heute um Fragen des Kriegsrechts, aber es geht gleichzeitig um die Verhinderung des Krieges, in dem dieses Recht im Krieg, dieses ius in be lo, gelten würde. Es geht heute nicht um die Frage ob und wann ein Staat Waffengewalt zur Durchsezung seiner Ziele einsetzen darf. Ein Recht zur Kriege, ein ius ad bellum, gibt es heute nid mehr.

    (Beifall bei allen Fraktionen)




    Staatsminister Dr. Mertes
    Vielmehr gibt es statt dessen eine Verpflichtung zum Frieden, eine obligatio ad pacem. Alle Mitglieder der Vereinten Nationen haben die Verpflichtung, ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so beizulegen, daß der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. Alle Staaten haben die Verpflichtung, in ihren internationalen Beziehungen jede Androhung oder gar Anwendung von Gewalt zu unterlassen. Dies sind die im Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Grundsätze. Sie können insoweit noch über den Kreis der Mitgliedstaaten hinaus universelle gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen.
    Dies ist das fundamentale Gewaltverbot des Völkerrechts, dem die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie ihre Verbündeten aus tiefster Überzeugung, aber auch auf Grund ihrer Verfassung verpflichtet ist. Dies ist die Magna Charta des Friedens. Dies ist das Fundament des Friedensvölkerrechts. Dies ist die elementare, unaufgebbare Voraussetzung einer internationalen Friedensordnung, die auf der Herrschaft des Rechts gegründet ist, nach der es dann deshalb kein Kriegsvölkerrecht mehr geben müßte. Das Gewaltverbot gilt für jede militärische Gewaltandrohung und Gewaltanwendung, und es gilt für jede Art von Waffe.
    Lassen Sie mich gleich hinzufügen: Bei allem Verständnis für die anhaltende Diskussion über das angeblich wachsende Kriegsrisiko vermag ich ein solches so lange nicht zu erkennen, als der Westen an seiner klaren Politik der Verhandlungsbereitschaft und der Erhaltung des Gleichgewichts festhält.
    Meine Zuversicht gründet zum einen auf dem bewährten Schutz durch das Atlantische Bündnis, das in Europa seit annähernd 35 Jahren den Frieden maßgeblich gesichert hat. Des weiteren gründet sie in meiner Erfahrung und Überzeugung, daß die Sowjetunion in Fragen militärischer, vor allem atomarer Macht rational, wenn auch politisch zielgerichtet handelt. Die Strategie der Abschreckung geht von der rationalen Wahrung der Eigeninteressen auch der Sowjetunion aus.
    Im Falle eines völkerrechtswidrigen bewaffneten Angriffs steht dem Angegriffenen allerdings das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung zu. Das folgt klar aus Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen. Die Selbstaufgabe eines Staates angesichts eines Angriffs ist kein Gebot des Völkerrechts. Das gleiche gilt für die direkte oder indirekte Ankündigung einer solchen Selbstaufgabe, ja, sie wäre geradezu eine Einladung zum Bruch des Friedensvölkerrechts.
    Zur gemeinsamen Ausübung ihres Selbstverteidigungsrechts haben die Mitgliedstaaten des Nordatlantikpaktvertrages ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung, für die gemeinsame Erhaltung des Friedens und für ihre unteilbare Sicherheit vereinigt. Die Staats- und Regierungschefs unseres Bündnisses haben dieses Ziel am 10. Juni 1982 in Bonn erneut bekräftigt, indem sie erklärten:
    Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden, es sei denn als Antwort auf einen Angriff.
    Die Verteidigungsplanung des Bündnisses dient dem einzigen Ziel der Abwendung eines solchen Angriffs, also der verläßlichen Friedenserhaltung. Es mag eine traurige Wahrheit sein, aber es bleibt eine Wahrheit, daß unter den gegenwärtigen Gegebenheiten nur die Abschreckung die vollständige Einhaltung des Gewaltverbots, des Kerns des Friedensvölkerrechts, dauernd und wirksam sichert. Es geht — ich wiederhole es — um die vollständige Einhaltung des Gewaltverbots als Kern des Friedensvölkerrechts. Die Bundesregierung sieht keinen Sinn darin, die Frage des Einsatzes bestimmter Waffen mit dem Gewaltverbot zu verbinden und das umfassende Gewaltverbot dadurch zu relativieren, so daß der Eindruck erweckt wird, als ob ein Verstoß gegen das Gewaltverbot in irgendeiner Weise unterschiedlich zu bewerten sei, je nach der Art der Waffen, die ein Angreifer einsetzt.
    Wenn die Abschreckung versagt, wenn das Gewaltverbot mißachtet wird und der Angegriffene sein Selbstverteidigungsrecht in Anspruch nimmt, wenn es also zum Kriege käme — käme —, würde das Kriegsrecht gelten. Dies ist die ganze Gruppe der gewohnheitsrechtlichen und vertraglichen Normen, die das ius in bello, das Recht in einem Kriege, ausmachen. Damit sind wir beim engeren Gegenstand unserer heutigen Aussprache.
    Lassen Sie mich zu Anfang einen wesentlichen Grundsatz hervorheben. Die Normen des Kriegsrechts gelten für die Parteien eines bewaffneten Konflikts ungeachtet des Umstandes, wer in dem Konflikt der Angreifer ist und wer sich verteidigt. Die Normen des Kriegsrechts sind ohne jede nachteilige Unterscheidung anzuwenden, die auf Art oder Ursprung des bewaffneten Konflikts oder auf Beweggründen beruht, die von den am Konflikt beteiligten Parteien vertreten oder ihnen zugeschrieben werden, so die Präambel des I. Zusatzprotokolls. Auch eine Partei, die sich verteidigt, hat nicht das Recht, den Friedensbrecher dadurch zu bestrafen, daß sie ihm gegenüber die Normen des Kriegsrechtes nicht einhält. Die Sanktionen gegenüber einem bewaffneten Friedensbruch ergeben sich aus der Charta der Vereinten Nationen und aus dem allgemeinen Völkerrecht. Über solche Sanktionen zu entscheiden ist in erster Linie Sache des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Das ist ein Problemkreis, der vom Kriegsrecht streng zu trennen ist. Das Kriegsrecht gilt, wenn Sie so wollen, in majestätischer Gleichheit für Gerechte und Ungerechte.
    Ich nenne seine zentralen fünf Punkte:
    Erstens. Auch wer sich verteidigt, hat kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Angreifers.
    Zweitens. Auch wer sich verteidigt, darf keine verbotenen Waffen einsetzen.
    Drittens. Auch wer sich verteidigt, muß jederzeit zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten unterscheiden.
    Viertens. Auch wer sich verteidigt, darf die Zivilbevölkerung als solche nicht angreifen.



    Staatsminister Dr. Mertes
    Fünftens. Auch wer sich verteidigt, muß seine militärischen Aktionen jederzeit am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen.
    In den Fragen der GRÜNEN wird versucht, den Nachweis zu führen, daß die Atomwaffe als solche verboten sei oder daß jedenfalls jeder Einsatz dieser Waffe auch in der strategischen Planung verboten sei oder daß der Einsatz der Atomwaffe selbst auf niedrigster Stufe als Mittel zur Wiederherstellung der Abschreckung gegenüber einem konventionell vorgetragenen Angriff verboten sei. Das in diesem Zusammenhang wichtige Thema der Anhebung der Atomschwelle, des nicht vorzeitigen Einsatzes, der sogenannten no early use, will ich hier jetzt nicht vertiefen.
    Lassen Sie mich mit großem Ernst sagen: Die Atomwaffe ist wohl die entsetzlichste Erfindung der Menschheit. Ihre Vernichtungsfähigkeit überschreitet alle bisher vorstellbaren Schrecken. Kein verantwortungsbewußter Mensch darf diese Tatsache, diesen Qualitätssprung in der Vernichtungsfähigkeit, verkleinern. Einen Wettbewerb menschlicher Sensibilität, meine Damen und Herren von der Fraktion der GRÜNEN, gegenüber diesen schrecklichen Waffen sollte es diesen Qualitätssprung in der Vernichtungsfähigkeit in diesem Hause überhaupt nicht geben. Allen Beschreibungen eines Atomkrieges durch fachkundige Naturwissenschaftler stimmen wir zu. Aber die Atomwaffe ist eine auf uns allen lastende Wirklichkeit. Atomwaffen sind in ihrer physischen Realität Waffen gegen einen potentiellen Gegner. In ihrer politischen Realität können sie Mittel der offensiven Einschüchterung oder auch der defensiven Abschrekkung sein. Das letztere ist ihre Funktion in der Friedenssicherungsstrategie des Nordatlantischen Bündnisses. Das heißt: Als politische Waffe ist es ihre Aufgabe, im Sinne des französichen Wortes für Abschrekkung „dissuasion", also Abratung —, das gleiche Wort verwenden übrigens die Italiener, die Spanier und die Portugiesen, jedem möglichen Gegner den Angriff von vornherein überzeugend auszureden. Atomwaffen sind da, und wir müssen, wenn ich Karl Jaspers zitieren darf, mit der Bombe leben. Angst und Nervosität, moralische Verurteilung und einseitige Abrüstung beseitigen diese schrecklichen Waffen nicht. Ja, es gilt sogar: Sie machen den Frieden unsicherer, weil sie die Förderer einseitiger Aufrüstung und zynischen Gewalteinsatzes im Ergebnis — nicht von der Intention her — ermutigen.
    Die Bundesregierung wendet sich mit all ihren Verbündeten gegen die Behauptung, die Atomwaffe sei schon heute eine rechtlich verbotene Waffe. Völkerrecht — und dies ist der Gegenstand der Großen Anfragen — gründet sich auf Verträge und Gewohnheitsrecht. Es gibt keinen Vertrag, der die Atomwaffe als Waffe verbietet. Auch der Versuch, bestehende Verträge, etwa das Genfer Protokoll von 1925 über das Verbot der Anwendung von Giftgasen und bakteriologischen Mitteln im Kriege, so auszulegen, daß die Atomwaffen von ihnen erfaßt würden, findet in der Staatenpraxis keine Stütze.
    Der Atomwaffensperrvertrag, um den wir in diesem Hause leidenschaftlich gerungen haben, teilt die Welt ein in Staaten, die das Recht haben, Atomwaffen zu besitzen, und in Staaten, die sich verpflichtet haben, Atomwaffen nicht herzustellen oder zu erwerben. Im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, d. h. über die Nichterhöhung der Zahl der Kernwaffenstaaten, legitimiert die internationale Staatengemeinschaft den atomaren Status quo. Denn dieser Vertrag gestattet den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China — wenn auch die beiden zuletzt genannten Länder nicht Partei sind — die Herstellung, den Erwerb und den Besitz von Kernwaffen, auch die politische Verfügungsgewalt über diese Waffen (control over nuclear weapons).
    Angesichts des auf uns lastenden politischen OstWest-Antagonismus, der doch im wesentlichen auf gegensätzlichen Vorstellungen von einer dauerhaften Friedensgestaltung — nicht auf Feindbildern oder westlichem Haß — beruht, besteht damit unleugbar das Problem unserer politischen Bedrohung durch die Ziele und Potentiale einer totalitären Kernwaffengroßmacht — ich gebrauche hier wieder das Wort der GRÜNEN —, die gegen uns gerichtet sind, wie die Nachkriegsgeschichte lehrt. Der Atomwaffensperrvertrag ist einfach nicht denkbar vor dem Hintergrund der Behauptung, die Staatenpraxis sei von der Rechtsüberzeugung bestimmt, bei der Atomwaffe als solcher handle es sich um eine schon heute vom Völkerrecht verbotene Waffe.
    Auch die Verträge über die Schaffung atomwaffenfreier Räume auf dem Meeresboden, in der Antarktis und im Weltraum wären nicht denkbar, wenn es schon heute einen gesicherten und allgemein anerkannten Satz des Gewohnheitsrechts gäbe, wonach die Atomwaffe verboten wäre.
    Schließlich zeigen die Verträge über die zahlenmäßige Beschränkung dieser Waffen und das politische Ringen um den Abschluß weiterer derartiger Verträge, die Auseinandersetzung darüber, welche Zahl der Waffen von der einen oder anderen Seite zugestanden werden soll und welche zu vernichten sind, daß es ein absolutes Waffenverbot für die Atomwaffe im heutigen Völkerrecht nicht gibt. Ebensowenig gibt es ein absolutes Einsatzverbot.
    In den Fragen der Fraktion der GRÜNEN klingt auch die Behauptung an, wonach ein Angriff, der sich auf konventionelle Waffen beschränkt, den Einsatz der Atomwaffe zur Verteidigung jedenfalls nicht rechtfertigen würde. Es ist das bekannte Problem der defensiven Option des nuklearen Ersteinsatzes, der bei der Sicherung des Friedens in Europa eine so große Rolle spielt. Dies ist also die Frage, ob ein Angreifer, indem er sich auf konventionelle Mittel beschränkt, den Verteidiger, in diesem Fall den Westen, allein dadurch bei der Auswahl der Mittel zu seiner Selbstverteidigung beschränken kann. Ein solcher Grundsatz ist im Völkerrecht nicht nachweisbar.
    Es besteht kein vertragliches oder gewohnheitsrechtliches Verbot des Einsatzes von Atomwaffen gegen einen mit nichtnuklearen Mitteln geführten Angriff. Dem liegt die Tatsache zugrunde, daß die abschreckende und defensive Option des Ersteinsatzes in den Augen des Westens — jedenfalls bis



    Staatsminister Dr. Mertes
    heute — eine unaufgebbare Voraussetzung der Friedenserhaltung in Europa ist. Die Sowjetunion als konventionell weit überlegene Macht ist seit langem bemüht, ein derartiges „Ersteinsatzverbot" durchzusetzen, da es für sie von erheblichem militärischem und damit politischem Vorteil wäre.
    Die westlichen Staaten sind den entsprechenden östlichen Initiativen entgegengetreten — ich erinnere etwa an die Rede vom Bundeskanzler Helmut Schmidt vor den Vereinten Nationen im Mai 1978 —, da sie das Gewaltverbot relativieren, das Selbstverteidigungsrecht beschränken und damit im Ergebnis die Sicherung des Friedens mindern würden. Für die Herausbildung von Gewohnheitsrecht, das der defensiven Option des atomaren Ersteinsatzes entgegenstehen würde, fehlt es somit an dem nötigen Konsens der betroffenen Staaten.
    Im übrigen stimme ich Andrej Sacharows Bedingungen für einen amerikanisch-sowjetischen Vertrag gegen jeden Ersteinsatz von Kernwaffen gern zu. Ich zitiere Sacharow:
    Einstellung der Expansion, Regelung von Konflikten durch Verhandlungen, Schaffung einer Atmosphäre des Vertrauens und der Offenheit, Wiederherstellung und Erhaltung eines Gleichgewichts der konventionellen Waffen — nur unter diesen Bedingungen lassen sich Fortschritte erzielen, wenn man konventionelle und nukleare Waffen abbauen und die Kriegsgefahr reduzieren will.
    Soweit Sacharow.
    Andrej Sacharow ist im übrigen Friedensnobelpreisträger. Er ist es geworden, weil er nicht müde wird, auf den unlösbaren Zusammenhang von Friede und Menschenrecht, von Friede und Völkerrecht, von ausgewogener Abrüstung und friedenssicherndem Gleichgewicht hinzuweisen. Übrigens zeigt auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an Lech Walesa, wie sehr dem Friedensnobelpreiskomitee an der Wachhaltung des Bewußtseins von Frieden, Menschenwürde und Freiheit gelegen ist.

    (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: In Ost und West!)

    — Ja, in der Tat.
    In der Diskussion über die Ersteinsatzoption, die sogenannte first use option, macht sich in jüngster Zeit eine Verwirrung der Begriffe breit. Es wird die Behauptung aufgestellt, daß insbesondere die Mittelstreckenwaffen nur mit dem Ziel nach Europa gebracht würden, einen möglichen Gegner mit einem Erstschlag aus heiterem Himmel vernichtend treffen zu können. Eine solche Erstschlagskapazität steht für das Nordatlantische Bündnis nicht zur Diskussion, sie ist ganz und gar undenkbar. Es geht ausschließlich um die Option des defensiven Erstgebrauchs von Kernwaffen durch das westliche Bündnis zur rechtzeitigen Abwehr, d. h. es geht ausschließlich darum, der Gegenseite durch das vorhandene Verteidigungspotential zu signalisieren, daß ein Angriff sinnlos wäre, da das Bündnis in der Lage wäre, auf einen Angriff mit dem defensiven Erstgebrauch von Kernwaffen zu reagieren.
    Meine Damen und Herren, ich habe wie viele in diesem Hause von 1933 bis 1939 als junger Mensch erlebt, wie wir die Freiheit verloren und wie wir dann, ab 1939, deshalb auch den Frieden verloren haben. Ich bin nicht mehr bereit, Frieden und Freiheit als ethische Höchstwerte voneinander zu trennen; sie sind unlösbar miteinander verbunden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Auf Grund unserer geschichtlichen Erfahrung ist Abschreckung rechtzeitiger Widerstand, damit wir nicht wieder in eine Tyrannei abgleiten, in der Widerstand notwendig wäre, den meisten Menschen dann aber nicht mehr möglich ist. Abschreckung ist rechtzeitiger Widerstand!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die heute in der NATO gültige Strategie der defensiven Erwiderung soll den Gegner also durch eine lückenlose Abschreckung und durch die Konfrontation mit einem unkalkulierbaren Risiko von der Anwendung und Androhung militärischer Gewalt abhalten. Die abschreckende Wirkung dieser Doktrin der abgestuften Antwort beruht auf drei Pfeilern: Erstens auf der politischen Entschlossenheit aller Bündnispartner, aus Verantwortung für den Frieden jeder Form von Aggression — mit welcher Waffe auch immer — und Erpressung gemeinsam zu begegnen. Zweitens auf der Fähigkeit des Bündnisses, auf jeder Aggressionsebene wirksam defensiv reagieren zu können. Drittens auf der Flexibilität, zwischen verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten — konventionell oder nuklear — wählen zu können. Dies ist übrigens das entscheidende Argument gegen das ebenso populäre wie vordergründige overkill-Argument.
    Oberstes Ziel dieser Strategie ist, wie gesagt, die Verhinderung des Krieges, die konkrete, die verläßliche Sicherung des Friedens gegen jedes Kriegsrisiko, sei es konventioneller, sei es nuklearer Art. Konventionelle Mittel allein reichen unter den gegebenen Umständen für eine Friedenssicherung leider nicht aus. Erst die Verkopplung von konventionellen und nuklearen Mitteln stellt sicher, daß jegliche Aggression oder auch nur Erpressung eines NATO-Staates als erfolglos und damit als sinnlos angesehen werden muß. Diese Verkoppelung schützt vor allem die nichtnuklearen Staaten.
    In Übereinstimmung mit dem geltenden Friedensvölkerrecht liegt für die Bundesregierung die entscheidende Schwelle daher nicht zwischen konventionellem und nuklearem Krieg, sondern zwischen Krieg und Nichtkrieg, zwischen Krieg und Frieden. Die Bundesregierung lehnt — ich sagte schon warum —, jede Verharmlosung konventioneller Kriegführung ab. Sie befindet sich damit auch in voller Übereinstimmung mit dem Deutschen Roten Kreuz und mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Sie befürchtet, daß ein Verzicht auf die defensive Option des nuklearen Ersteinsatzes, auf die glaubwürdige Ersteinsatzandrohung also, als Mittel der Verteidigung gegenüber einem konventionell vorgetragenen Angriff den konventionellen Krieg wahrscheinlicher machen, das heißt den Frieden gefährden würde.



    Staatsminister Dr. Mertes
    Der Verfassungsauftrag der Bundesregierung geht dahin, Schaden vom deutschen Volke zu wenden und das Bundesgebiet vor jedem Angriff und vor jeder Erpressung zu schützen. Der verantwortliche Politiker muß sich fragen, wie er in der konkreten Situation, in der wir stehen, diesem Auftrag genügen will. Das Risiko für jeden potentiellen Angreifer muß so hoch sein, daß für ihn keinerlei Aussicht besteht, irgendeinen Vorteil aus einer Aggression zu ziehen, nach deren Beginn dann das humanitäre Kriegsvölkerrecht zu gelten hätte. Diese Abschreckung bleibt für die voraussehbare Zukunft auf Atomwaffen angewiesen. Wir können es bedauern, und ich tue es, aber es ist so. Ein anderes wirksames Mittel, das an ihre Stelle treten könnte, ist noch nicht in Sicht.
    Was uns bisher an Alternative geboten wird, ist der Übergang vom Dilemma zur Katastrophe, vom Regen in die Traufe. Diese Strategie der Abschrekkung ist — ethisch gesprochen — das Ergebnis einer Güter- und Risikoabwägung oder, besser gesagt, einer Abwägung zwischen dem geringeren und dem größeren Übel. Die Ethik gebietet in einer solchen Lage die Wahl des geringeren Übels.
    Ich las dieser Tage folgende Äußerung eines jungen Menschen: „Unter neurotischer Angstlosigkeit ist das Verdrängen des Angsteffektes angesichts einer bekannten äußeren Gefahr zu verstehen. Entscheidend ist hier, daß diese neurotische Angstlosigkeit kollektiv vorhanden ist, wodurch diese Angstabwehr als normale und angemessene Reaktion auf die Gefahr erscheint. Dieses kollektive Verdrängen des Angsteffektes findet seine Ursache in der alles Vorstellungsvermögen überschreitenden Entsetzlichkeit der Gefahr."
    Ich kann diesem sympathischen jungen Mann, dessen Gefühle ich verstehe, nur sagen, daß die moderne Psychoanalyse feststellt: Neurotisch ist der Mensch, der Paradoxien und Dilemmata nicht ertragen kann, der sich nur auf ein Risiko konzentriert, während gleichzeitig ein zweites vorhanden ist.
    Viele in unserer öffentlichen Meinung sind heute durch eine Vorstellung behext, als ob wir uns auf einer Straße in Richtung auf einen katastrophalen Abgrund zubewegen, nämlich den Abgrund des nuklearen Krieges. Einer, so heißt es, müsse auf dieser Straße doch einmal Schluß machen. Das ist ja auch der Kerngedanke des Buches von Franz Alt. Diese Situationsbeschreibung, dieses Bild ist falsch. Wir bewegen uns auf einer Straße in die Zukunft, an deren rechter Seite der Abgrund, das Risiko der militärischen Selbstvernichtung

    (Zuruf des Abg. Schily [GRÜNE])

    und deren anderer Seite der Abgrund, das Risiko der politischen Selbstunterwerfung lauert. Wer nicht beide Risiken und beide Abgründe sieht oder sehen will, der übersieht nicht die volle Wirklichkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf des Abg. Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE])

    Wir haben nicht das Recht, die Wirklichkeit nur zur Hälfte zu sehen. Ich gestehe selbstverständlich jedem zu, die Augen zu schließen, um einen Teil der Wirklichkeit nicht sehen zu müssen. Aber ein altes Sprichwort sagt: „Niemand ist so blind wie der, der nicht sehen will." Meine Kollegen von der Fraktion DIE GRÜNEN, Sie müssen zur Kenntnis nehmen und sie müssen als Demokraten folgendes respektieren: in diesem Hause sitzen viele Kollegen, ja eine Mehrheit des Deutschen Bundestages, die beide Abgründe nach bestem Wissen und Gewissen sehen, und die fordern, daß wir bei der Wahrung des Friedens beide Abgründe vermeiden. Es ist falsch, es ist eine Behexung der öffentlichen Meinung, zu sagen, wir befänden uns auf einer Straße, die unausweichlich in den nuklearen Abgrund führt.

    (Schily [GRÜNE]: Dann folgt ja bald die Hexenverbrennung!)

    Niemand hat uns bisher nachgewiesen, daß das, was er bietet, eine stärkere Sicherung des Friedens darstellt als das, was wir zu bieten haben und wollen. Die Alternativen, die uns angeraten werden, verstehe ich psychologisch im übrigen. Aber Verständnis und Einverständnis sind sehr verschiedene Dinge. Das heißt: Wenn ich als verantwortlicher Politiker und Verantwortungsträger nach bestem Wissen und Gewissen zu der Erkenntnis komme, daß wir durch die Übernahme dieser Ratschläge von einer schwierigen Situation in eine Katastrophe geraten, dann muß ich diese gutgemeinten Ratschläge eben ablehnen. Wir haben nicht das Recht, die volle Wirklichkeit der beiden Bedrohungen und der beiden Risiken zu übersehen.
    Es ist — damit wir uns hier nicht mißverstehen — auch nach meinem besten Wissen und Gewissen ein entsetzliches Übel, das das Nordatlantische Bündnis der Gegenseite für den Fall einer Aggression androht, um auf diese Weise Erpressungen, Aggressionen und Friedensbrüchen vorzubeugen. Aber niemand kann doch übersehen, daß der Verzicht darauf, mit einem solchen Übel nur zu drohen, den Eintritt eines anderen Übels gewiß macht, nämlich das Risiko eines schrecklichen konventionellen Krieges — übrigens mit der Möglichkeit schneller Eskalation — oder aber das der schleichenden oder offenen Selbstunterwerfung Westeuropas mit dem daraus entstehenden Risiko eines großen Ost-WestKrieges. Verehrte Kollegen von der Fraktion DIE GRÜNEN: Ich wundere mich immer, mit welcher Chuzpe Sie sich weigern

    (Schily [GRÜNE]: Die Chuzpe finden wir sympathisch! — Weiterer Zuruf von den GRÜNEN: Besser als „behext"!)

    — lassen Sie mich doch einmal in Ruhe sprechen —, die eigentliche, nämlich politische Natur der auf uns lastenden Bedrohung zu sehen. Sie, die GRÜNEN, militarisieren die Friedensdebatte, indem Sie über die politischen Hintergründe der Problematik fast überhaupt nichts sagen. Diese einseitige Konzentration auf Waffenfragen, diese Militarisierung der Friedensfrage, ist Ihr eigentlicher Denkfehler. Ich habe von Ihnen noch niemals eine auch nur im entfernten zureichende Beschreibung der politischen Ratio der sowjetischen Aufrüstung



    Staatsminister Dr. Mertes
    gehört. Das, was mich etwas beruhigt, das ist die Tatsache, daß Sie die Sowjetunion und ihre Verbündeten in Ihrer Großen Anfrage als totalitäre Staaten bezeichnen und damit zu erkennen geben, daß vielleicht auch Sie einmal zugeben werden: das eigentliche Problem besteht in der Verbindung von totalitärer politischer Macht und atomarer Vernichtungsfähigkeit. Die Kombination von beidem ist das Problem.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Glaubwürdige Abschreckung muß durch ausgewogene Abrüstung ergänzt werden. Die Positionen der Bundesregierung hierzu sind bekannt. Mit ihren Verbündeten weiß sie sich selbstverständlich einer Politik der ausgewogenen Rüstungsminderung verpflichtet: Erstens, weil die modernen Massenvernichtungswaffen immer mörderischer werden und im Falle eines kriegerischen Konflikts, den wir verhindern wollen, zu unvorstellbaren Katastrophen führen können. Zweitens, weil die Rüstungsanstrengungen Energien und Kosten verschlingen, die den hunger- und notleidenden Menschen der Dritten Welt erheblich plausibler zur Verfügung stehen könnten. Drittens, weil Rüstungsabbau ein Klima des Vertrauens schafft, das der Friedenssicherung dient. Es ist hier leider nicht die genügende Zeit, die Haltung der Bundesregierung in den verschiedenen Gremien, in denen über Rüstungsstopp, Rüstungsminderung und Abrüstung verhandelt wird, noch einmal im einzelnen darzulegen.
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt auf einen weiteren Fragenbereich eingehen, der in der Großen Anfrage 10/164 der Fraktion DIE GRÜNEN berührt wird. Es handelt sich um die Genfer Zusatzprotokolle von 1977. Diese Zusatzprotokolle sind von der Diplomatischen Konferenz über die Neubestätigung und Weiterentwicklung des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts in den Jahren 1974 bis 1977 ausgearbeitet worden. Das I. Zusatzprotokoll regelt die internationalen bewaffneten Konflikte, zu denen nach heutigem Verständnis der Staatengemeinschaft auch die Befreiungskriege gehören. Das II. Zusatzprotokoll betrifft Fragen interner Konflikte. Die Bundesregierung hat an der Ausarbeitung der Zusatzprotokolle in engem Einvernehmen mit ihren Verbündeten aktiv mitgewirkt.
    Die Bundesrepublik Deutschland hat die Zusatzprotokolle am 23. Dezember 1977 unterzeichnet. Seither sind die Zusatzprotokolle Gegenstand weiterer Beratungen und Abstimmung innerhalb des Nordatlantischen Bündnisses gewesen. Die Bundesregierung hat immer wieder gesagt, daß es für die Bundesrepublik Deutschland, auf deren Territorium die Truppen anderer Bündnispartner zu unserer Sicherheit stationiert sind, besonders darauf ankommt, innerhalb der NATO möglichst zu einheitlichen Interpretationen hinsichtlich der Bestimmungen des I. Zusatzprotokolls zu gelangen.
    In diesen Konsultationen hat sich innerhalb des Bündnisses ein sehr hohes Maß an Übereinstimmung gezeigt. Die Bundesregierung ist demgemäß in der Lage — und sie hat die feste Absicht —, dem Deutschen Bundestag das Zustimmungsgesetz zu den Zusatzprotokollen noch in dieser Legislaturperiode zuzuleiten. Dies kommt auch in der schriftlichen Antwort der Bundesregierung klar zum Ausdruck.
    Die Bundesregierung hat stets dafür Verständnis gezeigt, ja es begrüßt, daß insbesondere das Deutsche Rote Kreuz kraft seines humanitären Auftrags seit langem beharrlich für die Ratifizierung der Zusatzprotokolle durch die Bundesrepublik Deutschland eintritt.
    Lassen Sie mich wegen der Erwartungen, die sich mit der Ratifizierung der Zusatzprotokolle verbinden, mit einigen Bemerkungen abschließen. Die Bundesregierung unterstützt das humanitäre Ziel, den Schutz der Kriegsopfer im Fall eines bewaffneten Konflikts so weit wie irgend möglich zu stärken.
    Dies darf jedoch nicht zu Abstrichen an der Sicherung des Friedens im Sinn der strikten Einhaltung des Gewaltverbots führen. Es wäre ganz und gar verderblich, wenn der Eindruck entstünde, daß mit der Ratifizierung der Zusatzprotokolle ein bewaffneter Konflikt in Mitteleuropa irgendwie akzeptabler, kalkulierbarer und damit wahrscheinlicher würde. Auch hier muß eine Güterabwägung stattfinden. Demokratie ist ständige Güterabwägung, und in der Demokratie müssen Mehrheit und Minderheit gegenseitig ein unterschiedliches Ergebnis redlicher und sachkundiger Güter- und Risikoabwägung respektieren. Dabei hat auch keine Minderheit das Recht, ihr Ergebnis als das ethisch allein richtige hinzustellen.
    Auch die humanitären Ideale des Roten Kreuzes stoßen an die Grenzen, die von den Notwendigkeiten der politischen und militärischen Sicherung des Friedens gesetzt werden. Dies hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erfahren müssen, als es 1957 der 19. internationalen Rot-Kreuz-Konferenz in Neu-Delhi einen Entwurf von Regeln zur Begrenzung der Gefahren für die Zivilbevölkerung in Kriegszeiten vorlegte. Dieser Text wurde damals kühl aufgenommen, da er praktisch zu einem für viele Staaten unannehmbaren Verbot von Kernwaffen geführt hätte. Die Bemühungen des Internationalen Komitees um eine Fortentwicklung des Genfer Rechts von 1949 erlitten damals einen Rückschlag.
    Zu Beginn der Genfer Konferenz legte das Internationale Komitee einen neuen Entwurf vor, in dessen Erläuterungen es ausdrücklich feststellte, daß — das ist jetzt sehr wichtig — die Probleme im Zusammenhang mit den atomaren, bakteriologischen und chemischen Waffen bereits Gegenstand von internationalen Vereinbarungen oder von Verhandlungen seien und es daher nicht die Absicht habe, diese Frage aufzugreifen. Die USA und Großbritannien wie auch Frankreich haben demgemäß schon während der Genfer Konferenz erklärt, daß die Kampfführungsbestimmungen des I. Zusatzprotokolls, soweit sie über geltendes Gewohnheitsrecht hinausgehen, sich nur auf konventionelle Waffen beziehen. Auch die Sowjetunion hat auf der Genfer Konferenz der einleitenden Erklärung, die



    Staatsminister Dr. Mertes
    das Internationale Komitee des Roten Kreuzes formuliert hatte, ausdrücklich zugestimmt.
    Bei der Feststellung, daß die vom I. Zusatzprotokoll eingeführten Regeln, die über geltendes Gewohnheitsrecht hinausgehen, nicht in der Absicht aufgestellt worden sind, den Einsatz von Atomwaffen zu beeinflussen, und diesen nicht regeln und verbieten, handelt es sich um eine Interpretation, die sich aus Vorgeschichte und Verlauf der Genfer Konferenz herleitet und die von der Bundesregierung geteilt wird, weil sie rechtlich zutreffend ist und weil die Bundesregierung der konkreten Erhaltung des Friedens den Vorrang einräumen muß.
    Über dieses Thema steht die Bundesregierung in einer Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens auch im Gespräch mit dem Deutschen Roten Kreuz, dessen Präsident unser von uns allen geschätzter ehemaliger Kollege im Deutschen Bundestag Botho Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein ist.
    Das gleiche gilt für unser Verhältnis zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, dessen Präsident Alexandre Hay erst kürzlich in Bonn war, wobei der Bundesaußenminister und ich Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen mit Präsident Hay — auch über das humanitäre Kriegsvölkerrecht und über unsere Probleme der Sicherung des Friedens — hatten.
    Die Bundesregierung will das Zustimmungsverfahren zu den Zusatzprotokollen keineswegs deshalb einleiten, weil sie etwa mit einem Krieg in Mitteleuropa rechnet. Sie vertraut darauf, daß die Strategie der Sicherung des Friedens und unserer Freiheit in Europa, die diesem Kontinent seit nunmehr bald vier Jahrzehnten einen Konflikt erspart hat, auch weiterhin ihre friedenerhaltende und friedenstiftende Kraft behalten wird.
    Es ist aber eine traurige Realität, daß es in unserer heutigen Welt zahlreiche konventionelle Konflikte gibt, in denen es dringend notwendig ist, das Bewußtsein von der Bedeutung des humanitären Kriegsvölkerrechts zu stärken. Ich möchte hierzu den Generalsekretär der Vereinten Nationen zitieren, der in seinem Bericht an die gerade begonnene Generalversammlung der Vereinten Nationen u. a. folgendes sagt:
    Die Situation in bezug auf konventionelle Waffen ist eine Quelle steigender Besorgnis. Es ist nötig, sich vor Augen zu halten, daß die vielen Millionen Kriegstoten nach Hiroshima und Nagasaki alle durch konventionelle Waffen umgekommen sind.
    Deshalb wird die Ratifizierung der Zusatzprotokolle durch die Bundesrepublik Deutschland nicht zuletzt dem Ziel einer weltweiten Stärkung des Bewußtseins von der aktuellen Bedeutung des humanitären Kriegsvölkerrechts dienen.
    Vergessen wir nicht: Während in Europa seit annähernd vier Jahrzehnten Frieden herrscht, Frieden als Nicht-Krieg, leider noch nicht Frieden als gerechte Ordnung, wurden in anderen Kontinenten über hundert blutige militärische Konflikte ausgetragen. Dies zeigt, wie gefährdet der Friede ungeachtet des Primats des absoluten Gewaltverbots des Friedensvölkerrechts auch heute noch ist.
    Der Friede, meine Damen und Herren, auf unserem Kontinent ist keine Selbstverständlichkeit, die uns in den Schoß fällt. Zur Erhaltung des Friedens im Sinne eines umfassenden Ausgleichs zwischen den Völkern und Staaten bedarf es vielmehr unser aller Anstrengungen. Friede, das ist nicht nur verläßliche Friedenserhaltung gegen jede Art von Krieg; Friede, das ist auch fortschreitende Friedensgestaltung gemäß den Normen der Menschenrechte und des Völkerrechts. — Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dr. Rainer Barzel
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort zur Aussprache hat der Abgeordnete Voigt (Frankfurt).

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Karsten D. Voigt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beiden Protokolle stellen eine bedeutsame Weiterentwicklung des humanitären Kriegsvölkerrechts dar. Wir Sozialdemokraten sind deshalb der Meinung, daß der Ratifizierungsvorgang gemäß Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes unverzüglich einzuleiten ist. Wir sind auch der Meinung, daß wir als Deutsche auf Grund unserer eigenen Geschichte eine besondere Verantwortung dafür haben, daß sich dieses Kriegsvölkerrecht weltweit durchsetzt und daß es beachtet wird.
    Unserer Auffassung nach hat die Bundesregierung einen großen Teil der Fragen unzureichend beantwortet. Einige Fragen sind inhaltlich überhaupt nicht beantwortet worden. Diese Praxis der Bundesregierung stellt nicht nur eine Mißachtung des Parlaments dar, sondern auch derjenigen Bürger, die außerhalb des Parlaments ähnliche Fragen stellen.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Insbesondere die Fragen nach den Folgen eines Einsatzes von atomaren Waffen sind nicht beantwortet worden, und dies ist auch Ausdruck einer politischen Absicht, die Wirkung, die Folgen eines Einsatzes politisch in der Diskussion zu verharmlosen.
    Die Bundesregierung hat es außerdem versäumt, sich im Zusammenhang mit der Beantwortung der Fragen mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß Nuklearwaffen nicht einfach eine Weiterentwicklung von konventionellen Waffen sind, sondern daß mit ihrer Entwicklung in der Geschichte der Menschheit eine grundsätzliche Veränderung der sicherheitspolitischen Situation und auch der völkerrechtlichen Situation auf lange Sicht eingetreten ist. Erstmals kann die Menschheit sich selber vernichten. Dies ist ein qualitativ neuer Schritt in der Geschichte der Menschheit.
    Herr Minister Mertes, Sie haben in diesem Zusammenhang den politischen Charakter der Entwicklung der neuen Waffentechnologie Nuklearwaffen nicht analysiert und selber nicht dargelegt. Sie gehen davon aus, daß die Bedrohung mit solchen Waffen und die hinter dieser Drohung stehende Absicht die ausschließliche Gefahr sei. Mei-



    Voigt (Frankfurt)

    ner Meinung nach aber ist die Waffe selber bereits eine Gefahr.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Man kann doch nicht davon ausgehen, daß Waffentechnologien etwas Ursprüngliches, Bestandteil einer gottgewollten Schöpfung seien. Sie sind vom Menschen geschaffen. Sie sind Produkt menschlicher Schöpfung. Sie sind deshalb selber schon in ihrer Entwicklung und ihrer Produktion Ausdruck von Politik. Sie sind der verdinglichte Ausdruck zwischenmenschlicher und zwischenstaatlicher Aggressivität.

    (Zustimmung des Abg. Schily [GRÜNE] — Staatsminister Dr. Mertes: Aber sie sind da!)

    Aus diesem Grunde muß man auch die Waffen abschaffen und nicht nur die hinter den Waffen stehenden politischen Absichten zurückweisen.
    Diese politische Dimension der Waffen haben Sie insbesondere im Zusammenhang mit den Nuklearwaffen unterschlagen, weshalb Sie auch zu einer Fehleinschätzung in bezug auf die Schwelle zwischen nuklearen und konventionellen Waffen kommen. Wir teilen Ihre Auffassung, daß die entscheidende Schwelle zwischen Krieg und Frieden liegt, aber wir teilen nicht Ihre Auffassung, daß es keine weitere entscheidende Schwelle zwischen dem Einsatz konventioneller und dem Einsatz nuklearer Waffen gibt. Dies ist ein prinzipieller Schritt, dies ist ein qualitativer Schritt, der nicht verharmlost werden darf. Vom Einsatz konventioneller Waffen zum Einsatz nuklearer Waffen darf es keinen gleitenden Übergang geben. Hier muß es sowohl rechtlich als auch politisch eine scharfe Grenze geben.
    Weil es diese scharfe Grenze geben muß, hat das auch Konsequenzen für das Kriegsvölkerrecht. Sie selber sagen in Ihrer Rede, es sei Bestandteil des Kriegsvölkerrechts, daß auch bei der Verteidigung zwischen dem Angriff auf militärische Ziele und dem Angriff auf zivile Objekte unterschieden werden muß und daß auch derjenige, der sich verteidigt, nicht die Zivilbevölkerung als solche angreifen darf. Nun ist aber das Paradoxon gerade bei der Entwicklung von Nuklearwaffen, daß eine solche Unterscheidung bei der Anwendung von Nuklearwaffen so gut wie nicht mehr möglich ist. Das heißt: Angesichts der Nuklearwaffen ist das Kriegsvölkerrecht in seiner humanisierenden Absicht selber an eine Grenze gestoßen. Der Einsatz der Nuklearwaffen kann nicht mehr humanisiert werden, weil er selber schon einen inhumanen Akt darstellt.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Der Besitz von Nuklearwaffen ist nur noch als Mittel zu rechtfertigen, um den Einsatz von Nuklearwaffen und von jeglichen Waffen abzuwehren, von ihm abzuschrecken. Hier ist es nicht unsere Aufgabe, uns darauf zu beschränken und zu sagen: Wir müssen mit diesem Paradoxon leben, sondern verantwortliche Politik muß in diesem Zusammenhang heißen: dieses Paradoxon durch friedensgestaltende Politik schrittweise zu überwinden. Wer diese Perspektive nicht hat und nicht Vorschläge dafür entwickelt, handelt meiner Auffassung nach politisch unverantwortlich.
    Welche Vorschläge gibt es dafür? Es gibt Vorschläge für eine Veränderung der Militärstrategie. Helmut Schmidt hat in den letzten Tagen bei einem Vortrag an der Bundeswehrhochschule in Hamburg gesagt — —

    (Schily [GRÜNE]: Wie wäre es, wenn er es einmal im Bundestag sagte?)

    — Das kommt auch noch. — Er sagte — ich zitiere —:
    Ich wage die Vorhersage, daß die Vorstellung eines Erstgebrauchs nuklearer Waffen gegen einen konventionellen Angriff im Verlauf der 80er Jahre mehr und mehr als unangemessen und sogar als unakzeptabel angesehen werden wird. Wir werden also Mittel benötigen, um feindliche Angriffe je nach deren Art abzuschrecken.
    Diese Aussage von Helmut Schmidt in bezug auf die Weiterentwicklung der militärischen Strategie weist eine Perspektive auf, die in der Antwort der Bundesregierung vermißt werden muß.
    Darüber hinaus sind Konsequenzen für die Abrüstungspolitik und die Rüstungskontrollpolitik zu ziehen. Sie haben zwar darauf hingewiesen, aber sie haben daraus keine genügenden Konsequenzen gezogen. Unserer Meinung nach bedeutet das für die jetzt anstehenden Genfer Verhandlungen, daß man einen Vorrang für Verhandlungslösungen auch durch die Art seiner Vorschläge für die Verhandlungen demonstrieren muß. Bundesaußenminister Genscher hat gestern gesagt, was er mit Außenminister Gromyko zu besprechen beabsichtigt.
    Wir möchten ihm mit auf den Weg geben, daß er dort endlich den Vorschlag macht — und seine Bereitschaft erklärt —, daß der Westen auch dann bereit ist, auf eine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen zu verzichten, wenn die Sowjetunion ihre Mittelstreckenwaffen, ihre SS 20, drastisch reduziert.
    Bundesaußenminister Genscher sollte nicht nur die Sowjetunion zur Beweglichkeit auffordern, sondern er sollte auch selber Beweglichkeit zeigen, insbesondere in der Frage der britischen und französischen Systeme. Wenn er die sowjetische Forderung zurückweist, diese Systeme sollten bei den Genfer INF-Verhandlungen gezählt werden, sollte er sagen, wo und wie sie sonst gezählt und berücksichtigt werden sollen. Ohne eine solche verbindliche Erklärung im Rahmen dieser Gespräche — dies muß man sagen — blockiert nicht nur die Sowjetunion durch ihre Forderungen in bezug auf die INF-Verhandlungen, sondern auch Herr Genscher durch seine Sturheit weiterhin die Verhandlungen.
    Zuletzt sollte Bundesaußenminister Genscher den sowjetischen Außenminister Gromyko bei seinen Gesprächen mit ihm fragen, ob die Sowjetunion im Sinne der Andropow-Vorschläge, in denen sie ja zum Ausdruck gebracht hat, daß sie zur Reduzierung von SS 20 bereit ist, für den Fall einer Ver-



    Voigt (Frankfurt)

    schiebung des westlichen Stationierungstermins auch bereit ist, die Zahl ihrer SS 20 schrittweise zu verringern. Sollte sie dazu bereit sein, gäbe es nach unserer Auffassung keinen Grund, von westlicher Seite nicht auf eine Verschiebung des Termins einzugehen, um mehr Zeit für Verhandlungen zu gewinnen. Dazu sollten wir dann unsererseits bereit sein.
    Über diese konkreten Fragen der Genfer Verhandlungen hinaus muß die Entwicklung von Nuklearwaffen angesichts der daraus sich ableitenden wechselseitigen Vernichtungsdrohung aber auch einen anderen politischen Umgang mit dem potentiellen militärischen Gegner zur Konsequenz haben. Die Risiken der Abschreckung sind zu groß, als daß sie dauerhaft zur Friedensbewahrung ausreichen können. Wir können nicht dauerhaft mit diesem Paradoxon leben. Wir können nicht das tun, was Herr Staatsminister Mertes uns hier empfohlen hat, nämlich uns damit abfinden, daß wir damit zu leben haben. Wir müssen dazu beitragen, daß wir durch einen anderen politischen Umgang mit einem potentiellen Gegner dieses Paradoxon überwinden. Das ist das, was wir als Sicherheitspartnerschaft bezeichnen. Übrigens hat die FDP noch im vergangenen Jahr im Göppinger Papier am 27. Februar 1982 selber gesagt — ich zitiere —:
    Eine Abschreckungsstrategie, die auf der Drohung gegenseitiger Vernichtung beruht und stets das Risiko von Rüstungswettlauf und Instabilität enthält, kann aber dauerhaft Sicherheit nicht garantieren.

    (Beifall des Abg. Dr. Hirsch [FDP])

    Wenn das so ist, muß man in seiner Praxis auch dazu beitragen, daß man diesen Zustand der potentiellen Instabilität und der Verursachung des Rüstungswettlaufes auch durch das System wechselseitiger Abschreckung überwindet.
    Wir bedauern, daß die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Fragen auf die Problematik der nuklearen Abschreckung überhaupt nicht eingegangen ist, daß sie die Risiken nicht beschrieben hat und keine Perspektive zur Überwindung dieser Risiken dargelegt hat, sondern die Nuklearwaffen so behandelt hat, als seien sie Waffen herkömmlicher Art, daß sie den qualitativen Unterschied zwischen Nuklearwaffen und konventionellen Waffen hier in der Debatte sogar zu verwischen versucht hat. Wer diesen qualitativen Unterschied nicht sieht, der ist auch nicht in der Lage, daraus die notwendigen politischen Konsequenzen, nämlich die Konsequenzen zur Überwindung der Risiken der nuklearen Bedrohung abzuleiten. Wir hoffen, daß die folgenden Redner der CDU/CSU wenigstens versuchen, darauf noch näher einzugehen. Sollten sie das nicht versuchen, werden sie auch in der Debatte über das Kriegsvölkerrecht nicht in der Lage sein, die Kriegsgefahren, die nicht mit dem Kriegsvölkerrecht selber zu beheben sind, und die inhumanen Folgen, die eine Anwendung von modernen Waffensystemen hat, selber mit einer politischen Perspektive zu überwinden. — Vielen Dank.

    (Beifall bei der SPD)